Europa

Russlands "Konstruktionshinterzimmer" gibt die Antwort auf neue Raketen in Europa

Die USA wollen neue Langstreckenwaffen in Deutschland stationieren. Darüber hinaus haben mehrere EU-Staaten entschieden, neue Raketen zu entwickeln. Russland wird darauf reagieren. Nach Einschätzung von Experten kann das Land in wenigen Monaten eine Mittelstreckenrakete bauen.
Russlands "Konstruktionshinterzimmer" gibt die Antwort auf neue Raketen in EuropaQuelle: Legion-media.ru © Mariusz Burcz /Alamy

Von Alexei Anpilogow und Aljona Sadoroschnaja

Vier EU-Länder haben sich auf die Entwicklung von Mittel- und Kurzstreckenraketen (INF) geeinigt. Dazu gehören Frankreich, Deutschland, Italien und Polen. Allerdings wurde bereits bekannt, dass US-Raketen derselben Klasse 2026 in Deutschland stationiert werden sollen. Warum brauchen die Europäer ihre eigenen Raketen und wie wird Russland darauf reagieren?

Frankreich, Deutschland, Italien und Polen unterzeichneten am Donnerstag ein Abkommen zur gemeinsamen Entwicklung von bodengestützten Marschflugkörpern mit einer Reichweite von mehr als 500 Kilometern. Laut Reuters sollen die Vereinbarungen "eine Lücke in den europäischen Waffenarsenalen schließen", die durch die Kämpfe in der Ukraine entstanden ist.

Gleichzeitig stellt die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) fest, dass das Abkommen bisher nur die Absicht zur Entwicklung vorsieht, wobei sich die Länder noch nicht auf die Einzelheiten der Verteidigungszusammenarbeit verständigt haben. Der Zeitung zufolge planen die vier EU-Länder die Entwicklung eines konventionellen (das heißt nicht-nuklearen) Raketensystems mit einer Reichweite von mehr als 1.000 Kilometern zur "Abschreckung Russlands".

Frankreich produziert derzeit luft- und seegestützte Marschflugkörper mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern (ASMP-A) beziehungsweise 1.000 Kilometern (MdCN). Zusammen mit Großbritannien produziert Frankreich auch die in Russland bekannten Storm Shadow-Luftabwehrraketen mit einer Reichweite von bis zu 560 Kilometern.

Daneben produziert Deutschland zusammen mit Schweden den Flugkörper Taurus (über 500 Kilometer Reichweite) und den bodengestützten Flugkörper JFS-M (bis zu 499 Kilometer Reichweite). Auch Italien stellt zusammen mit Frankreich und dem Vereinigten Königreich FC/ASW-Raketen her (bis zu 300 Kilometer Reichweite). In Polen werden keine Marschflugkörper hergestellt, schreibt die Zeitung Kommersant.

Zuvor hatte die Zeitung Wsgljad ausführlich berichtet, dass die USA ab 2026 mit der Stationierung von Langstreckenraketen auf deutschem Gebiet beginnen werden. Die Waffenliste wird die SM-6-Rakete (see-, luft- und landgestützt), den Tomahawk-Marschflugkörper sowie die in der Entwicklung befindlichen Hyperschallwaffen umfassen. Die Eskalation um dieses Thema begann bereits im April.

Später bestätigte der russische Präsident Wladimir Putin, dass Moskau bereit sei, im Falle der Stationierung von US-Mittel- und Kurzstreckenraketen (INF) in irgendeiner Weltregion in gleicher Weise zu reagieren. Er erklärte auch, dass Russland bereit sei, mit der Produktion von Raketen der entsprechenden Klasse zu beginnen.

Vorgeschichte des Problems

Die Äußerung Putins stellt ein logisches Szenario der Ereignisse in diesem Raketenrüstungssegment dar. Der Stand der Dinge rund um die Mittel- und Kurzstreckenraketen wurde in den vergangenen 40 Jahren durch den sowjetisch-amerikanischen Vertrag über die Vernichtung dieser Klasse von Raketen [INF-Vertrag] bestimmt. Seit fast 30 Jahren ist der INF-Vertrag einer der Eckpfeiler des internationalen Sicherheitssystems.

Im Juli 2014 beschuldigten die USA Russland auf der Ebene der Staatsoberhäupter offiziell, gegen den INF-Vertrag verstoßende Mittelstreckenraketen-Tests durchzuführen. Dabei ging es um den Test des bodengestützten Marschflugkörpers 9M729 für den Iskander-Komplex. Nach Ansicht der USA hatte dieser eine Reichweite von mehr als 500 Kilometern, was über die Bestimmungen des INF-Vertrags hinausging.

Die USA behaupteten, der Flugkörper 9M729 basiere auf dem Langstrecken-Marschflugkörper C-10 "Granat", den die UdSSR in der bodengestützten Version gemäß den Anforderungen des INF-Vertrags außer Dienst gestellt und zerstört hatte. Die Reichweite der C-10 betrug in der Tat etwa 2.500 Kilometer, wenn sie mit einem 200-kt-Atomsprengkopf ausgestattet war.

Bei dem Marschflugkörper 9M729 handelt es sich jedoch um eine landgestützte Version des Marschflugkörpers vom Typ "Kalibr". Die landgestützte 9M729 unterscheidet sich von der Seeversion des Kalibr-Marschflugkörpers nur dadurch, dass sie einen Meter kürzer ist. Daher beträgt ihre Reichweite, wenn sie mit einem konventionellen 480-kg-Splittergefechtskopf ausgestattet ist, die zulässigen 500 Kilometer.

In der Folge kündigten die USA im Februar 2019 ihren Austritt aus dem INF-Vertrag an. Gleichzeitig wurde im November 2017, also eineinhalb Jahre vor dem offiziellen Ausstieg aus dem Vertrag, in den USA selbst mit der Entwicklung neuer Mittel- und Kurzstreckenraketen begonnen. Der US-Kongress genehmigte die Bereitstellung von 58 Millionen US-Dollar für die Entwicklung einer neuen landgestützten Mittelstreckenrakete.

Bei den Balikatan 2024-Manövern, die im Mai dieses Jahres auf den Philippinen stattfanden, präsentierten die USA zum ersten Mal ihr neues Typhon-Abschusssystem. Bei dem System handelt es sich um einen landgestützten Mk-41-Vertikalseestartbehälter, der Tomahawk-Marschflugkörper mit einer Reichweite von bis zu 1.800 Kilometern und SM-6-Mehrzweckraketen mit einer Reichweite von 460 Kilometern abschießen kann.

Zur Erinnerung: Die Entfernung zwischen den Philippinen und China beträgt etwa 1.300 Kilometer, die Entfernung zu den umstrittenen Inseln des Spratly-Inselarchipels nur etwa 700 Kilometer. Tatsächlich könnte das Typhon-System, das bereits während der Balikatan 2024 auf den Philippinen stationiert wurde, Chinas wichtigste regionale Seeverbindungen sowie wichtige Hafenstädte und Marinestützpunkte der chinesischen Volksbefreiungsarmee an der Südostküste treffen.

Mit großer Wahrscheinlichkeit können auch diese Typhon-Systeme in Deutschland stationiert werden. Die SM-6 erreichen leicht das Kaliningrader Gebiet, insbesondere Baltijsk, den Hauptstützpunkt der Baltischen Flotte der russischen Marine. Und bodengestützte Tomahawks können von Deutschland aus auch Woronesch, Rjasan und Sewastopol erreichen.

Warum braucht Europa seine eigene Rakete?

Es stellt sich die Frage: Wenn die USA beabsichtigen, ihre INF-Raketen in Europa einzusetzen, warum wollen dann die vier EU-Länder ähnliche Systeme entwickeln? Nach Ansicht von Experten könnten die Europäer und die Amerikaner damit einen neuen Schritt zur Vereinheitlichung und Standardisierung der INFs innerhalb der NATO machen, was die Schlagkraft erhöhen würde.

Eine solche Vereinheitlichung würde es ermöglichen, die Austauschbarkeit von Raketen und Anlagen der jeweiligen Klasse zu erreichen, was die Verwaltung der Komplexe im Falle von realen Kampfeinsätzen vereinfachen wird. Zu erwarten ist auch eine Vereinheitlichung der Software für diese Systeme und der Ausbildung von Spezialisten.

Eine andere Frage ist, ob Europa in der Lage sein wird, diese Aufgabe zu finanzieren. Nach Ansicht des deutschen Politikwissenschaftlers Alexander Rahr liegt ein solch ehrgeiziges Ziel durchaus in der Macht der EU-Länder:

"Sie werden es erreichen, denn in der europäischen Gesellschaft gibt es keine Proteste gegen die Militarisierung, es gibt keine Friedensbewegung. Und wenn sie doch auftaucht, wird sie von lokalen Politikern und Medien sofort als 'Kreml-Agent' diskreditiert."

Er glaubt, dass "die europäische Produktion von eigenen Marschflugkörpern und anderen Waffen nach Schätzungen westlicher Experten bis 2027/2028 vollständig realisiert sein könnte".

Wie wird Russland darauf reagieren?

Es ist nicht schwer, der 9M729 den einen Meter Länge zurückzugeben, der ihr einst "abgeschnitten" wurde, und damit ihre Fähigkeiten mit denen des seegestützten Flugkörpers 3M14 vom Typ "Kalibr" gleichzustellen. Das Gleiche könnte mit dem Startgestell des Iskander-Raketenabwehrsystems geschehen, sodass die verlängerte 9M729 sowohl auf dem modernisierten Radstartgestell als auch auf dem Transportfahrzeug montiert werden kann. All diese konstruktiven und technologischen Aufgaben können realistischerweise in extrem kurzer Zeit gelöst werden. Es geht hier um Monate, wenn nicht Wochen.

Darüber hinaus kann das Raketensystem "Rubesch" mit dem Flugkörper 15Zh67 auf einem kleinen sechsachsigen Fahrgestell MZKT-792911, das ausgesetzt wurde, aber praktisch die gesamte Palette der Teststarts durchlaufen hat, aus dem "Konstruktionshinterzimmer" geholt werden. Dieses System wurde in den frühen 2010er-Jahren als "kleine ballistische Interkontinentalrakete" getestet.

Die offizielle Reichweite wurde mit rund 6.500 Kilometern angegeben, aber es wäre nicht schwierig, aus "Rubesch" eine ernst zu nehmende Langstreckenrakete (2.000 bis 5.000 Kilometer Reichweite) zu machen. Das System "Rubesch" wurde Mitte der 2010er-Jahre aus rein politischen Gründen eingefroren. Und da die Gründe entfallen sind, den INF-Vertrag einzuhalten, besteht die Möglichkeit, aus "Rubesch" eine echte Mittelstreckenrakete mit einem gewichteten Sprengkopf zu machen.

Eine solche Rakete könnte übrigens gerade in der Ukraine eingesetzt werden, und zwar mit einem konventionellen Sprengkopf, um das Problem der Zerstörung von Brücken über den Dnjepr im Bedarfsfall zu lösen.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 12. Juli 2024 zuerst in der Zeitung Wsgljad erschienen.

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