Neue Revolution in Großbritannien? Der König soll vorerst verschont bleiben
Von Wladimir Kornilow
"Der Aufstand hat gerade erst begonnen" – mit diesem Satz hat Nigel Farage, der Vorsitzende der Partei Reform UK (Das Vereinte Königreich reformieren), in einem Interview mit der Zeitung Sunday Express die eigene Sensation im Wahlkampf in Großbritannien kommentiert. Er verkündete, dass die Wahlen nun vorbei seien, obwohl die Abstimmung selbst am 4. Juli stattfinden wird. "Die einzige Frage, die sich den Wählern jetzt stellt, ist: Wer wird die Opposition sein?", erklärte Farage weiter.
Das war’s dann auch schon. Bereits zu dem Zeitpunkt, als Rishi Sunak im strömenden Regen das Datum der Abstimmung verkündete, war klar, dass die Konservativen eine vernichtende Niederlage einstecken würden. Doch viele Tory-Anhänger gaben sich Illusionen hin, dass die Strategen der Partei geheime Pläne schmiedeten. Sie erwarteten, dass Sunak in einer Debatte mit Labour-Chef Keir Starmer das Blatt wenden könnte. Sie hofften, dass die Strippenzieher der Partei hinter den Kulissen etwas Unerwartetes ausgeheckt haben mussten. Sie glaubten ernsthaft, dass Sunak die Wähler mit Russland einschüchtern und allen beweisen würde, dass Labour nicht für einen "Krieg gegen Putin" bereit sei.
All diese Träume wurden letzte Woche zunichtegemacht. Die Debatte zwischen Sunak und Starmer war eine Veranstaltung mit offenem Ausgang, bei der niemand einen klaren Sieg davontrug. Eine YouGov-Umfrage ergab ein Ergebnis von 51 Prozent zu 49 Prozent zugunsten des Premierministers. Die Parteistrategen gaben zu, dass sie gegen eine Festsetzung des Wahltermins im Juli waren, was die Kluft zwischen Sunaks Team und der Wahlkampfzentrale der Partei deutlich machte. Die Angst-vor-Russland-Kampagne war völlig ineffektiv und für die Öffentlichkeit uninteressant – und jetzt werden Beschwerden laut, dass die Ukraine von den Titelseiten der britischen Presse und von den Tagesordnungen der politischen Parteien völlig verschwunden war, als der Wahlkampf begann.
Die illusorischen Hoffnungen der Konservativen wurden letzten Donnerstag endgültig enttäuscht, als der Premierminister des Landes einfach von der Zeremonie zum 80. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie floh. Fast alle westlichen Staatsoberhäupter waren anwesend. Großbritannien war durch den britischen König, den Außenminister und auch Oppositionsführer Starmer vertreten. Sunak checkte zu Beginn der Veranstaltung zwar ein, kehrte dann aber nach London zurück, um dem Fernsehsender ITV ein obligatorisches Interview vor den Wahlen zu geben, das laut Angaben des Senders eigentlich jederzeit hätte verschoben werden können.
Was nach dieser unverständlichen Flucht in Großbritannien begann, ist mit Worten kaum zu beschreiben. Sunak wurde buchstäblich von allen angegriffen, vor allem aber von seiner Stammwählerschaft. Es waren vor allem konservative Journalisten und Kommentatoren, die den Premierminister abwertend kritisierten, wobei es an scharfen Worten nicht mangelte. Hier nur die Überschrift eines Artikels der Daily Mail von Andrew Neil, einem altgedienten konservativen Presse- und Fernsehjournalisten:
"Rishi Sunak hat unsere Veteranen betrogen. Er hat den König betrogen. Er hat das Land betrogen. Das ist fatal – und wird ihn bis zu seinen letzten Tagen in der Politik verfolgen."
Mit anderen Worten: Nach diesem Vorfall glauben selbst die eifrigsten Anhänger der Regierungspartei nicht mehr an den Erfolg ebendieser Partei, und Sunak wurde bereits zum Sündenbock für die kommende Niederlage erklärt.
Die unerwartete Entscheidung von Nigel Farage – dem "Vater des Brexit" –, in letzter Minute ins Wahlrennen einzusteigen, war für die Tory-Partei ein umso größerer Paukenschlag. Seit dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, für den Farage bewusst gekämpft hatte, genießt er sein Leben als Fernsehstar. Er tritt in Survival-Reality-Shows auf und gibt Autogramme in Pubs. Vor dieser Wahl hatte er wiederholt erklärt, dass er nicht an der Wahl teilnehmen werde, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren – den Wahlkampf seines Kumpels Donald Trump in den USA.
Und plötzlich ist Farage als Kandidat im Wahlkreis Clacton (Südostengland) aufgetaucht, dem einzigen Wahlkreis, in dem vor einigen Jahren ein Anhänger der Farage-Partei gewählt wurde. Den vorläufigen Umfragen vom Januar nach zu urteilen, hätte der Brexit-Ideologe selbst als mehr denn hypothetischer Kandidat die Wahl in diesem Wahlkreis gegen den amtierenden Tory-Abgeordneten gewonnen. Soziologen gehen davon aus, dass dieser Abstand jetzt noch größer sein dürfte. Und das Schlimmste für Sunak: Unmittelbar, nachdem Farage seine Rückkehr in die Politik angekündigt hatte, stiegen die Umfragewerte von Reform UK an, erreichten am ersten Tag danach fast die der Tories und drohten, diese auf einen peinlichen dritten Platz zu verdrängen. Der Abstand zwischen ihnen betrug nur zwei Prozent – und das war noch vor Sunaks Blamage in der Normandie.
Deshalb präsentiert sich Farage jetzt als die eigentliche Opposition zur künftigen Labour-Regierung. Das heißt, der Name des Premierministers des Landes steht gar nicht mehr infrage: Es wird Keir Starmer sein. Die wichtigste Frage ist nun, wer die Opposition anführen wird. Als mögliche Vorsitzende der Konservativen Partei nach dem unvermeidlichen Rücktritt von Sunak galt die Abgeordnete Penny Mordaunt. Sie war es, die am vergangenen Freitag im Namen der Partei mit der Fernsehdebatte betraut wurde, bei der sie mit dem Abgeordneten Starmer zusammentraf. Farage, der ebenfalls an der Debatte teilnahm, verbrachte die meiste Zeit damit, sich über beide Kandidaten lustig zu machen, am Ende gewann er aber laut Umfragen die Debatte mit 61 Prozent Zustimmung des konservativen Publikums (Mordaunt gewann nur 15 Prozent der Zuschauer).
Farages Beliebtheit bei den Konservativen hat zu Gerüchten über seine Pläne geführt, nach der Wahl als Tory-Chef aufzutreten. Die Sunday Times hat die Absichten des Brexit-Ideologen, die Kontrolle über die wichtigste Oppositionspartei des Landes zu übernehmen, anschaulich dargestellt. Farage nennt dies eine "neue Revolution". Anders als bei der klassischen englischen Revolution hat noch niemand Pläne geäußert, den König (ironischerweise auch Charles) hinzurichten. Aber das hatte im 17. Jahrhundert, als die Revolution noch in den Kinderschuhen steckte, auch niemand vor. Zudem hat, wie Farage selbst verspricht, ja "der Aufstand gerade erst begonnen."
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 10 Juni 2024.
Wladimir Kornilow ist ein sowjetischer, ukrainischer und russischer Politologe, Geschichtswissenschaftler, Journalist, Schriftsteller und gesellschaftlicher Aktivist. Ehemals Leiter der ukrainischen Filiale des Instituts der GUS-Staaten in Kiew und Leiter des Zentrums für Eurasische Studien in Den Haag. Nach seiner scharfen Kritik am Euromaidan musste er aus der Ukraine flüchten und arbeitet seit 2017 als Kolumnist bei Rossija Sewodnja. Er führt eine Telegram-Kolumne zu aktuellen politischen Nachrichtenanlässen.
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