Europa

Niederländisches Erdbeben: Triumph der PVV und die Herausforderungen für Brüssel

In den niederländischen Parlamentswahlen triumphiert überraschend die Partei für die Freiheit (PVV) unter Geert Wilders, deren Anti-Establishment-Rhetorik und Forderungen nach nationaler Souveränität für Aufsehen sorgen. Das Ergebnis signalisiert eine tiefe Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien, vor allem in Bezug auf Einwanderung und soziale Fragen.
Niederländisches Erdbeben: Triumph der PVV und die Herausforderungen für BrüsselQuelle: Legion-media.ru © Robin Utrecht/ANP/Sipa USA

Von Pierre Lévy

Ein politisches Erdbeben in den Niederlanden. Und tiefe Bestürzung in Brüssel. Dies sind die ersten Ergebnisse des Urteils der niederländischen Wähler, die am 22. November, zwei Jahre vor dem regulären Termin, zu den Urnen gerufen wurden. 77,8 % der Wähler gingen zur Wahl (gegenüber 82,6 % im Jahr 2021).

Der Triumph der Partei für die Freiheit (PVV) ist das markanteste Element der Wahl und kam für Politiker und Kommentatoren völlig überraschend. Die PVV wurde 2006 von dem ehemaligen Liberalen Geert Wilders gegründet, der heute noch der führende Kopf der Partei ist.

Er wird oft als rechtsextrem oder populistisch eingestuft, ist offen islamfeindlich und hat den Kampf gegen die Einwanderung zu seinem Steckenpferd gemacht. Er plädiert aber auch für die Wiedererlangung der nationalen Souveränität – ein Referendum über den Austritt aus der Europäischen Union steht in seinem Programm, auch wenn dieser Punkt während des Wahlkampfs kaum im Vordergrund stand. Wenn man dann noch hinzufügt, dass er die Waffenlieferungen an die Ukraine stoppen will und sich gegen die Klima-Schwarzmalerei ausspricht, wird klar, dass er die EU-Führer besonders erschreckt.

Bereits 2010, als die PVV überraschend 15,4 % der Stimmen erhielt, waren die Eurokraten ins Schwitzen geraten. Wilders unterstützte damals die erste Koalition unter dem Liberalen Mark Rutte (der mit der aktuellen Wahl seine vierte und letzte Amtszeit als Ministerpräsident beendete), ohne an der Regierung beteiligt zu sein. Im Jahr 2012 fiel die Partei allerdings auf 10,1 %, was die Mainstream-Presse auf dem alten Kontinent sofort dazu veranlasste, triumphierend zu verkünden, dass die EU wieder überall im Aufwind sei... In Wirklichkeit war dieser Rückgang vor allem auf die Konkurrenz und den Erfolg neuer Parteien, die den Austritt aus der EU forderten, zurückzuführen.

An diesem 22. November wurde die PVV zum ersten Mal stärkste Partei mit einem Ergebnis von 23,6 %, was einem Zuwachs von 12,8 Prozentpunkten im Vergleich zu 2021 entspricht. Dieser historische Erfolg lässt sich durch mehrere Faktoren erklären.

Erstens die Tatsache, dass es in den Niederlanden seit mehr als zwei Jahrzehnten eine starke Anti-System-Strömung gibt, die auch der weiteren europäischen Integration sehr misstrauisch gegenübersteht. Der Erfolg des atypischen Politikers Pim Fortuyn, der 2002 ermordet wurde, war eines der ersten sichtbaren Zeichen dafür. Besonders zu erinnern ist aber vor allem an die Ablehnung des Entwurfs des Europäischen Verfassungsvertrags wenige Tage nach dem französischen Referendum im Mai 2005 mit einem noch massiveren Nein als in Frankreich. Und elf Jahre später verärgerten die Bataver, die zum Assoziierungsvertrag zwischen der EU und der Ukraine befragt wurden, erneut Brüssel, indem sie die Ratifizierung ablehnten (eine Abstimmung, die später missachtet wurde).

Zweitens war der "populistische" Führer so geschickt, Wasser in seinen Wein zu gießen, indem er zugab, dass das Verbot des Korans und die Schließung von Moscheen keine Prioritäten seien. Gleichzeitig verstärkte er seine "soziale" Rhetorik, da er genau gespürt hatte, dass die Kaufkraft für viele seiner Landsleute die größte Sorge darstellte. Galoppierende Inflation, steigende Armut, akute Wohnungskrise, Verschlechterung des Gesundheits- und Bildungssystems: Der Wahlkampf (in dem das Klima kaum eine Rolle spielte) spiegelte die Prioritäten der Niederländer wider.

Zwei Bereiche waren für die Wähler ebenfalls motivierend. Zum einen das Gefühl, immer weniger gehört zu werden, was sich häufig in dem Wunsch äußert, die scheidenden Abgeordneten "aus dem Weg zu räumen". Andererseits die Migrationsströme. Es war übrigens dieser Bereich, der den vorzeitigen Sturz der abgewählten Koalition verursachte. Der Regierungschef hatte eine Verschärfung der Einreise- und Aufenthaltsbedingungen angekündigt, was zum Austritt von zweien der Koalitionsparteien führte. Aber auf diesem Gebiet hatte Geert Wilders zweifellos einige Längen Vorsprung...

Es gibt also einen klaren Sieger... und auch eine lange Liste von Besiegten oder Frustrierten. Allen voran die Liberale Partei (VVD) des scheidenden Premierministers Mark Rutte, mit Dilan Yeşilgöz als Spitzenkandidatin, einer Frau türkischer Herkunft, die bislang als Justizministerin ihre harte Haltung gegenüber der Einwanderung zur Schau stellte. Mit 15,2 % der Stimmen sinkt die VVD um 6,7 Prozentpunkte.

Auch seine drei ehemaligen Koalitionspartner müssen drastische Einbußen hinnehmen: Die D66, eine Partei mit libertären Ursprüngen, die nun sozialliberal ist und vor allem städtische und "gebildete" Wähler anspricht, fällt von 15 % auf 6,2 %, die Christdemokraten (CDA) von 9,5 % auf 3,3 %, und die Christliche Union (CU, protestantische Fundamentalisten) von 3,3 % auf 2 %.

Die Arbeiterpartei (PvdA, Sozialdemokraten) ging diesmal ein Bündnis mit der "Grünen Linken" ein. Die gemeinsamen Listen wurden von Frans Timmermans geleitet, der seinen Posten als Erster Vizepräsident der Europäischen Kommission (zuständig für den "Green Deal", ein Umweltfanatiker) aufgegeben hatte, um in die nationale Politik zurückzukehren. Und zwar in der Hoffnung, die VVD zu stürzen, die in den letzten 13 Jahren die verschiedenen Regierungen angeführt hat.

Zwar gewinnt das Bündnis mit 15,5 % 4,6 Punkte, wenn man die Stimmen der beiden Parteien im Jahr 2021 zusammenzählt. Das Ziel eines Wahlsiegs wurde jedoch erheblich verfehlt. Timmermans machte aus seiner Enttäuschung keinen Hehl. Die PvdA ist weit davon entfernt, ihre Werte von 1982 (30 %) oder sogar von 2012 (25 %) zu erreichen.

Die SP ihrerseits, die oft als "radikale Linke" eingestuft wird, muss sich mit 3,1 % begnügen, der Hälfte ihres Ergebnisses von 2001.

Zwei Listen ziehen ebenfalls die Aufmerksamkeit auf sich. Erstens die von Pieter Omtzigt, einem Dissidenten der Christdemokraten, geführte Liste, die sich in ihrer Kampagne auf "gute Regierungsführung" konzentrierte, insbesondere öffentliche Skandale, wie die ungerechtfertigte Streichung von Sozialleistungen für Zehntausende von armen Familien, angeprangert hatte. Seine Positionierung gegen Korruption und das System hatte den Politiker der "rechten Mitte" sogar eine Zeit lang an die Spitze der Umfragen katapultiert.

Ohne ein Gegner der EU zu sein, lobte er indes die ungarischen oder polnischen Führer dafür, dass sie die nationale Souveränität "zum Thema machten", lehnte jede "progressive Übertragung von Subsidiarität, Befugnissen und Budgets" ab und befürwortete ein Vetorecht der nationalen Parlamente – eine Forderung, die den EU-Verträgen widerspricht. Seine Bewegung (Neuer Gesellschaftsvertrag, NSC), die 2021 noch nicht existierte, erreicht 12,8 % und den vierten Platz.

Eine weitere neu entstandene Partei ist die BBB (Bürgerliche Bauernbewegung), die 4,7 % erreicht, während sie vor zwei Jahren noch bei 1% lag. Das ist zwar weit entfernt von ihrem Ergebnis bei den Regionalwahlen im März, wo sie eine riesige Überraschung hervorrief, als sie vor allen anderen Parteien landete. Aber ihr Hauptthema, die Ablehnung der europäischen Umweltauflagen, die zum Verschwinden von fast 12.000 Bauernhöfen und Hunderttausenden von Rindern führen werden, bleibt, auch außerhalb der ländlichen Gebiete, populär.

Wie geht es jetzt weiter? Das niederländische Verhältniswahlrecht ohne Mindesthürde ermöglicht die Vertretung einer großen Anzahl von Parteien im Abgeordnetenhaus (16 diesmal). Diese Zersplitterung macht eine Vielzahl von Koalitionen möglich. Klassischerweise werden daher viele Monate benötigt, um eine Regierung zu bilden.

Zwei Arten von Szenarien scheinen denkbar. Das Logischste wäre, dass die PVV eine Koalition bildet, da sie als erste und große Gewinnerin aus den Wahlen hervorgeht. Geert Wilders bestätigte, dass er sehr gern im nächsten Kabinett mitarbeiten würde, ohne jedoch zu sehr darauf zu bestehen, dessen Vorsitzender werden zu wollen. Er könnte sich ein Bündnis mit der liberalen VVD oder Omtzigts NSC vorstellen, oder am besten mit beiden, flankiert von der BBB.

Die Liberalen schlossen während des Wahlkampfs ein Bündnis mit dem "populistischen" Führer trotz vergangener Konflikte nicht aus ‒ sie hatten aber wohl nicht damit gerechnet, dass dieser die Nase vorn haben würde. Pieter Omtzigt, der die Tür ursprünglich geschlossen hatte, ist seinerseits nicht mehr so kategorisch. Die BBB hat bereits zugestimmt.

Das andere Szenario sieht eine "große Koalition" vor, die Wilders fernhalten soll. Mehrere Konstellationen sind möglich, aber dieses Bündnis würde wahrscheinlich von den Sozialdemokraten angeführt werden. Diese Aussicht würde die EU-Führer natürlich freuen.

Aber sich so demonstrativ gegen das Wahlergebnis zu stellen, würde die Distanz zu oder sogar die Ablehnung des "Systems" und der europäischen Integration nur noch verstärken und damit zukünftige, noch größere "böse Überraschungen" vorbereiten.

Unabhängig davon, welche Koalition gebildet wird, erlebt Brüssel bereits ein Albtraum-Szenario: Eines der sechs Gründungsmitglieder der EU hat eine Partei gewählt, die fordert, "die Kontrolle zurückzugewinnen" (ein Ausdruck, der bei den Eurokraten sehr unangenehme Erinnerungen weckt...), und zwei neue Parteien ins Leben gerufen, die auf der dringenden Notwendigkeit bestehen, gewisse nationale Kompetenzen zurückzuholen.

Wird Brüssel diese Botschaft verstehen wollen?

Mehr zum Thema - Geert Wilders‘ PVV Wahlsieger: "Wir haben das mit drei Euro pro Kampagne geschafft, ohne Werbespots"

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.