Europa

Kalenderblatt: Heute vor 210 Jahren zog die Armee Russlands in Paris ein

Am 31. März 1814 zogen Truppen Russlands, Preußens und Österreichs in der französischen Hauptstadt ein. Begleitet war der Einzug von Ängsten, die Napoleons Propaganda geschürt hatte. Die Realität war harmloser und heute verhalten sich französische Politiker so, als wünschten sie eine Wiederholung der Geschichte.
Kalenderblatt: Heute vor 210 Jahren zog die Armee Russlands in Paris einQuelle: Sputnik

Von Anton Gentzen 

Vielleicht ist die Erinnerung daran ja der Grund, warum ausgerechnet die Franzosen in den zurückliegenden Wochen besonders kriegerisch und russophob klangen. Auf den Tag genau vor 210 Jahren, am 31. März 1814, zogen russische Truppen in Paris ein und setzten damit den vorläufigen Schlusspunkt in dem knapp zwei Jahre zuvor von Kaiser Napoleon Bonaparte mit dem Einmarsch seiner "Grande Armee" gestarteten Versuch, das Riesenreich in die Knie zu zwingen. 

Am 23. Juni 1812 hatte Napoleon mit rund 600.000 Soldaten aus ganz Europa, darunter 150.000 Soldaten aus Preußen, Österreich, Bayern und dem Rheinbund, den Grenzfluss Memel überquert. Er wollte Russland ins Herz treffen und stieß deshalb auf Moskau und nicht auf die damalige russische Hauptstadt Sankt Petersburg vor. Den ganzen Sommer über suchte er vergeblich nach den russischen Truppen, die sich der von dem Franzosen angestrebten Generalschlacht entzogen.

Erst am 7. September fand die Schlacht von Borodino statt und forderte auf beiden Seiten hohe Verluste. Eine Entscheidung brachte sie nicht. Auch nach der Einnahme Moskaus am 14. September 1812 verweigerte Alexander I. einen Friedensschluss.

Mitte Oktober befahl Napoleon den Rückzug seiner stark geschrumpften Armee, die bis dahin bereits fast 500.000 Mann durch Tod, Verwundung und Gefangenschaft verloren hatte, aus dem abgebrannten Moskau. Die verbliebenen Soldaten, die von der russischen Armee wieder auf die verwüstete Smolensk-Route gezwungen wurden, sahen sich ständigen Angriffen ausgesetzt, was ihre Zahl weiter dezimierte. Am Ende zählte die "Grande Armee" nur noch rund 10.000 Mann. Napoleon ließ sie zurück und kehrte im Dezember mit einem kleinen Kreis nach Paris zurück.

Nach der Niederlage der "Grande Armée" in Russland begannen die Befreiungskriege. Preußen löste sich Ende Dezember 1812 aus dem Bündnis mit Frankreich, verbündete sich im Februar 1813 mit Russland und nahm im März offen den Kampf gegen Frankreich und den Rheinbund auf. Wenig später trat Schweden unter Kronprinz Karl Johann der Allianz bei.

Kriegsentscheidend wurde die Völkerschlacht bei Leipzig, wo die verbündeten russischen, österreichischen, preußischen und schwedischen Truppen Napoleon Ende Oktober 1813 eine Niederlage zufügten. 22.000 russische Soldaten blieben für immer im sächsischen Boden liegen. 

Am 31. März schließlich nahmen die verbündeten Truppen, allen voran die russischen, Paris ein und Napoleon musste am 6. April abdanken. Ein Jahr später würde er für 100 Tage aus der Verbannung auf der italienischen Insel Elba zurückkehren und bei der Schlacht von Waterloo seine endgültige Niederlage erleiden. 

Wie erlebte die französische Hauptstadt, damals mit rund 700.000 Einwohnern die wohl größte Stadt Europas, den Einzug der russischen Soldaten?

Nach kurzen, aber heftigen Gefechten am Vortag, bei denen die russische Armee fast 6.000 Mann verlor, kapitulierte die Pariser Garnison um 2 Uhr nachts. Die Kapitulation wurde in der Ortschaft La Villette unterzeichnet, damals ein Vorort, heute in das Ville-Departement eingemeindet. 

Gemäß den getroffenen Vereinbarungen sollten die französischen Einheiten die Hauptstadt um sieben Uhr morgens verlassen. Am Mittag zogen die alliierten Armeen in Paris ein und marschierten mit entrollten Fahnen feierlich durch die Straßen der Stadt, die mit neugierigen Parisern überfüllt waren. Viele Bürger kletterten auf die Dächer der Häuser, um die vorbeiziehenden Truppen zu beobachten.

Angeführt wurde die Parade von der russischen Reitergarde und den Kosaken, gefolgt von Husaren und Kürassieren der preußischen Garde, dann von Dragonern und Husaren der russischen Garde. In einiger Entfernung von der Kavallerie ritt Alexander I., zu seiner Linken der preußische König Friedrich Wilhelm III. und zur Rechten des russischen Zaren der Oberbefehlshaber der verbündeten Truppen, der österreichische Feldmarschall Carl Philipp zu Schwarzenberg.

Den Monarchen, die respektvollen Abstand hielten, folgte ein beeindruckendes Gefolge, an dessen Spitze der russische Befehlshaber Michail Barclay de Tolly, französischer Abstammung, stand, und der von Alexander I. für die Einnahme von Paris in den Rang eines Generalfeldmarschalls erhoben wurde.

Mit jedem Kilometer, mit dem sich die Parade dem Zentrum von Paris näherte, änderte sich die Stimmung in der einheimischen Bevölkerung: Pariser, die eine Vergeltung für die Verwüstung Moskaus im Jahr 1812 erwarteten, sahen, dass sich die russischen Einheiten zurückhaltend und freundlich verhielten.

Rachegelüste führten Russlands Krieger nicht im Schilde. Viele, vor allem ältere Offiziere aus dem Adel, verbanden schöne Erinnerungen mit Paris. Und generell war man in allen Rängen der Auffassung, Vergeltung für das ausgebrannte Moskau schon mit der Einnahme der französischen Hauptstadt geübt zu haben. Der russische Dichter Konstantin Batjuschkow, der 1814 dabei war, schrieb in seinen Memoiren:

"Ich gestehe, mein Herz flatterte vor Freude! So viele Erinnerungen! Verwundete russische Offiziere gingen an uns vorbei und beglückwünschten uns zu unserem Sieg. 'Gott sei Dank! Wir haben Paris mit einem Schwert in der Hand gesehen! Wir haben Moskau gerächt', wiederholten die Soldaten, während sie ihre Wunden versorgten."

Versöhnung und den Verzicht auf Rache hatte auch das von Alexander I. verfasste Manifest an die Franzosen verheißen, dass er einige Tage zuvor hat verkünden lassen: 

"Sie (die alliierten Truppen – Anm. d. Red.) sind in die Hauptstadt Frankreichs gekommen mit der Gewissheit, dass sie sich nun vollständig und für immer mit diesem Staat versöhnen können. Seit zwanzig Jahren schwimmt Europa in Blut und Tränen. Alle Bemühungen, diesem Unheil ein Ende zu setzen, waren bislang vergeblich. Nur Napoleon selbst stand zwischen den Franzosen und dem Frieden."

Doch zurück zum 31. März 1814. Weiße Fahnen der Loyalisten tauchten in der Menge auf, und die alliierten Truppen wurden mit Rufen wie "Es leben Alexander und Wilhelm" und "Es leben Russland und Preußen" begrüßt. Als sie die Champs-Élysées erreichten, hielten der russische Zar und sein Gefolge an, um die Truppen passieren zu lassen. Der Zar wurde sofort von einer riesigen Menschenmenge umringt, aus der sich einige Pariser zum Monarchen durchdrängten und ihm zujubelten:

"Wir haben die Ankunft Ihrer Majestät schon lange erwartet!"

Alexander I., der perfekt Französisch sprach, antwortete:

"Die Tapferkeit Ihrer Soldaten hat mich daran gehindert, früher zu kommen."

Dieser Ausspruch verbreitete sich sofort in der ganzen Stadt und wurde von den begeisterten Bürgern von Mund zu Mund wiederholt.

Ganz überwunden war die Angst der Einheimischen damit noch nicht. Die Pariser hatten Angst vor allem vor den Kosaken. Napoleons Propagandamaschinerie hatte sich zwei Jahre lang große Mühe gegeben, die Kosaken in den Köpfen der Franzosen von den Russen zu trennen und als schreckliche Ungeheuer und Wilde darzustellen.

Während die Russen für die französische Propaganda selbst "Barbaren des Nordens" waren, schrieb man den Kosaken zu, Kinder zu verspeisen, wie der Historiker Andrei Gladyschew in einer Studie über die Besetzung Frankreichs im Jahr 1814 schrieb. Im Jahr 1813 hatte Napoleon bei dem Beamten des Außenministeriums Charles-Louis Lezure ein Buch mit dem Titel "Geschichte der Kosaken" in Auftrag gegeben. Im letzten Teil dieser für damalige Verhältnisse gründlichen Studie wird der Kosake als "eher ein Tier denn ein Mensch, ein kriegerischer Wilder, begierig auf Beute und Zerstörung" dargestellt.

Die Zeitungen des napoleonischen Frankreichs waren voll von schrecklichen Berichten über angebliche Gräueltaten der Kosaken, die raubten, Verbrecher aus den Gefängnissen befreiten und jeden vergewaltigten, der ihnen über den Weg lief:

"Eine alte Frau wurde auf der Leiche ihres Mannes vergewaltigt, der am Tag zuvor getötet worden war. Ein anderes junges Mädchen wurde nach der Vergewaltigung mit einem Spaten getötet und starb am nächsten Tag. Ein drittes wurde nach einer Gruppenvergewaltigung in eine Luftschleuse geworfen. Ein viertes suchte vergeblich Zuflucht und Schutz in der Kirche."

Erinnert das den Leser an etwas? Die Zeiten ändern sich, nicht aber die Muster russophober Propaganda. 

Die Realität der russischen Besatzung stellte sich bald als weitaus harmloser dar. In Paris selbst wurden nur Garde-Regimenter, die diszipliniertesten von allen, stationiert und jede Disziplinlosigkeit wurde hart bestraft. Offiziere wurden in Privathäusern untergebracht, oft begleitet von Kuriositäten. So bat eine Pariser Frau den Kosaken-Ataman Matwej Platow, ihre kleine Tochter nicht zum Abendessen zu verspeisen, "weil sie noch sehr jung und ungenießbar ist".

Die Pariser, die bald erkannten, dass die Stadt nicht geplündert wird, begannen, die Fremden mit Neugier zu beobachten. Kosaken, die im Wald des Bois de Boulogne lagerten, wuschen ihre Pferde in der Seine – Gaffer aus ganz Paris strömten herbei, um sie zu beobachten. Für Aufregung sorgten die russischen Banja-Saunas, aus denen Männer nackt ins Wasser sprangen. Die Pariser Verwaltung bat, die Bäder etwas weiter in den Wald zu verlegen, um die Öffentlichkeit nicht zu sehr in Verlegenheit zu bringen.

Und die Kosaken entpuppten sich als ganz normale Menschen und verhielten sich freundlich zu den Franzosen. Pariser Kinder waren besonders angetan von ihnen und liefen ihnen nach, um sie zu imitieren.

Der französische Historiker Clyde Marleau Plumozil stellte fest, dass der Einzug der russischen Truppen in Paris nicht von Massenvergewaltigungen begleitet war. Schon bald begannen geschäftstüchtige Französinnen, die Eroberer selbst zu erobern:

"Die Prostitution in Paris blühte auf. Mit der Liebe handelten nicht nur professionelle Prostituierte, sondern auch Modeschöpferinnen, Näherinnen, Dienstmädchen und andere Bürgerliche."

Die Pariser Bourgeoisie wiederum begann bald, sich nach Kosakenart Bärte wachsen zu lassen und breite Gürtel mit daran befestigten Messern zu tragen – nach Kosakenart. Und russische Offiziere ließen sich tausendfach Kleider nach französischer Art nähen. Der Handel zwischen Besetzern und Besetzten florierte und sorgte bei französischen Kaufleuten für gigantische Umsätze.

Das russische Besatzungskorps blieb bis 1818 in Frankreich. Viele russische Generäle, die für Ordnung sorgten und die Zivilbevölkerung vor Gräueltaten schützten, erhielten von den Bürgern Medaillen oder Schwerter als Andenken. Die Armee hinterließ bei französischen Kaufleuten, Gastwirten und Handwerkern Schulden in Höhe von 1,5 Millionen Rubel – eine astronomische Summe für die damalige Zeit. Der Chef des Besatzungskorps, Graf Michail Woronzow, beglich in einer noblen Geste alle Schulden aus seiner eigenen Tasche.

Verwendet wurden Materialien aus Wikipedia sowie von gazeta.ru und Lenta.ru.

Mehr zum Thema - Das tragische Schicksal des russischen Volkes. Teil 1: Auf den Straßen von Paris; Teil 2: Die Unseren werden nicht kommen

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