Experte: Westeuropa könnte zur nächsten Ukraine degradieren
Von Timofei W. Bordatschow
Ein Nebeneffekt des tragischen ukrainischen Problems für die russische Außenpolitik ist, dass es uns hilft, den Grad des wirtschaftlichen und moralischen Verfalls zu erahnen, den unsere anderen westlichen Nachbarn erreichen müssten, um eine Bedrohung für unsere Sicherheit darzustellen. Es sind diese zwei Faktoren – Verarmung und geistiger Verfall – die eine kritische Masse schaffen, die ihr Land in einen zerstörerischen Konflikt stürzen lässt.
Wie Meinungsumfragen zeigen, verspüren die Bürger der westeuropäischen Länder in sich bisher kein aggressives Potenzial gegenüber Russland. Obwohl einige NATO-Militärs und sogar Politiker begonnen haben, die Möglichkeit eines militärischen Konflikts heraufzubeschwören, nehmen die Einwohner der europäischen Mitgliedsstaaten mehrheitlich Russland bislang nicht als Bedrohung wahr. Daher verspüren sie auch keine Aggression uns gegenüber. Dieser Zustand könnte sich jedoch ändern, und das Wichtigste ist nicht die geopolitische Lage, sondern die innere Situation unserer westlichen Nachbarn.
Der militärisch-politische Konflikt zwischen Russland und der NATO um die Ukraine wurde von einer feindseligen Rhetorik in den Medien und politischen Kreisen der westlichen Länder begleitet, die in den letzten Jahrzehnten beispiellos ist. Wir beobachteten, wie sich die Rhetorik Stufe für Stufe verschärft.
Es ist nicht schwer, die Rollenverteilung zwischen Russlands Gegnern in Europa und Nordamerika zu erkennen. Derzeit sind zum Beispiel die Vertreter militärischer Strukturen am aktivsten. Buchstäblich jede Woche wird in den Medien eine neue Erklärung eines britischen, dänischen oder niederländischen Kommandeurs über die angebliche Unvermeidbarkeit oder hohe Wahrscheinlichkeit eines bewaffneten Konflikts zwischen Russland und der NATO in den kommenden Jahren veröffentlicht.
Genauso häufig werden den westeuropäischen Medien neue "Geheimpläne" der NATO für einen Krieg mit Russland zugespielt. In der Regel sind es in Wahrheit eher schlecht für den Massenleser aufgearbeitete hypothetische Szenarien militärischer Übungsmanöver. Es stellt sich die Frage: Sollen wir das alles für bare Münze nehmen? Bislang scheinen solche Erklärungen das Element der List zu beinhalten. Zumal die Hauptverursacher der Ukraine-Krise – die Amerikaner – es vorziehen, zu diesem Thema zu schweigen und nicht mit Theorien über die Wahrscheinlichkeit eines direkten bewaffneten Konflikts mit Russland um sich zu werfen.
Für die europäischen Verbündeten Washingtons stellt sich die Situation grundlegend anders dar. Zunächst einmal handeln die militärischen und politischen Führer Westeuropas, ohne dass sie formal für ihre Worte zur Rechenschaft gezogen werden. Da alle sicherheits- und verteidigungspolitischen Entscheidungen innerhalb der NATO von den USA getroffen werden, kann jeder General oder Politiker in Europa sagen, was er will. Seine Worte bedeuten in der Praxis absolut nichts – zumal die Militärausgaben in den Händen der zivilen Behörden liegen, und diese haben es nicht eilig, Geld für militärische Übungen auszugeben.
Zweitens ist den westeuropäischen Militärs klar, dass es die Politiker nicht eilig haben, die Versprechen zu erfüllen, die sie in der Anfangsphase des Konflikts gegeben haben.
So verkündete die deutsche Bundeskanzlerin bereits im März 2022 lautstark eine Kehrtwende in der Berliner Verteidigungspolitik, eine Erhöhung der realen Rüstungsausgaben und eine Aufstockung der Streitkräfte. Bislang ist in dieser Richtung wenig geschehen, und die Lage der deutschen Wirtschaft lässt kaum neue Ausgabensteigerungen zu.
Drittens sind Journalisten ständig an dem Thema eines "möglichen Krieges mit Russland" interessiert, weil sie es als gutes Verkaufsargument für ihre Leser betrachten. Und Generäle müssen direkte Fragen beantworten, denen sie aufgrund ihrer geringen intellektuellen Flexibilität nicht geschickt ausweichen können. Und im Allgemeinen ist es nun mal ihre Aufgabe, sich auf den Krieg vorzubereiten, auch wenn sie wissen, dass sie ihn nie werden führen müssen.
Auch die Zivilisten, die mit der Steuerung des Militärs befasste Ämter übernehmen, fallen übrigens nicht weniger tollpatschig auf journalistische Köder herein. So haben Interviewer vor einigen Tagen aus dem neuen polnischen Verteidigungsminister kriegslüsterne Aussagen geradezu herausgefoltert.
Es ist anzumerken, dass Beamte, die direkt an der militärischen Planung der USA beteiligt sind, sowie Vertreter der osteuropäischen Länder in ihren Erklärungen zurückhaltender sind. Selbst Beamte und Militärs aus den ehemaligen baltischen Republiken der UdSSR haben noch keine Erklärungen abgegeben, die vergleichbar alarmierend wären wie die ihrer Kollegen in Westeuropa. Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg spricht nicht von einem direkten bewaffneten Konflikt als absehbarer Wahrscheinlichkeit.
Amerikanische Zurückhaltung und eine bessere Koordinierung zwischen den USA und denjenigen, die ihre Interessen in Europa direkt vertreten, sind hier wahrscheinlich am Werk. Natürlich können die deutschen, schwedischen, niederländischen und dänischen Generäle nicht auf dieselbe Intensität der Kommunikation mit Washington aufbauen, die Warschau hat. Und die Amerikaner selbst, das muss man ihnen zugutehalten, sind in strategischen Fragen eher zurückhaltend – trotz ihres Rufs als Hasardeure und ihres unbändigen Triebs, Russlands Geduld "vor Ort" auf die Probe zu stellen.
Die Einschätzungen der europäischen Generäle und Beamten sind noch widersprüchlicher, wenn man sie mit den Meinungen der Bevölkerung vergleicht. Die Äußerungen des Bundeswehrgenerals über die Wahrscheinlichkeit eines Krieges mit Russland wurden zusammen mit den Ergebnissen einer Meinungsumfrage veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass 71 Prozent der Deutschen Russland nicht als militärische Bedrohung ansehen.
Die jährliche Münchner Sicherheitskonferenz hat einen Bericht erstellt, der sich unter anderem mit der Einstellung der Westeuropäer zu verschiedenen Bedrohungen befasst. Russland ist in diesem Jahr auf der Liste der "Bedrohungen" auf den neunten Platz zurückgefallen. Die westeuropäische Bevölkerung hat eindeutig nicht mehr das Gefühl, dass Russland sie in irgendeiner Weise bedroht. Noch wichtiger ist, dass sie selbst keinen Grund haben, Russland gegenüber aggressiv zu sein.
Die wahren Ursachen für große bewaffnete Konflikte und insbesondere Weltkriege sind immer mit sozioökonomischen Faktoren verbunden. Damit das von Natur aus vorsichtige deutsche Volk zu einem Haufen Kannibalen werden konnte, musste es erst in der wirtschaftlichen Misere und moralischen Unterdrückung der 1920er-Jahre versinken. Davor schufen das Bevölkerungswachstum und die ungelösten sozialen Probleme der Industrialisierung die notwendige Masse an Menschen, die bereit waren, auf den Feldern des Ersten Weltkriegs zu töten und zu sterben.
Auf jeden Fall hat jede große Aggression gegen die Nachbarn eine sehr große Zahl armer und moralisch degenerierter Menschen erfordert. Das ist in etwa das, was mit der Ukraine in den 30 Jahren ihrer gescheiterten Staatlichkeit passiert ist. Mit anderen Worten: Die Fähigkeit der Westeuropäer, eine bewaffnete Aggression gegen uns zu entfesseln, hängt davon ab, wie es um ihre eigenen Angelegenheiten bestellt ist.
Deshalb ist es aus russischer Sicht jetzt von größter Bedeutung, zu beobachten, wie sich die westeuropäischen Volkswirtschaften entwickeln. Die irrationale Sanktionspolitik gegen Russland und der teilweise Abbruch der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen uns haben bereits zu schwerwiegenden Einbußen in ihren Wirtschaftszweigen geführt. Hinzu kommen die angesammelten innenpolitischen Probleme, die Konkurrenz amerikanischer und chinesischer Unternehmen und die allgemeine Rezession in der Weltwirtschaft.
So veröffentlichte eine westliche Nachrichtenagentur vor Kurzem einen Bericht darüber, dass große Produktionsunternehmen, Branchenführer, Deutschland auf der Suche nach günstigeren Standorten und Investitionsbedingungen verlassen. Andere große westeuropäische Staaten durchlaufen ihre eigenen beunruhigenden Prozesse. Wenn diese wirtschaftlichen Schwierigkeiten beginnen, das etablierte Lebensmodell auszuhöhlen, könnte die Stimmung der Bürger kippen.
Wir wissen leider nicht genau, wie die Westeuropäer auf die Verschlechterung ihrer materiellen Lage reagieren werden und wie lange die damit verbundene moralische Degenerierung dauern wird. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Welt die praktischen Folgen dieses wirtschaftlichen Niedergangs erst in 20–30 Jahren zu spüren bekommen wird. Außerdem können wir nicht mit Sicherheit sagen, dass die Verhaltensalgorithmen der Menschen in der Welt genau die gleichen sind wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Geschichte wiederholt sich nicht exakt, und so kann das Denken in Analogien zu einer Sackgasse werden, die korrektes Verständnis der laufenden Prozesse eher erschwert. Wenn wir jedoch verstehen, was am wahrscheinlichsten eine Massenaggression gegen Russland auslöst, können wir in unserer eigenen strategischen Planung zuversichtlicher sein.
Übersetzung aus dem Russischen. Dieser Artikel wurde zuerst von der Zeitung Vsgljad veröffentlicht, übersetzt und bearbeitet vom RT-Team.
Timofei W. Bordatschow (geboren 1973) ist ein russischer Politikwissenschaftler und Experte für internationale Beziehungen, Direktor des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der Wirtschaftshochschule Moskau. Unter anderem ist er Programmdirektor des Internationalen Diskussionsklubs Waldai.
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