Europa

SPD-Außenpolitiker fordert Engagement in Armenien – EU hat kein Interesse

Laut dem Bundestagsabgeordneten und Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth, verliere die EU aktuell ihre Kraft als "demokratisches Bollwerk" und "Friedensstifter".
SPD-Außenpolitiker fordert Engagement in Armenien – EU hat kein InteresseQuelle: www.globallookpress.com © M. Popow/imago-images

Angesichts der Brandherde in der Ukraine und im Nahen Osten scheinen die Europäische Union (EU) und ihre Mitgliedsstaaten den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan aus den Augen verloren zu haben. Der Bundestagsabgeordnete und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth (SPD), kritisierte diese Entwicklung. Im Interview mit dem Deutschlandfunk forderte Roth für den Südkaukasus mehr Aufmerksamkeit und mehr Engagement.

Als Grund für die fehlende Aufmerksamkeit führte Roth die fehlende Einigkeit der Mitgliedsstaaten an, was dazu führe, dass die EU irrelevant werde und ihre Kraft als "demokratisches Bollwerk" und "Friedensstifter" verliere. Armenien, eine "junge, fragile Demokratie" brauche aber die Unterstützung durch die EU gegenüber Aserbaidschan, einem "autoritären Regime", das bereit sei, seine Interessen mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Mit Georgien als letztem freundlichen Nachbarn in der Region suche die Führung Armeniens nun nach neuen Partnern, betonte Roth. In erster Linie müsse die EU jetzt zeigen, dass sich Armenien zu einem "Anker der Stabilität und Demokratie im Südkaukasus" entwickeln könne.

Als erste Maßnahme forderte Roth, die zivile Mission der EU an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze, bestehend aus 100 Personen, "massiv" auszubauen. Aktuell biete die Mission den Armeniern nur ein minimales Gefühl von Sicherheit, werde Aserbaidschan aber "hoffentlich" von einem Angriff abhalten. Als zweite Maßnahme forderte Roth ein humanitäres Hilfspaket, das die Flüchtlinge aus Bergkarabach dringend bräuchten. Als dritte Maßnahme forderte Roth, dass die EU Armenien militärisch unterstütze, da das Land Aserbaidschan auf diesem Gebiet völlig unterlegen sei. Frankreich habe dies im kleinen Umfang bereits getan.

Strategisch einzigartige Chance für EU

Auch eine Liberalisierung von Visaabkommen könnte eine Option sein, so Roth, die Hauptsache sei, dass Armenien vonseiten der EU mehr Aufmerksamkeit erhalte. Sich allein auf die aktuellen Konflikte wie in der Ukraine oder Israel zu konzentrieren, hält Roth laut eigener Aussage für keine Option. Europäische Außen- und Sicherheitspolitik bedeute, einen Beitrag zu Frieden und Stabilität auf dem Kontinent zu leisten. Im Südkaukasus erreiche man das nur durch mehr Präsenz. Gegenüber Aserbaidschan müsse man eine "andere Gangart" einlegen. Nur weil Baku über Gasvorkommen verfüge, können es sich nicht alles erlauben.

Ähnliche Forderungen hatte Roth auch am 29. September im Interview mit dem Tagesspiegel gestellt. Der Politiker wies damals darauf hin, dass Baku nach der Eroberung Bergkarabachs in der Lage bleiben werde, militärische Fakten zu schaffen. Bei Aserbaidschans Präsident, Ilham Alijew, habe man es mit einem autoritären Herrscher zu tun, der keine Zeit am Verhandlungstisch verschwenden wolle. Der EU unterstellte Roth hingegen ein Versagen in ihrer Nachbarschaftspolitik. Statt es eines Rings stabiler Staaten stehe man inmitten eines Feuerrings mit vielen potenziellen und tatsächlichen Konflikten. Hier müsse man endlich "radikal" umdenken.

Nachdem Russland als Schutzmacht Armeniens weggefallen sei, habe die EU nun eine "strategisch einzigartige Chance", und in einem von der EU moderierten Friedensprozess müssten Deutschland und Frankreich noch mehr Verantwortung übernehmen, sagte Roth dem Tagesspiegel. Man müsse zudem bereit sein, gegen Aserbaidschan Wirtschaftssanktionen zu verhängen und Energieverträge zu suspendieren, um deutlich zu machen, dass "wir eine solche Aggression nie wieder tolerieren werden." Der Ausfall von Aserbaidschans Erdgas sei hingegen verkraftbar.

Reaktionen auf Bakus Militäroffensive

Doch Europa hatte offensichtlich kein Interesse an der Beteiligung an einem Friedensprozess im Kaukasus. In Brüssel, Paris und Berlin blieb es relativ still, als Baku am 19. September eine Militäroffensive in Bergkarabach begann. Nach Jahrzehnten des schwelenden Konflikts hatte es nur einen Tag gedauert, bis die pro-armenischen Kämpfer ihre Kapitulation erklärten. Die Auflösung der Republik Bergkarabach wurde für den 1. Januar 2024 verkündet. Rund 120.000 Armenier flohen daraufhin aus der Region nach Armenien.

Aufseiten der EU und ihrer Mitgliedsstaaten zeigte man sich zwar besorgt und Bundeskanzler Olaf Scholz sagte am Rande des Europa-Gipfels am 5. Oktober, er unterstütze EU-Ratspräsident Charles Michel dabei, rasch Gespräche zwischen Armenien und Aserbaidschan zu organisieren. Zu einem Treffen, bei dem die Europäer an einem Tisch mit Aiserbaidschans Präsident gesessen hätten, kam es seither aber nicht.

Was blieb, war eine gemeinsame Erklärung von Scholz, Macron, dem armenischen Premierminister Paschinjan und Michel, die vor allem die Situation der Flüchtlinge ansprach. Kommissionspräsidentin von der Leyen kündigte an, die Hilfe für Armenien von 5,2 Millionen Euro auf 10,4 Millionen Euro plus 15 Millionen Euro Soforthilfe anzuheben. Am 16. Oktober besuchte Alijew die Stadt Füzuli in Bergkarabach und erklärte bei der feierlichen Veranstaltung das Thema des Konflikts in der Region für endgültig abgeschlossen.

Strafmaßnahmen gegen Baku zu verhängen, schien für niemanden eine Option zu sein. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte sogar explizit, für Sanktionen sei es noch nicht an der Zeit. Gegenüber dem Deutschlandfunk erklärte Roth zu den ausbleibenden Reaktionen der EU und der Bundesregierung, man hätte Aserbaidschan mit Sanktionen drohen müssen. Aufgrund der Uneinigkeit der EU sei dies jedoch nicht erfolgt. Dabei war man sich im Gegenteil in Europa sehr einig darin, dass man nicht noch einen Energielieferanten verlieren wollte.

Verdopplung von Bakus Erdgaslieferungen bis 2027

Aserbaidschans Präsident war erst im März zu einem Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz nach Berlin gereist. Scholz sprach bei dem Treffen über die Bedeutung Aserbaidschans für die Diversifizierung von Deutschlands und Europas Versorgung mit Erdgas. Aserbaidschan hatte Scholz als "Partner von wachsender Bedeutung" bezeichnet. EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen hatte sich zuvor ähnlich positiv geäußert. Nach einem Treffen mit Alijew in Baku im Juli 2022 schrieb von der Leyen auf X, die EU wende sich vertrauenswürdigen Energielieferanten zu, von denen Aserbaidschan einer sei.

Diese optimistischen Äußerungen fielen, nachdem beide Seiten eine Vereinbarung unterzeichnet hatten, die vorsieht, die bisherigen Gaslieferungen zu verdoppeln und den südlichen Gaskorridor der EU auszubauen. Das Ziel: 20 Milliarden Kubikmeter aserbaidschanisches Erdgas pro Jahr für die EU ab 2027. Im Jahr 2022 lieferte Baku 11,4 Milliarden Kubikmeter Erdgas. 

Die Gefahr, dass Baku "im Windschatten" des Ukraine- und Nahost-Konflikts, wie Roth im Deutschlandfunk warnte, erneut seine Ziele militärisch vorantreiben könnte, bleibt in der Tat erhalten. Dass die EU aktiv wird und Roths Forderung auf der Plattform X folgt, jetzt "den Turbo einzulegen", um Armenien auf dem Weg in Richtung EU zu helfen, scheint hingegen wenig aussichtsreich. Falls Aserbaidschan in absehbarer Zeit eine Landbrücke durch Armeinen zu der Autonomen Republik Nachitschewan schlagen wird, den Sangesur-Korridor, werden weder Brüssel, noch Paris oder Berlin vermittelnd eingreifen. Irgendjemand muss schließlich die fehlenden Erdgaslieferungen aus Russland ersetzen.

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