Die Ukraine wird den Europäern im Winter das Stromsparen beibringen
Von Anastasia Kulikowa
Die Chefin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, ist in Kiew eingetroffen, wo sie die Unterstützung des ukrainischen Energiesektors besprochen hat. Bereits im Vorfeld hatte sie erklärt, dass die EU bereit sei, dem Land bei der Wiederherstellung kritischer Infrastrukturen zu helfen, damit es 15 Prozent seines Strombedarfs selbst produzieren kann. Darüber hinaus beabsichtigt die Union, den Umfang der Energielieferungen zu erhöhen.
Ihr zufolge wird die EU dem Land etwa 4,5 Gigawatt (GW) der neun GW an verlorener Kapazität bereitstellen. Die Europäische Kommission wird der Ukraine für die kommende Heizperiode 160 Millionen Euro zur Wiederherstellung der Energieanlagen zuwenden. Dabei werden 100 Millionen Euro aus den Erträgen eingefrorener russischer Aktiva gewährt.
Weiter informierte von der Leyen über die Entscheidung Litauens, eines seiner Heizkraftwerke zu demontieren und die Teile anschließend in die Ukraine zu überführen. Die Komponenten dieses Kraftwerks sollen auch für Wiederaufbauarbeiten verwendet werden.
Vor diesem Hintergrund kritisiert Fatih Birol, der Leiter der Internationalen Energieagentur (IEA), dass Europa nicht die notwendigen Anstrengungen zum Schutz der ukrainischen Energieinfrastruktur unternehme, wie die Financial Times berichtet. Außerdem fordert er die EU auf, Kiew mehr Generatoren und Reparaturausrüstungen zur Verfügung zu stellen.
Einem IEA-Bericht zufolge könnte das Energiedefizit der Ukraine bereits in diesem Winter neun GW erreichen. Nach Birols Einschätzung kann die derzeitige Situation "schwerwiegende Folgen" für das Land haben, und der Strommangel wird die Arbeit von Krankenhäusern, Schulen und Wasserversorgungseinrichtungen erheblich beeinträchtigen.
Er fügt hinzu, dass die EU ihre Energieexporte in die Ukraine erhöhen könnte, ohne ihre eigene Versorgung zu gefährden, wobei die europäischen Verbraucher ihren Stromverbrauch reduzieren könnten, um die Stromübertragung nach Osten aus Solidarität zu verstärken.
Wie die Zeitung Wsgljad berichtet, treibt Selenskijs Büro den europäischen Energiesektor in den Abgrund. Nach Angaben von Ukrhydroenergo gibt es im Land kein einziges noch nicht unter Beschuss geratenes Wasserkraftwerk. Insgesamt haben die Wasserkraftwerke 40 Prozent ihrer Kapazität verloren, die Heizkraftwerke mehr als 80 Prozent. In der EU befürchtet man, dass die zyklischen Stromausfälle im Winter eine echte humanitäre Katastrophe in der Ukraine auslösen werden, die einen weiteren millionenschweren Flüchtlingsstrom in die Mitgliedsländer auslösen könnte.
Der deutsche Politologe Alexander Rahr erklärte dazu:
"Die Bevölkerung der EU-Länder wird nicht begeistert sein, wenn ihre Regierungen beschließen, aus Solidarität mit der Ukraine die Stromlieferungen zu reduzieren oder die Tarife für Dienstleistungen in Europa zu erhöhen. Trotzdem werden die Hauptakteure der Union einen solchen Schritt unternehmen."
Der Experte erläutert weiter:
"Das Argument, dass durch die Fortsetzung der Kampfhandlungen die Infrastruktur der Ukraine noch mehr Schaden erleiden könnte, wird auf Brüssel, Paris und Berlin nicht wirken. Daher wird den Europäern in den Massenmedien das Bild eines Verbündeten vermittelt, der 'heldenhaft für europäische Werte kämpft'."
Das ukrainische Energiesystem ist mit der ENTSO-E-Struktur (Europäische Gemeinschaft der Backbone-Netzbetreiber in der Elektrizitätswirtschaft) synchronisiert, erinnert der Wirtschaftswissenschaftler Ivan Lisan. "Alle Länder, die dieser Struktur angehören, teilen sich auf die eine oder andere Weise den Strom mit Kiew, während die Überströme hauptsächlich durch Polen, Ungarn und die Slowakei fließen." Er betont:
"Die ukrainische Elektrizitätswirtschaft ist zu einem direkten Problem für die EU geworden, aber was noch viel wichtiger ist – für die europäischen Verbraucher."
Der Gesprächspartner wies auch auf die Aufforderung an die Unionsbürger hin, zum Wohle der Ukraine zu sparen. "Vielleicht sind einige Länder wirklich bereit, einen solchen Schritt zu vollziehen", sagt der Wirtschaftswissenschaftler.
Allerdings werden nicht alle EU-Mitglieder diese Idee gutheißen. Der Experte weist darauf hin, dass etwa Rumänien sich bisher geweigert hat, Strom an die Ukraine zu liefern, ohne dafür von Brüssel entschädigt zu werden. Lisan räumt ein, dass ein Teil der von Ursula von der Leyen angekündigten Finanzmittel für die Wiederherstellung von Energieanlagen den Mitgliedsländern selbst zufließen würde.
Seiner Ansicht nach scheinen die Versprechen, der Ukraine zu helfen, nicht realisierbar zu sein:
"Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als würde die EU das Energiesystem ihres Verbündeten sogleich retten und ihm helfen, sich auf den kommenden Winter vorzubereiten. Doch in Wirklichkeit werden die von der EU-Kommissionschefin angekündigten Maßnahmen äußerst schwierig umzusetzen sein, und für viele Dinge mangelt es einfach an Zeit."
Die EU wird also nicht in der Lage sein, der Ukraine die 4,5 der neun GW an verlorenen Kapazitäten zu beschaffen. Lisan weiter:
"Ich schließe nicht aus, dass die Kiewer Machthaber das tatsächliche Zerstörungsausmaß absichtlich übertreiben. Es gibt Anlagen im Land, die trotz offizieller Verlautbarungen weiterhin mit 20 bis 25 Prozent ihrer Kapazität in Betrieb sind. Man wird zunächst versuchen, sie wiederherzustellen."
Ein weiterer Punkt sei, dass dafür nur noch wenig Zeit bleibt. Eine weitere Herausforderung bestehe im Mangel an Transformatoren, ergänzt er:
"Es gibt ein Problem mit den unterschiedlichen Spannungsklassen: Die europäische liegt bei 400 kV und die ukrainische bei 750 kV. Früher erhielt Kiew Transformatoren aus dem Baltikum, wo die sowjetische Energiewirtschaft stillgelegt wurde. Jetzt ist zu erwarten, dass das Land nicht in der Lage sein wird, die Kapazitäten der Ultrahochspannungsklasse wiederherzustellen."
Lisan weiter:
"Die Erfüllung des anderen Versprechens von der Leyens – nämlich die Erhöhung der Energieexporte – wird ebenfalls eine Reihe von Herausforderungen mit sich bringen.
Die europäischen Länder werden versuchen, die Übergabeleistungen zu erhöhen. Derzeit gibt es eine Belastungsgrenze von 1,7 GW. Im Sommer zum Beispiel gab es Zeiten, in denen die Lieferungen 1,3 GW nicht überschritten haben. Vieles wird von der Leistung der Windturbinen und Solarkraftwerke abhängen."
Der Experte ergänzt:
"Wenn es um die Erhöhung des Limits von 1,7 GW auf zwei GW geht, müssen Arbeiten an den Stromübertragungsleitungen durchgeführt werden – und das bedeutet einen zusätzlichen Bedarf an Zeit, Geld und Arbeit. Aber meiner Meinung nach werden zwei GW der Ukraine nicht helfen. Sie werden die Situation nur etwas entschärfen, aber sie werden es nicht ermöglichen, Stromausfälle zu vermeiden."
Er erinnert daran, dass europäische Länder Kiew Stromgeneratoren und Gaskolbenstationen zur Verfügung stellten. Lisans Fazit:
"Somit wird es möglich sein, nur bestimmte Einrichtungen, zum Beispiel ein Heizkraftzentrum, mit Strom zu versorgen. Man sollte auch mögliche Angriffe der russischen Streitkräfte in Betracht ziehen. In diesem Fall wird Moskau alle europäischen Anstrengungen auf null reduzieren."
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 20. September 2024 zuerst auf der Seite der Zeitung Wsgljad erschienen.
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