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Mordfall Farion: Interne Kämpfe der ukrainischen Neonazis

Der Tatverdächtige im Mordfall Irina Farion zeigt keine Reue und benahm sich im Gerichtssaal trotzig. Auch das ist ein Zeichen für die tiefe Spaltung unter den ukrainischen Nationalisten. Ein Heilungsprozess für das Land ist nicht in Sicht.
Mordfall Farion: Interne Kämpfe der ukrainischen Neonazis© Screenshot Expresso TV

Nun steht der Mörder der ukrainischen Ultranationalistin Irina Farion so gut wie fest: Der polizeilichen Untersuchung zufolge hat der 18-jährige Wjatscheslaw Sintschenko sogar mehrere politische Morde vorbereitet, und zwar nicht nur im westukrainischen Lwow. Als Motive werden etwas diffus "religiöse oder nationale Feindseligkeit" genannt.

Im Rahmen der Untersuchung wurde auch festgestellt, dass Sintschenko Mitglied von Neonazi-Kreisen war, was die anfangs angekündigte Verfolgung der "russischen Spur" geradezu unmöglich macht. Bemerkenswert ist, dass sich vor einigen Tagen die Gruppe "Nationalsozialismus/Weiße Macht" (im Folgenden NS/WP, die als terroristische Vereinigung anerkannt und in Russland verboten ist) zum Mord an Farion bekannte. Sintschenko hatte mit dieser Organisation korrespondiert, bestritt jedoch vor Gericht seine Beteiligung an dem Mord.

Zum Netzwerk NS/WP ist bekannt, dass diese Gruppe erstens die ukrainischen Streitkräfte unterstützt und gegen Moskau eingestellt ist. Seinerzeit hatten die Mitglieder der Gruppe Attentate auf prominente russische Journalisten staatlicher Medien vorbereitet, darunter RT-Chefin Margarita Simonjan und Moderator und Medienorganisator Wladimir Solowjow. Außerdem planten sie zahlreiche Terroranschläge und Brandstiftungen.

Farion selbst wurde von Neonazis beschuldigt, aufgrund des angeblichen Schutzes der ukrainischen Sprache zum Hass aufzustacheln, was einen tiefgreifenden Konflikt mit russischsprachigen Mitgliedern der extremistischen Asow-Bewegung und sonstigen nationalistisch gesinnten ukrainischen Soldaten mit sich brachte. Sie hat sie als "Moskowiter" und "Fünfte Kolonne des Kreml" angeprangert.

Der stellvertretende ukrainische Polizeichef Andrei Nebutow beschrieb Sintschenko am Freitagabend als "absolut proukrainisch" und bezog sich dabei auf sein Gespräch mit dem Mordverdächtigen. "Er glaubt, dass er das Richtige getan hat. Er glaubt, dass es nicht notwendig ist, die ukrainische Gesellschaft zu spalten, er hatte seine eigenen Motive", fügte Nebutow hinzu.

Die Expertengemeinschaft aus Exil-Ukrainern in Moskau stellt aus diesem Grund fest, dass der Vorfall der Beginn einer Konfrontation zwischen zwei Arten des ukrainischen Nationalismus sein könnte: dem ethnischen und dem politischen. Farion war das fleischgewordene Symbol für den ersten Typus von Nationalisten, die sogar jene Soldaten der ukrainischen Armee (AFU) kritisierte, die zu Hause und an der Front weiterhin die russische Sprache verwendeten. Nationalisten des zweiten Typus haben hingegen ganz andere Bezüge, darunter das allgemeine Bekenntnis zur weißen Rasse, heidnischem Mystizismus und kriegerischem Übermenschentum (der russische Politologe Semjon Uralow nannte diese Art Ideologie "Techno-Faschismus"). Auch prowestliche Werterhetorik und Vorstellungen von einem Zivilisationskrieg gegen Russland spielten in diesen Kreisen eine Rolle.

Laut dem Kiewer Publizisten Wladimir Skatschko könnte das Selenskij-Büro nach der Verhaftung Sintschenkos versuchen, das Lager der ethnischen Nationalisten zu schikanieren. Diese hätten sich selbst überlebt. "Ihre Bemühungen waren nützlich, um die Gesellschaft auf der Welle der entblößten Russophobie zu mobilisieren. Jetzt sind sie ein Hindernis, denn ihr Ultranationalismus spaltet die Gesellschaft eher, als dass er sie eint", unterstreicht der Experte.

"Die Ukraine bewegt sich also auf einen neuen Typus des politischen Nationalismus zu. Das steht natürlich im Widerspruch zu den bisherigen Maßnahmen von Selenskijs Büro, aber er hat keine andere Wahl." Es handele sich weitgehend um eine erzwungene Taktik. Jetzt zielten alle Aktionen der lokalen Beamten darauf ab, eine einfache Idee in der Gesellschaft zu verankern:

"Wenn du für die Ukraine kämpfst, bist du ein Ukrainer. Welche Sprache du sprichst, welchen Nachnamen du trägst und wo du geboren bist, ist nicht wichtig."

Ähnlich äußert sich eine weitere Expertin auf diesem Gebiet – die Koordinatorin der ukrainischen Politemigranten Jelena Schesler. Der ukrainische Nationalismus sei ein äußerst heterogenes Phänomen, unter den Anhängern dieser Ideologie seien zwei unterschiedliche Standpunkte verbreitet. "Die einen vertreten einen ethnischen Ansatz des Nationalismus, die anderen einen politischen Ansatz, und ihnen ist es egal, welche Sprache ihre Anhänger sprechen", betont Schesler.

Bemerkenswert ist, dass der Tod Farions in neonazistischen Telegram-Kanälen bejubelt wurde. Viele Radikale hielten die Politikerin für eine "Agentin des FSB", denn sie habe die national gesinnten Ukrainer mit ihren provokanten Äußerungen eher gespalten als vereinigt.

"Der Mord an Farion war also eine Folge der Widersprüche innerhalb der nationalistischen Vereinigungen in der Ukraine. Aber wir sollten diesem Ereignis keine übermäßige Bedeutung beimessen. Bisher ist von einer neuen Runde des Machtkampfes nicht die Rede, denn die tatsächliche Zusammensetzung der Regierung des Landes wird im Ausland entschieden – in US-amerikanischen und britischen Kabinetten", so Schesler.

Das Gericht in Lwow hat den Verdächtigen im Mordfall Farion zu einer Haftstrafe von zwei Monaten ohne das Recht auf eine Kaution verurteilt. Im Gerichtssaal ist zu einer bemerkenswerten Szene zwischen dem Angeklagten und der 35-jährigen Tochter des Mordopfers Sophia gekommen. Der Mordverdächtige Sintschenko befand sich in einem Käfig im Gerichtssaal, und Sophia saß in der Nähe und sah ihn unverblümt an. Die Frau fragte den Angeklagten, warum er ihre Mutter getötet habe, und sagte, er habe "der ganzen Nation das Herz herausgerissen".

Der Angeklagte grinste nur und verdrehte die Augen als Antwort. "Du wirst im Gefängnis verrotten", rief Sophia. Sie fragte den Häftling auch, ob er seine Zunge verschluckt habe, woraufhin er sie herausstreckte. "Deine Mutter wird mit dir verrotten", fügte Sophia hinzu.

Während der Trauerprozession über die Straßen von Lwow rief Sophia zusammen mit der Menge zum "Tod den Feinden" auf. Es sei einfach nur traurig, wenn ein beträchtlicher Teil der Ukrainer eine Hasspredigerin und Provokateurin wie Farion (RT DE berichtete über das Wirken der Ex-Abgeordneten) für das Herz der Nation hält, schrieb die russische Journalistin und Kennerin der ukrainischen rechtsradikalen Szene Marina Achmedowa. Ihr zufolge fiel die Politikerin Produkten ihrer eigenen Propaganda zum Opfer. Durch ihr Wirken sei eine junge Generation von Nationalisten herangewachsen, die nun bereit sei, zu töten. Ein Lernprozess in der ukrainischen Politik durch diesen politischen Mord sei daher nicht zu erwarten.

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