Schwere Kämpfe um Woltschansk: Warum ist die Stadt für die Ukraine so wichtig?
Die ersten Meldungen, dass die russische Armee die nördlichen Teile der grenznahen Stadt Woltschansk im Gebiet Charkow unter ihre Kontrolle brachte, sind mehr als zwei Wochen alt. Seitdem verläuft der Vorstoß der russischen Truppen nur sehr langsam. Am Donnerstag meldete das Oberhaupt der russischen Verwaltung des Gebiets Charkow Witali Gantschew, dass die Stellungskämpfe von Straße zu Straße stattfinden und die Stadt zur Hälfte befreit sei. Der Feind versuche, einen Gegenangriff durchzuführen, und habe sehr große Reserven zusammengezogen, sagte er.
Ähnliches hat die Reportergruppe "Russischer Frühling" berichtet: "Im Woltschansker Hochhausgebiet arbeiten sowohl wir als auch der Feind in kleinen Angriffsgruppen, da der Himmel mit Drohnen bedeckt und es fast unmöglich ist, unbemerkt vorbeizukommen. Außerdem haben wir begonnen, motorisierte Fahrzeuge für eine schnelle Rotation in diesem Gebiet einzusetzen."
Dass die ukrainischen Streitkräfte sehr viel daransetzen, Woltschansk nicht nur mit allen Mitteln zu halten, sondern auch zu versuchen, einen Gegenangriff durchzuführen, berichtet der russische Militärexperte Wladislaw Schurygin. Die Ukraine habe sich in der Nähe von Woltschansk eine beeindruckende Gruppierung gebildet – bis zu 14 Brigaden, schrieb er auf seinem Telegram-Kanal. Obwohl viele von ihnen nicht vollständig seien, handele es sich dennoch um eine beeindruckende Streitmacht – bis zu 20.000 Soldaten und Offiziere. Das sei mehr als das Eineinhalbfache unserer an der Offensive beteiligten Kräfte, betonte er.
"Dieses Verhältnis hat viele Experten zu der Annahme veranlasst, dass die ukrainischen Streitkräfte hier einen Gegenschlag vorbereiten."
Dann malt der Experte folgendes Szenario aus: Sollte ein solcher Gegenschlag erfolgreich sein, könnte das Kommando der ukrainischen Armee (AFU) und die politische Führung der Ukraine behaupten, dass die AFU über ausreichende Kampffähigkeiten verfügt, um sich nicht nur hartnäckig zu verteidigen, sondern auch dem Feind einen Gegenschlag zu versetzen und die Initiative zu ergreifen. Sollte es den ukrainischen Streitkräften gelingen, die russischen Streitkräfte aus dem besetzten Gebiet der Oblast Charkow zurückzudrängen, so wäre dies ein sichtbarer militärischer Erfolg, der sowohl den Glauben der eigenen Bevölkerung an die Stärke der ukrainischen Streitkräfte als auch das Vertrauen der westlichen Verbündeten in die Entschlossenheit der ukrainischen Armee stärken würde, bis zum Ende zu kämpfen.
Auf dem Weg zu diesem Erfolg gebe es jedoch mehrere für die ukrainische Streitkräfte unlösbare Probleme.
Das erste Problem sei die Dominanz der russischen Luftwaffe, die mit ihren UMPK-Bomben in der Lage sei, ein riesiges Gebiet in wenigen Minuten plattzumachen. Der Vormarsch unter russischen Bomben sei deshalb mit zu großen Verlusten verbunden. Angesichts der russischen Überlegenheit bei der Artillerie könnte ein solcher Gegenangriff gar selbstmörderisch sein, fügt der Experte hinzu.
Gleichzeitig befinden sich im Rücken der russischen Gruppe, die Woltschansk stürmt, große Reserven, die sich nach Angaben des Feindes auf bis zu 35.000 Personen belaufen. Der Experte glaubt zu wissen, dass diese Reserven sich auf eine Offensive in den kommenden Wochen vorbereiten.
Außerdem verfüge der russische Geheimdienst bereits über detaillierte Daten über die entstehende Gruppierung – die russischen Truppen bereiten sich auf Verteidigungskämpfe vor, rüsten ihre Stellungen aus und sammeln die notwendigen Ressourcen.
Dennoch werde die ukrainische Militärführung mit General Alexander Syrski an der Spitze unter diesen Umständen die Pläne für eine "Gegenoffensive" keineswegs aufgeben – dieser brauche einen Sieg, um seinen Posten zu behalten. Laut Schurygin sind derzeit die wichtigsten NATO-Kampfplanungszentren in Europa damit beschäftigt, einen Plan zur Vertreibung der russischen Truppen aus Woltschansk auszuarbeiten, verschiedene Optionen durchzurechnen und die wahrscheinlichste auszuwählen. Das Risiko, dass der Plan nach hinten losgehen könnte, sei groß: Eine fehlgeschlagene Offensive könnte eine groß angelegte Krise der gesamten Front auslösen, denn dann würden die verschwendeten Reserven ersatzlos an einer anderen Stelle fehlen.
"Ob Syrski sich auf dieses militärische Abenteuer einlässt oder es ablehnt, wird sich in der nächsten Woche zeigen. Danach haben die ukrainischen Streitkräfte keine ernsthaften Aussichten mehr auf eine erfolgreiche Offensive in dieser Richtung."
Auch der Telegram-Kanal "Militärchronik" ist der Meinung, dass es für die AFU sehr schwierig sein wird, die Situation zu stabilisieren. Die Militäranalysten vergleichen den Kampf um Woltschansk mit den monatelangen Versuchen, den Brückenkopf im Dorf Krynki am linken Dnjepr-Ufer im Gebiet Cherson zu halten. Das kleine Stück Land war auf der einen Seite durch den Fluss und auf der anderen durch russisch besetztes Gebiet isoliert.
Wie im Fall von Krynki hat die AFU auch im Bereich Woltschansk zwei isolierte Gebiete für Kampfhandlungen erhalten. In das eine können selbst relativ kleine Truppen nicht vordringen (weil es durch den Fluss Woltschja abgeschnitten ist), und in das zweite, in dem noch Reserven vorhanden sind (dieses Gebiet liegt südöstlich von Woltschansk, zwischen Woltschansk selbst und Bely Kolodez), können sich die ukrainischen Truppen nicht sammeln und neu formieren.
"Die ukrainische Armee kann sich weder verlustfrei aus Woltschansk zurückziehen, noch kann sie die Stadt in voller Stärke halten, und bisher beschränkt sich alles auf örtlich begrenzte Versuche, Ablenkungsangriffe zu führen", urteilt der Kanal.
Woltschansk liegt im Nordosten des Gebiets Charkow und nur fünf Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Vor 2022 hatten 17.000 Einwohner in der Stadt gelebt. Nach Beginn der russischen Militäroperation war Woltschansk mehrere Monate bis Ende September unter russischer Kontrolle. Derzeit leben in der Stadt maximal 500 Einwohner. In diesen Tagen verwandelt sich Woltschansk in ein einziges Kampffeld, und es ist mit großen Zerstörungen zu rechnen. Nach Einschätzung vieler Experten besteht die russische Strategie in der Zermürbung der feindlichen Truppen, wobei die Front in der Breite ausgedehnt wird. Reservebildung und Nachschubwege werden dabei durch Fernschläge gestört und verlustreiche Kämpfe um größere Städte gemieden.
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