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NATO-Chef Rutte und Kriegspropaganda mit Russlands Toten – Welche Rolle Verlustzahlen im Krieg haben

Mark Ruttes Aussagen über enorme russische Verlustzahlen haben die Medien aufgewühlt. Russland sei mit solchen Verlusten nun auf Hilfe aus der DVRK angewiesen. Ein Problem hat die NATO allerdings: Das von ihrem Chef gezeichnete Bild stellt ein klassisches Zerrbild der Kriegspropaganda dar.
NATO-Chef Rutte und Kriegspropaganda mit Russlands Toten – Welche Rolle Verlustzahlen im Krieg haben

Von Wladislaw Sankin

"Wir erleiden geringe Verluste, die Verluste des Feindes sind erheblich", lautet eines der wichtigsten Gebote der Kriegspropaganda, die die Historikerin Anne Morelli zusammengestellt hat. "Von seltenen Ausnahmen abgesehen, schließen Menschen sich eher den siegreichen Anliegen an.... Wenn die Ergebnisse nicht gut sind, muss die Propaganda unsere Verluste verschleiern und die des Feindes übertreiben", erklärt sie dazu. 

Also müssen die Dinge für die NATO nicht gut stehen, wenn NATO-Generalsekretär Mark Rutte, nur wenige Wochen im Amt, verkündet: Russland habe im Ukraine-Krieg mehr als 600.000 Soldaten verloren und schicke deshalb Soldaten aus der DVRK in den Kampf. Mit Blick auf Putin ergänzte er: "Er ist nicht in der Lage, seinen Angriff auf die Ukraine ohne ausländische Unterstützung aufrechtzuerhalten. Die Stationierung von Truppen aus der DVRK in Kursk sei "ein Zeichen für die wachsende Verzweiflung". 

Erwartungsgemäß griffen die Medien die Aussage des hohen Beamten mit großer Begeisterung auf. "Putin gehen die Soldaten aus!" Übrigens wurde das schon im August 2022, Januar oder Juli genauso verkündet. Ansgar Haase vom Brüsseler dpa-Büro fragte sich sogar: 600.000 tote Soldaten? (Zitat nach Fränkischer Landeszeitung). Bei vielen Mediennutzern bleibt nun diese Zahl hängen, wenn es um Russlands Verluste an Soldaten geht. Tote, Verwundete? – spielt keine Rolle. 

Rutte meint aber beides und die meisten Medien, wie Zeit oder Spiegel geben das Zitat korrekt wieder. Die Zeit hält fest:

"Ruttes Äußerungen passen zu Schätzungen westlicher Geheimdienste, über die in den vergangenen Monaten berichtet worden war. Demnach sollen seit dem Überfall Russlands im Februar 2022 zwischen 100.000 und 150.000 russische Soldaten getötet worden sein."

Der Spiegel führt weiter aus: Im September habe die BBC mitgeteilt, die Namen von mehr als 70.000 getöteten russischen Soldaten identifiziert zu haben. Die tatsächliche Zahl liege wahrscheinlich viel höher, hieß es damals seitens des britischen Senders.

In der Tat, der russischsprachige BBC-Dienst zählt seit Jahren zusammen mit Mediazona und Meduza Begräbnis-Meldungen und macht dazu statistische Analyse zu Herkunftsgebieten, Heereszweigen, Dienstgraden und Alter der Soldaten. Die Angaben scheinen realistisch zu sein. Derzeit geht der Sender von bis zu 120.000 toten Soldaten aus, inklusive der getöteten Kämpfer aus der Donezker und Lugankser Volksrepublik (schätzungsweise 23.400), die in der laufenden BBC-Statistik zu russischen Verlusten nicht aufgeführt sind.  

Es ist jedoch wahrscheinlicher, dass Rutte sich auf die gleichen Angaben stützte, wie auch die New York Times (NYT) in ihrem Artikel vom 10. Oktober. Die NYT schrieb mit Verweis auf geheimdienstliche Quellen:

"Nach US-Schätzungen beläuft sich die Zahl der russischen Opfer in diesem Krieg bisher auf bis zu 615.000 – 115.000 getötete Russen und 500.000 Verwundete."

Bei der Anzahl der Toten stimmen diese Angaben in etwa mit der maximalen BBC-Schätzung überein. 

Das sind zweifellos sehr hohe Verluste an Soldaten, für Russland mit Abstand die höchsten seit dem Zweiten Weltkrieg. Dank US-Satellitenaufklärung auf dem "gläsernen Feld" und guter Ausstattung mit westlichen Artilleriesystemen und FPV-Drohnen gelingt es der Ukraine, den russischen vorrückenden Truppen offenbar hohen Schaden an Mensch und Gerät zuzufügen. Das ist schlicht und einfach die Wahrheit dieses Krieges.  

Aber dennoch liegt Rutte falsch und betreibt Kriegspropaganda. Denn die Schätzungen der US-Seite, worauf er sich stützt, folgen ganz klar dem anfangs aufgeführten Morelli-Gebot: "Wir erleiden geringe Verluste, die Verluste des Feindes sind erheblich." Die Verluste der Ukraine werden im selben NYT-Artikel einfach halbiert und das gilt sowohl für Tote als auch Verwundete.

"Die ukrainischen Behörden halten ihre Opferzahlen eifrig zurück, auch vor den Amerikanern, aber ein US-Beamter schätzte, dass die Ukraine etwas mehr als die Hälfte der russischen Opfer zu beklagen hat, nämlich mehr als 57.500 Gefallene und 250.000 Verwundete", so NYT. Ähnlich fällt das Verhältnis der US-Zeitung Wall Street Journal aus – 80.000 tote und 400.000 verwundete Soldaten auf der ukrainischen und 200.000 Tote und 400.000 Verletzte auf der russischen Seite. 

Denn ohne die Angaben zu den Verlusten der Stellvertreter-Armee der Allianz hat die Äußerung Ruttes keine Aussagekraft. Das Wüten der Mobilisierungskommandos in der Ukraine, die enorme Anzahl der Wehrdienstverweigerer oder einfach flüchtigen Männer sprechen eine andere Sprache, die Rutte nicht hören will.

Interessanterweise, gibt es zu den ukrainischen Verlusten nur eine offizielle Quelle – die des russischen Verteidigungsministeriums. Jeden Tag macht es in einem speziellen Statement auch Angaben zu den Verlusten des Gegners an Mensch und Gerät. Die Webseite mskvremya.ru führt diese Statistiken tabellarisch auf. Ihnen zufolge seien, mit Stand 29. Oktober 2024, 869.295 ukrainischer Soldaten tot oder verwundet. 

Diese Statistik kann ungenau sein, da es in vielen Fällen nicht möglich ist, die tatsächlichen Verluste des Gegners zu ermitteln, z. B. wenn abgelegene Einrichtungen im Hinterland oder Bunker von Luftangriffen getroffen werden. Die Zukunft wird zeigen, ob und inwieweit sich auch das russische Verteidigungsministerium in seinen Schätzungen von den Prinzipien der Kriegspropaganda leiten ließ. 

Aber der NATO-Generalsekretär liegt nicht nur in Sachen Zahlen-Jonglage falsch. Er versteht nicht den Grund, warum die DVRK-Soldaten nach Russland verlegt werden. Ihre Anwesenheit im Land hat der russische Präsident Putin letzte Woche auf einer Pressekonferenz indirekt bestätigt, als er sagte, dass US-Beweise dazu in der Tat "etwas zeigen". Auch die nordkoreanische Seite hat diese Informationen nicht dementiert. 

Die Verlegung der Nordkoreaner findet also offenbar statt. Aber nicht, weil Putin an der Front so dringend Soldaten fehlen. Denn es ist extrem unwahrscheinlich, dass sich DVRK-Kämpfer an den Operationen an vorderster Front beteiligen werden. Viel eher ist dies ein Vorgang im Geiste der asymmetrischen Kriegsführung. Und die Gründe für die Verlegung liegen viel tiefer, als Rutte es glaubt.

Zuallererst lässt sich mit dem russischen Analysten Maxim Leguenko festhalten, dass die Beteiligung von Militärpersonal aus der DVRK an militärischen oder militärnahen Operationen Teil der jüngst beschlossenen Vereinbarungen zwischen Russland und der DVRK ist. Die nordkoreanische Führung ist laut dem Experten daran interessiert, dass das Militär Erfahrungen in moderner Kriegsführung und im Umgang mit den neuesten Waffen, einschließlich Drohnen, sammelt. Dadurch werde das militärische Gewicht der DVRK in der Konfrontation mit Südkorea drastisch und kostengünstig erhöht.

Der praktische Einsatz nordkoreanischer Einheiten bei tatsächlichen Kampfhandlungen auf dem Territorium der Ukraine oder in der Region Kursk erscheint aber aus einer Reihe von politischen und rein militärischen Gründen unwahrscheinlich. Und das nicht nur, weil der praktische Wert dieses Einsatzes aufgrund der natürlichen Probleme in der Kommunikation, wie etwa durch die Sprachbarriere, eher gering sein dürfte. Politisch kann ihre Anwesenheit angesichts der Konfrontation mit den USA im pazifischen Raum zwar auch für die Schutzmacht der Nordkoreaner, China, interessant werden. Solange Ukrainer dabei sterben, wird die ganze Geschichte mit den Koreanern für die chinesische Führung aber eher zu einem Kopfzerbrechen. 

Für Russland sieht die Situation ähnlich aus. Die mögliche Anwesenheit von DVRK-Truppen in der Nähe des Kriegsgebiets ist ein gutes politisches Verhandlungsinstrument. Gleichzeitig wird es zum Problem, wenn sie direkt auf das Schlachtfeld gelangen. Eine direkte Beteiligung nordkoreanischer Einheiten an militärischen Operationen in der Ukraine ist daher unwahrscheinlich.

Allerdings ist jeder bewaffnete Konflikt unvorhersehbar und mit den unerwartetsten Vorfällen behaftet. Die russische Entschlossenheit, den Konflikt mit dem Westen in der Ukraine zu "internationalisieren", im Zusammenspiel mit dem Akzent auf nukleare Abschreckung, ist ein weiterer russischer Versuch, die glühenden Köpfe im Westen zum Abkühlen zu bringen. Zu diesen Personen gehört auch Mark Rutte. Noch reagiert er mit Verstärkung der Kriegspropaganda auf Putins Signale. Aber wie lange noch?   

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