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Slowakei: Ex-Premierminister Ján Čarnogurský über die politische Situation nach dem Fico-Attentat

Der frühere slowakische Ministerpräsident Ján Čarnogurský berichtet über die gesellschaftliche und politische Situation in der Slowakei nach dem Attentat auf Robert Fico. Er erklärt zudem, wie sich innerhalb der EU die ehemaligen Ostblockländer von den alten EU-Mitgliedern unterscheiden.
Slowakei: Ex-Premierminister Ján Čarnogurský über die politische Situation nach dem Fico-Attentat© youtube Screenshot der Sendung: Ján Čarnogurský: Leopardy horia na Ukrajine ako zápalky. Rusko vojnu vyhrá a NATO sa rozpadne, / https://www.youtube.com/watch?v=0ChX0KH9K1I

Von Felicitas Rabe  

Der Jurist Dr. Ján Čarnogurský wurde nach dem Ende des Warschauer Pakts von 1991 bis 1992 erster Premierminister der Slowakei. Direkt nach dem Zusammenbruch des Kommunismus gründete er 1990 die christdemokratische Partei KDH, dessen Vorsitz er bis zum Jahr 2000 innehatte. Von 1998 bis 2002 amtierte er als Justizminister der Slowakei. Seit 2002 arbeitet Čarnogurský als Rechtsanwalt und engagiert sich als Vorsitzender der slowakisch-russischen Gesellschaft. Im Interview mit RT DE bewertet Dr. Čarnogurský die gesellschaftliche und politische Atmosphäre nach dem Attentat auf den amtierenden slowakischen Premierminister, Robert Fico.

Die polizeilichen Ermittlungen zum Hintergrund des Attentats stehen erst am Anfang

RT: Dr. Čarnogurský, am 15. Mai wurde der slowakische Premierminister Robert Fico bei einem Attentat schwer verletzt. Nach zwei Operationen soll der Staatschef auf dem Weg der Besserung sein – vor Kurzem wurde er zur weiteren Genesung in seine Wohnung nach Bratislava verlegt, wo er häuslich gepflegt wird. Nach seiner jüngsten Stellungnahme befindet sich Robert Fico inzwischen so weit auf dem Weg der Besserung, dass er in wenigen Wochen die Regierungsgeschäfte wieder übernehmen könne.

Was berichten die slowakischen Behörden über den Hintergrund des Attentäters und seine Motive? Handelt es sich tatsächlich um einen Einzeltäter? Oder gibt es auch Indizien, die dagegen sprechen könnten?

Čarnogurský: Die liberal-progressiven Medien versuchten, den Attentäter als Chaoten darzustellen, der eher zum nationalistischen Lager gehöre, insbesondere aufgrund eines Fotos, das ihn auf einer rechtsextremen Kundgebung zeigt. Seine Teilnahme an der regierungskritischen Kundgebung wurde bestätigt. Der Attentäter ist ein Produkt der Medienhetze gegen die Regierung von Robert Fico. Infolgedessen nahm er an Demonstrationen gegen die Regierung teil. Bisher gibt es keine ausreichenden Beweise dafür, dass der Attentäter Teil einer größeren Verschwörung war. Doch die polizeilichen Ermittlungen stehen erst am Anfang.

Nach dem Attentat steigen Ficos Zustimmungswerte in der Gesellschaft 

RT: Wie hat sich das Attentat auf Robert Fico auf die gesellschaftliche Atmosphäre in der Slowakei ausgewirkt? Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung? Wem gibt die Gesellschaft die Schuld an dem Verbrechen?

Čarnogurský: Meinungsumfragen zufolge nahm die Unterstützung für Fico und die Regierung nach dem Attentat zu. Die Öffentlichkeit gibt den aktuellen Oppositionsparteien und den Mainstream-Medien, deren Eigentümer größtenteils Ausländer sind, die Hauptschuld für das Attentat. Die EU-Wahlen brachten der Oppositionspartei Progresívne Slovensko  [Progressive Slowakei] sechs Mandate, Ficos SMER fünf Mandate, Hnutie Republika [Radikale Republik] zwei Mandate und der Koalitionspartei HLAS und der KDH [Christdemokratische Partei] je ein Mandat. Die Europawahlen zeigen also nach dem Attentat keine Änderung des Wahlverhaltens: Sowohl die Oppositionsparteien als auch die Regierungsparteien erhalten sechs Mandate. Die Republika-Partei wird in Bezug auf die EU- und die NATO-Kritik Ficos Partei unterstützen und die Christdemokraten schwanken zwischen den beiden Blöcken hin und her.

RT: Vor dem Attentat veranstaltete die politische Opposition in der Slowakei regelmäßig Großdemonstrationen gegen Ficos Koalitionsregierung, bestehend aus Vertretern der drei Parteien SMER-SD [Sozialdemokraten], HLAS [Mitte-Links-Partei] und SNS [Nationalkonservative Partei] organisiert. Wie verhält sich die Opposition seit dem Attentat auf Fico?

Čarnogurský: Die Demonstrationen sind vorerst eingestellt. Einen Teil der Schuld für das Attentat gibt die Öffentlichkeit auch den Rednern auf den Demonstrationen, die in gewisser Weise Gewalt gegen die Regierung zuließen.

Es gibt keine Garantie, ob der neue Präsident Peter Pellegrini dem Druck aus Washington standhält

RT: Derzeit ist der Premierminister weiterhin im Amt und seine Regierung arbeitet strikt die Koalitionsvereinbarungen ab. Was würde sich ändern, falls Robert Fico aus gesundheitlichen Gründen für amtsunfähig erklärt würde?

Čarnogurský: Er müsste als Premierminister zurücktreten und das würde den Sturz der gesamten Regierung zur Folge haben. Dies würde es dem Präsidenten ermöglichen, eine Übergangsregierung zu ernennen, die so lange im Amt bleibt, bis eine neue Regierung vom Parlament bestätigt wird. Die aktuelle Koalition würde eine neue Regierung bilden, weil sie noch über die Mehrheit verfügt, aber der gesamte Prozess könnte mehrere Wochen dauern. Zudem verfügt die Regierungskoalition über niemanden, der ein angemessener Ersatz für Robert Fico sein könnte.

RT: In dieser Woche endet die Amtszeit der slowakischen Staatspräsidentin Zuzana Čaputová. Inwieweit wird sich der Amtsantritt des neu gewählten Staatspräsidenten Peter Pellegrini der HLAS-SD auf die politische Situation auswirken?

Čarnogurský: Die politische Situation wird für die Regierung vereinfacht, da Peter Pellegrini der Regierungskoalition angehört. Zuzana Čaputová gehörte vor der Wahl zur Präsidentin der Oppositionspartei. Allerdings gibt es keine Garantie dafür, dass Präsident Peter Pellegrini bei der Regierungsbildung dem außenpolitischen Druck aus Washington und Brüssel widerstehen kann.

Wodurch zeichnet sich Ficos Persönlichkeit und seine Amtsführung als Premierminister aus?

RT: Im Jahr 2018 wurde Robert Fico bereits schon einmal aus seinem Amt als Ministerpräsident entfernt. Damals wurde ihm die Mitverantwortung am Mord des Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová zugesprochen. Wie wirkt sich Ficos damalige Erfahrung bis heute auf seine Amtsführung als Premierminister der Slowakei aus? Wie würden Sie seine Persönlichkeit beschreiben?

Čarnogurský: Im vergangenen Oktober übernahm Fico zum vierten Mal das Amt des Premierministers. Der ihm gemachte Vorwurf beim Tod von Ján Kuciak und Martina Kušnírová war völlig haltlos. Mir scheint, dass der jetzige Fico sich vorsichtiger verhält als früher. Er ist in Brüssel nicht in dieselben Konflikte geraten wie beispielsweise Viktor Orbán. Aber in der grundsätzlichen Frage, die Slowakei nicht in den Krieg in der Ukraine einzubeziehen, blieb er sowohl früher als auch heute standhaft.

Nach dem Attentat sind seine außenpolitischen Äußerungen radikaler gegen die westliche Politik gerichtet als vor dem Attentat. Jetzt bezeichnet er die Politik des Westens in der Ukraine als eine Politik der Kriegseskalation.

Ficos Persönlichkeit passt am besten zur antiken griechischen Beschreibung eines Zoon Politikon [frei übersetzt: jemand, der sich für die Gemeinschaft engagiert].

RT: Wodurch unterscheidet sich Ficos Innen- und Außenpolitik im Vergleich zu anderen EU-Mitgliedsländern?

Čarnogurský: In Ficos Partei gibt es auch radikale Sozialisten, und in seiner Koalition gibt es auch eine Partei, die man im Westen als nationalistisch bezeichnen würde. Die Innenpolitik unterscheidet sich jedoch nicht von den Grundsätzen der europäischen Demokratie und Marktwirtschaft. In der Slowakei erfolgt die Zahlung in Euro. Außenpolitisch wird Fico darauf bestehen, dass das Vetorecht der EU-Mitgliedstaaten dort erhalten bleibt, wo es noch besteht. Er lehnt die Umverteilung von Flüchtlingen aus Afrika und dem Nahen Osten auf die Mitgliedstaaten ab.

In der Slowakei leben mehr als 100.000 Flüchtlinge aus der Ukraine, mit denen es keine ernsthaften Probleme gibt. Die Slowakei ist traditionell ein prorussisches Land und Fico wird nicht versuchen, die Haltung des Landes zu ändern. Die besten Beziehungen haben wir zurzeit zur Orbán-Regierung in Ungarn. Aufgrund ihrer traditionell engen Beziehungen zur Tschechischen Republik wird die Regierung von Fico zu einem Anziehungspunkt für ähnliche gesellschaftliche Kräfte in der Tschechischen Republik. Die Slowakei wird sich an keiner kollektiven westlichen Operation in der Ukraine beteiligen.

Was unterscheidet die ehemaligen Ostblockstaaten in der EU von den westlichen EU-Mitgliedern?

RT: Dr. Čarnogurský, nach dem Ende des Warschauer Pakts waren Sie der erste Premierminister der Slowakei. Können Sie aufgrund Ihrer Erfahrungen etwas über die besondere gesellschaftliche und politische Situation in den neuen osteuropäischen Mitgliedsländern der EU und der NATO berichten?

Čarnogurský: Am Ende des Kommunismus war die heutige Europäische Union für die Völker aller damaligen kommunistischen Länder ein Ideal, das wir erreichen wollten. Wir können aktuell sehen, dass das Gleiche auch für die heutige Ukraine oder Georgien gilt. Danach trat eine gewisse Ernüchterung ein, aber die ehemals kommunistischen Länder sind immer noch EU-positiv. Die neuen Werte der sogenannten "politischen Korrektheit" bindet diese Länder nicht so sehr wie die westlichen Länder. Stattdessen wird vielerorts die ursprüngliche, traditionelle Ausrichtung wiederhergestellt.

Polen setzt sich für eine größere Machtposition in Europa ein und ist gegen Russland gerichtet. In der Slowakei ist man zufrieden über die Unabhängigkeit von Tschechien und erhält in der Gesellschaft eine gute Meinung über Russland aufrecht. In Tschechien schwankt man zwischen stärkerer Westintegration und Aufrechterhaltung der Bindungen mit dem Osten.

Ungarn strebt nach einer Rückkehr zu seiner früheren Bedeutung. Außerdem wünschen sich die Ungarn eine engere und juristisch abgesicherte Anbindung an die ungarischen Minderheiten in den umliegenden Staaten. Alle ehemaligen Staaten des Ostblocks haben wenig Verständnis dafür, die Probleme westlicher Länder mit ihren ehemaligen Kolonien zu lösen, beispielsweise in Form von Flüchtlingen, die nach Europa kommen. Allgemein ist den Menschen in den östlichen EU-Mitgliedsstaaten die ethnische Zugehörigkeit von größerer Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt als formale staatliche Zugehörigkeit, wie zum Beispiel durch einen Ausweis.  

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