Europa

Sinn und Unsinn der Berichte und Dementis von Kiews Bereitschaft zum Einfrieren des Konflikts

Medienberichte tauchen auf, wonach Wladimir Selenskij bereit sei, den Ukraine-Konflikt entlang der jeweils aktuellen Frontlinie einzufrieren, also immerhin indirekte Gebietsabtritte an Russland erwäge – nur um dementiert zu werden. Manche erahnen weiteres großes Blutvergießen.
Sinn und Unsinn der Berichte und Dementis von Kiews Bereitschaft zum Einfrieren des KonfliktsQuelle: www.globallookpress.com © Keystone Press Agency

Von Joe Bessemer

Diplomatische Lösung? Jetzt, wo ein großes Truppenkontingent Wladimir Selenskijs im russischen Gebiet Kursk in der Falle sitzt, scheint er sie zu wollen – aber seine Extrawünsche sind auch jetzt außerordentlich, schreibt der Corriere della Sera. Bei seiner Europa-Tour wolle er sie durchboxen.

Offizielle territoriale Zugeständnisse an Russland seien nach wie vor tabu, doch jetzt soll Selenskij, der amtierende ukrainische Präsident, zum Einfrieren des Konflikts entlang der momentan jeweils gegebenen Frontlinien sein. Der höchst abenteuerliche Einfall ins russische Gebiet Kursk, das den Gönnern Kiews das ukrainische Militär von dessen dynamischer Seite hätte zeigen und sie so zum Spenden weiterer Waffen und Mittel bewegen sollen, sei misslungen. Vielmehr stecke dort im doch sehr überschaubaren "Aufmarschgebiet" an der Grenze ein beträchtliches Kontingent wiederum des ukrainischen Militärs fest – darunter Truppen von Eliteverbänden. Und all diese Einheiten fehlen Kiew jetzt bei der Verteidigung im noch ukrainisch besetzten Teil des Donbass, wo Russland mit schon lange nicht gesehener Geschwindigkeit vorrückt und allein im September Geländegewinne von mindestens 468 Quadratkilometern verbuchen konnte.

Statt weiterer Militärhilfen, die nach jetzigem Stand der Dinge also bescheiden ausfallen dürften, wolle Selenskij sich anderweitige Vorteile sichern, so das italienische Blatt: Mit einer Langzeit-Feuerpause wolle er sich von Washington Sicherheitsgarantien erfeilschen, ähnlich, wie sie für Südkorea oder Japan gelten; und von der Europäischen Union eine Aufnahmegarantie. Um eine möglichst baldige EU-Mitgliedschaft gehe es dem amtierenden ukrainischen Präsidenten denn auch bei seiner Europa-Tour, die unter anderem Paris, Rom und Berlin umfasse.

Nochmals: Offizielle Gebietszugeständnisse an Russland, die die Krim, die Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie die Gebiete Cherson und Saporoschje betreffen würden, schließe Selenskij hierbei aus. Grund sei seine Besorgnis vor schweren Unruhen im Lande, die ihm, wie einem jeden ukrainischen Politiker auch, bei einer offiziellen Anerkennung einer neuen Grenze oder einem jeden Schritt grob in diese Richtung ins Haus stünden.

Wie ein EU-Beitritt bei einem ungelösten, sondern offiziell lediglich eingefrorenen Territorialstreit aussehen soll – normalerweise wird so etwas in den EU-Mitgliedsstaaten eher skeptisch gesehen –, wird nicht präzisiert.

Mindestens ebenso nebulös sei es um eine Bereitschaft Russlands für ein derartiges Einfrieren des Konflikts bestellt, betont der Corriere della Sera abschließend: Zumindest bei der Devisenbeschaffung habe Moskau keine wesentlichen Probleme und werde sein Militärbudget für das Jahr 2025 nahezu ein Fünftel höher planen als im laufenden Jahr.

Am Artikel der italienischen Zeitung ist mit Ausnahme der Russland zugeschriebenen enormen Personalverluste fast alles logisch: die Darstellung der Lage an der Front und ihrer Dynamik, die in letzter Zeit eher dürftige Lage mit der Materialversorgung aus dem kollektiven Westen, die Vorbehalte, mit denen Selenskij die territorialen Zugeständnisse an Russland machen würde, und, und, und. Nur eines ist unstimmig: Die Quellenangabe fehlt, und die Information im Artikel wird noch am selben Tag durch Dementi konterkariert.

Ein Dementi hat unter anderem Dmitri Litwin, seines Zeichens Berater und Redenschreiber des ukrainischen Präsidenten, gegenüber der Nachrichtenagentur Interfax-Ukraine geäußert: 

"Das ist unwahr."

Vielmehr halte Kiew nach wie vor an der sogenannten Friedensformel vom Herbst 2022 fest.

Nanu, was ist denn jetzt los?

Italiens Abendkurier ist eine der ältesten und respektabelsten Zeitungen des Landes. Mit nahezu absoluter Sicherheit wird ein Leitartikel in diesem Blatt nicht auf Information aus gänzlich unzulässiger Quelle gründen, nicht einmal eine Meinung. Diese Möglichkeit einmal ausgeschlossen, bleiben eigentlich nur drei weitere: Entweder sind die Dementis aus Selenskijs Präsidialamt unwahr, der Autor hat sich bei seiner Analyse verkalkuliert, oder aber die Redaktion hat aus ansonsten größtenteils zuverlässigen Insiderquellen diesmal Fehlinformation bezogen und diese mit aller handwerklichen Ehrlichkeit verarbeitet.

Die letzte Möglichkeit verdient vielleicht die größte Aufmerksamkeit, und mit ihr wären die konservativen italienischen Journalisten in guter Gesellschaft: Erst zum Monatswechsel veröffentlichte zum Beispiel immerhin die Financial Times einen Artikel ähnlichen Inhalts wie jetzt der Corriere della Sera, worin suggeriert wurde, dass der neue Außenminister des Landes bereit sei, der Kriegsmüdigkeit Rechnung zu tragen, die die ukrainische Gesellschaft von oben bis unten durchdringe. 

Eine mögliche Erklärung für so drastische Gegensätze zwischen den Meldungen in westlichen Leitblättern und Äußerungen des offiziellen Kiew wurde am 9. Oktober 2024 im Telegram-Kanal Resident veröffentlicht – mit Verweis auf Insiderquellen in Selenskijs Präsidialamt heißt es dort:

"Unsere Quelle im PA hat erzählt, dass Selenskij in einen Waffenstillstand und das Einfrieren der Frontlinie nicht einwilligen wird, denn dies würde für den Präsidenten die Niederlage bedeuten. Auf der Bankowaja-Straße werden jedoch unterschiedliche Formate eigens mit dem Ziel besprochen, Zeit zu schinden – so wie im Juli, als Selenskij Verhandlungsbereitschaft verkündete, die ukrainischen Streitkräfte aber die Kursker Operation vorbereiteten."

Verfolgen wir diesen Gedanken weiter: Für eine Provokation welcher Art sollte Selenskij wirklich Zeit schinden wollen?

Wäre ein Überfall auf ein weiteres russisches oder vielleicht weißrussisches Grenzgebiet möglich? Jede realistische Lagebeschreibung zum Gebiet Kursk, nehmen wir diese von Andrei Rudenko oder ruhig auch die vom Corriere della Sera, sagt eigentlich fast alles aus, was man darüber wissen muss – und allgemeinere Lageberichte zur Personalaufstellung des ukrainischen Militärs verraten den nötigen Rest. Sprich: Nein, denn ein solcher Schritt wäre das Ende des Kiewer Regimes, weil die dafür notwendigen Einheiten von einem der aktiven Frontabschnitte abgezogen werden müsste – und besagter Frontabschnitt, personalmäßig noch weiter ausgehöhlt als jetzt, dem ukrainischen Kommando alsbald um die Ohren fliegen würde. Mit üblen weiterreichenden militärischen wie innen- und außenpolitischen Konsequenzen, versteht sich.

Eine Provokation in Form eines Angriffs mit Lenkwaffen längerer Reichweite? Schon eher möglich, denn dafür müsste Kiew eigentlich nur die Erlaubnis Großbritanniens und Frankreichs erhalten, deren Marschflugkörper SCALP beziehungsweise Storm Shadow wiederum auf Aufklärungsdaten angewiesen sind ... also letztendlich die Erlaubnis aus Washington, das zusammen mit der Erlaubnis Kiew auch eigene solche Waffen könnte. Nur, was würde eine solche Provokation bringen? Militärisch jedenfalls nicht viel, denn Russland hat in den über zwei Jahren seiner militärischen Sonderoperation Resilienz hinsichtlich seiner Logistik, ob zivil oder militärisch, bewiesen, ebenso wie die Fähigkeit, derartige Lenkwaffen größtenteils abzufangen. Allenfalls könnte man Russland kurzzeitig eine blutige Nase verpassen, bis es sich auf die neue Realität einstellt. Und wer bereit ist, sich andere Ziele für diese Waffen vorzustellen als logistische Knoten, muss schon präzisieren, welche genau es denn sein dürfen: Millionenstädte? Kernkraftwerke?

Das würde die NATO zwar vielleicht endgültig in den Krieg gegen Russland hineinziehen, aber ganz sicher nicht auf die von Selenskij erhoffte Art. Und so drogenbenebelt er auch sein mag: Dieser Realität müsste er eigentlich gewahr sein.

Die letzte Variante: Zeit schinden, um, wie schon im italienischen Artikel angedeutet, bis zur Schlammsaison auszuharren, die Kiew dann ganz bis zum Dezember tragen soll, wenn es angeblich "mit Tausenden zusätzlicher Raketen rechnet, mit denen es sich dann verteidigen kann"? Das klingt doch brauchbar. Streichen wir des Realismus halber die Raketen (welche denn überhaupt?), und es kommt der Wirklichkeit am nächsten: Zeit schinden in der Hoffnung auf irgendetwas, womit der Krieg, bei dem Selenskij immer weitere Ukrainer für nichts und wieder nichts verheizen kann, am Brennen hält.

Denn solange er sie sterben lässt, lässt der Westen ihn am Leben.

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