An den Grenzen Weißrusslands zu Polen und der Ukraine hat ein "Nervenspiel" begonnen
Von Anastasia Kulikowa und Jewgeni Posdnjakow
Die ukrainischen Streitkräfte haben in der Nähe der weißrussischen Grenze 14.000 Soldaten stationiert. Dies meldet der Staatssekretär des Sicherheitsrates der Republik Belarus, Alexander Wolfowitsch. Gleichzeitig wurde eine Gruppe von 17.000 Soldaten im benachbarten Polen "unter dem Vorwand, die Sicherheit zu verstärken", stationiert, von denen sich 8.000 direkt an den Grenzen zu Weißrussland befinden.
Wolfowitsch erinnert auch an die Vorwürfe aus dem Westen und aus Kiew über die angeblichen Angriffspläne von Minsk gegen die Ukraine. Solche Behauptungen könnten jedoch "nur ein leichtes Schmunzeln" hervorrufen. Ihm zufolge habe sein Land nur 4.000 Soldaten in der Grenzregion stationiert.
Unterdessen nehmen die Spannungen zwischen Kiew und Minsk zu. Letzte Woche drangen Drohnen in den Luftraum der weißrussischen Region Gomel ein. Die weißrussischen Behörden gaben den "Eigentümer" der Drohnen nicht bekannt, aber weißrussische Experten halten es für sehr wahrscheinlich, dass es die Ukraine war. Zuvor, Ende August, forderte das ukrainische Präsidialamt, dass Minsk seine Truppen von der Grenze abzieht.
Vor diesem Hintergrund baut Minsk seine Grenzsicherung aktiv aus: Es erhöht die Präsenz von Flugzeugen, Flugabwehrraketen und funktechnischen Truppen. Anfang August wurden zudem Spezialkräfte zur Verstärkung des Grenzschutzes entsandt. Die Zeitung Wsgljad berichtete ausführlich darüber, warum die Ukraine die Beziehungen zu Weißrussland eskalieren lässt.
"Minsk stützt sich in Bezug auf die ukrainischen und polnischen Gruppen auf Informationen der Aufklärung. Die Informationen sind meiner Meinung nach zuverlässig und objektiv. Im Juli war die Zahl der ukrainischen Soldaten dort höher, aber aufgrund militärischer und politischer Maßnahmen der weißrussischen Seite hat Kiew beschlossen, einen Teil der Truppen abzuziehen. Dennoch bleibt die Lage angespannt", sagt der weißrussische Politologe Alexei Dsermant.
Dem Experten zufolge macht die Größe des gemeinsamen Verbands Polens und der Ukraine in Grenznähe etwas weniger als die Hälfte der gesamten Armee Weißrusslands aus. Er fügt hinzu: "Außerdem stationieren sie dort sowohl Sturm- als auch Angriffswaffen. Die Bedrohung wird immer größer. Wir müssen auf die Aktionen des Feindes reagieren und antworten, um einen möglichen Angriff nicht zu übersehen."
"Vor diesem Hintergrund sollten zuallererst Verteidigungslinien aufgebaut werden. Zweitens ist es notwendig, operativ-taktische Formationen zu schaffen, was bereits geschieht. Wir sprechen vor allem über eine neue Einheit des Grenzschutzes. Drittens ist es wichtig, die Strategie der weißrussischen Armee zu entwickeln, Truppen an die Grenze zu verlegen und Raketenwaffen in Alarmbereitschaft zu versetzen."
Darüber hinaus, so Dsermant, werde Minsk in der Frage einer möglichen Reaktion enger mit Moskau zusammenarbeiten. "Einerseits bereiten wir uns also auf das Schlimmste vor, andererseits sind wir uns bewusst, dass die Situation in der Region von unserem koordinierten und ruhigen Handeln abhängen wird", betont er. Gleichzeitig, so der politische Analyst, werden Kiew und Warschau ihren Eskalationskurs fortsetzen. Vieles werde jedoch von der Frontlage in der Zone der militärischen Sonderoperation abhängen. Der Experte erläutert weiter:
"Sollten die ukrainischen Streitkräfte sich das Ziel setzen, die russische Armee in Richtung Weißrussland zu ziehen, dann sind Provokationen an der Grenze möglich. Wenn die polnischen Behörden das Gefühl haben, dass die ukrainischen Truppen eine Niederlage erleiden, steigen die Risiken für sie und es ist unwahrscheinlich, dass sie sich an dem Konflikt beteiligen."
"Wenn die Situation für die ukrainische Führung jedoch ungemütlich wird, könnte sie zu unüberlegten Maßnahmen greifen. In diesem Fall würde sie die Nachbarländer in den Konflikt einbeziehen. Die entscheidende Frage ist, wo dies geschehen wird: in Transnistrien oder in Weißrussland."
Ein ständiger polnischer Verband ist nahe der Westgrenze Weißrusslands stationiert, erklärt der weißrussische Militärexperte Alexander Alessin und fügt hinzu: "Truppen anderer NATO-Länder, vor allem aus den Vereinigten Staaten, treffen dort regelmäßig zu Übungen ein. Auf dem Territorium Polens wurden Lagerhäuser und Stützpunkte für US-amerikanische Ausrüstung eingerichtet. Das heißt, dass dort eine Kampfgruppe stationiert ist."
Die Motive Warschaus erklärt er mit zwei Faktoren: "Erstens möchten die polnischen Behörden die westlichen Gebiete von Weißrussland in Besitz nehmen – das sind die Regionen Grodna und Brest. Um dieses Ziel zu erreichen, warten sie auf einen günstigen Zeitpunkt. Nach ihrer Version könnten die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Weißrussland der richtige Zeitpunkt sein."
"Polens zweites Ziel ist es, die russischen Streitkräfte daran zu hindern, sich voll auf die Sonderoperation zu konzentrieren. Daher bedrohen sie Weißrussland und das Kaliningrader Gebiet. Was die ukrainische Gruppierung anbelangt, so befinden sich 14.000 Soldaten direkt an der Grenzlinie und weitere 100.000, soweit ich weiß, an der zweiten Verteidigungslinie", so Alessin weiter.
Kiew versuche, seine eigenen Probleme zu überwinden, meint der Analyst. "Einerseits fürchtet das ukrainische Kommando eine Situation, in der russische Truppen eine Offensive gegen Kiew auf dem kürzesten Weg durch das weißrussische Territorium führen würden. Andererseits will das Büro von Selenskij Minsk in eine militärische Aktion verwickeln, damit Moskau dem Unionsstaat Hilfe schickt und so seine Reserven streckt."
Er bezeichnet die wachsenden Spannungen an der Grenze als "Nervenspiel". Alessin warnt:
"Die Situation ist sehr akut. Jede Provokation – sei es eine Drohne, die den Luftraum verletzt, oder eine Aufklärungs- und Sabotagetruppe, die in das Hoheitsgebiet der Republik eindringt – kann zu unvorhersehbaren Folgen führen, einschließlich eines neuen Brennpunkts der Feindseligkeiten."
Seinen Schätzungen zufolge belaufen sich die Landstreitkräfte der weißrussischen Armee auf etwa 20.000 bis 22.000 Mann. "Moskau und Minsk haben jedoch einen Aktionsplan für den Fall eines Angriffs entwickelt. Demnach sollen die Streitkräfte der Republik, die sich auf defensive Strukturen stützen, dem ersten feindlichen Angriff standhalten, und dann werden uns russische Truppen zu Hilfe kommen."
Der Experte erinnert daran, dass ein solches Manöver bei gemeinsamen Übungen geübt werde. "Die Aufgabe von Minsk ist es, sich standhaft zu verteidigen, die Frontlinie zu halten und auf die Ankunft des Verbündeten zu warten. Und dann gemeinsam den Feind zurückzuschlagen."
Die Entscheidung, Atomwaffen auf weißrussischem Territorium zu stationieren, sei nicht ohne Grund getroffen worden, so Alessin weiter. Er glaubt: "Das wird auch ein Vorteil gegen einen zahlenmäßig überlegenen Gegner sein."
Man sollte jedoch nicht erwarten, dass Warschau oder Kiew den Eskalationskurs überdenken werden, meint der Analyst. Er hebt hervor: "Ich glaube aber auch nicht, dass sie sich auf eine ernsthaftere Eskalation einlassen werden, weil Minsk über Waffen verfügt, die Kiew und die wichtigsten Zentren der politischen und militärischen Infrastruktur treffen können. Alexander Lukaschenko wird im Falle eines Angriffs die Aktionen Polens und der Ukraine nicht unbeantwortet lassen, daran besteht kein Zweifel."
Polen und die Ukraine versuchen in der Tat seit langem, Weißrussland zu einem Erstschlag zu provozieren, erinnert der Militäranalyst Boris Roschin. Er erklärt: "Damit könnten sie leicht die Notwendigkeit einer Militäroperation auf dem Territorium der Republik rechtfertigen. Die Reaktion von Minsk hat jedoch deutlich gemacht, dass das Land nicht die Absicht hat, der aggressiven Stimmung seiner Nachbarn nachzugeben."
Nichtsdestotrotz würden Warschau und Kiew weiterhin Druck auf Weißrussland ausüben. Der Experte betont:
"In der Tat haben sie eine Kampagne zum Sturz der Regierung von Alexander Lukaschenko entfesselt, die sie durch zunehmende Bedrohungen der Staatssicherheit und ständige Angriffe im Informationsbereich zu erreichen versuchen."
"Im Prinzip könnten Polen und die Ukraine zu offensiven Aktionen übergehen. Höchstwahrscheinlich planen sie die operative Einnahme von Grenzgebieten. Das Gebiet um Gomel sowie die westlichen Regionen könnten unter Beschuss geraten. In diesem Zusammenhang sind Durchbruchsversuche in Richtung Brest oder Grodna nicht auszuschließen, die zur Blockade der Suwałki-Lücke (ein kleines Stück Land zwischen Polen und Litauen, durch das das russische Militär im Kriegsfall angeblich das Baltikum auf dem Landweg vom übrigen NATO-Gebiet abschneiden könnte – Anm. Red.) beitragen würden."
"In der Anfangsphase werden sie aktiv Brücken und Lagerhäuser in dem für die Invasion ausgewählten Gebiet angreifen. Sie werden versuchen, die weißrussischen Truppen zu desorganisieren. Dann werden Aufklärungs- und Sabotagetruppen und ähnliche Kräfte in die Region eindringen. Wenn sich die Ergebnisse der ersten Tage der Operation als erfolgreich erweisen, werden sich ihnen stärkere Truppenteile anschließen", meint Roschin und schließt:
"Es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass eine solche Entwicklung nur möglich ist, wenn Warschau und Kiew darauf vertrauen, dass es keinen Vergeltungsschlag Moskaus mit Atomwaffen geben wird. Russland diskutiert derzeit aktiv über eine Änderung der Doktrin, die diese Aktionen der Streitkräfte regelt. Daher sollten sich die Gegner keine Illusionen über die Straffreiheit solch gewagter Operationen machen."
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 9. September 2024 zuerst auf der Website der Zeitung Wsgljad erschienen.
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