Europa

Unberechenbar - Europas Gasmarkt gleicht einer Achterbahn

Europa ist mit einer Achterbahn auf dem Gasmarkt konfrontiert. Die Gaspreise springen hin und her, sogar an ein und demselben Tag. Diese Woche gab es wieder Preisschwankungen: Der Preis fiel an einem Tag um 25 Prozent, am nächsten stieg er erneut um 10 Prozent. Was ist da los auf dem europäischen Gasmarkt?
Unberechenbar - Europas Gasmarkt gleicht einer AchterbahnQuelle: Legion-media.ru © Wirestock

Eine Analyse von Olga Samofalowa

Die Börsenpreise für Gas in Europa weisen eine ungewöhnliche Dynamik auf. Zunächst stiegen sie sprunghaft an, und zwar um fast 25 Prozent an nur einem Tag. Am nächsten Tag, dem Dienstag, stiegen sie weiter und lagen kurzzeitig über 335 US-Dollar pro tausend Kubikmeter. Kurz darauf, am Vormittag desselben Tages, begannen sie jedoch stark zu fallen, und zwar um fast 10 Prozent. Tausend Kubikmeter kosteten nun weniger als 300 US-Dollar. Und am späten Dienstagnachmittag sank der Preis auf 280,30 US-Dollar pro tausend Kubikmeter, also um 55 Prozent.

Was war da los auf dem europäischen Gasmarkt? Tatsächlich war nichts Außergewöhnliches passiert, was die Preiserhöhungen erklären könnte. Allerdings haben Analysten folgende Gründe vermutet: Erstens wird erwartet, dass die geringe Gasnachfrage in Europa durch eine steigende Nachfrage ersetzt wird, was zu höheren Preisen führt. Zweitens wird die Nachfrage sowohl in Europa als auch in Asien steigen, was bedeutet, dass beide Märkte um die LNG-Mengen (Flüssigerdgas) konkurrieren werden und der knappe Rohstoff im Preis steigen wird. Schließlich befindet sich Deutschland offiziell in einer Rezession, und auch die anderen Länder der Eurozone können sich nicht mit einer wachsenden Wirtschaft rühmen.

All diese Fundamentaldaten könnten wahr sein. Und langfristig würden sie tatsächlich zu einem allmählichen Anstieg der Gaspreise auf dem Spotmarkt in Europa führen. Sie erklären jedoch nicht den kurzfristigen Preisanstieg von 25 Prozent.

Was war also passiert? Es gibt zwei mögliche Erklärungen: Erstens hat die Gasbranche heftig auf die Entscheidung der OPEC+ reagiert, die Produktion noch weiter zu drosseln. Dies könnte letzten Endes zu einer Verknappung des schwarzen Goldes und zu höheren Preisen geführt haben. Außerdem sind langfristige LNG-Verträge häufig an die Ölpreise gekoppelt, sodass einige Erdgaskäufer begonnen haben könnten, Gas auf dem Spotmarkt zu kaufen, was die Börsenpreise in die Höhe getrieben hat. So zumindest lautet die von Bloomberg vorgetragene Version.

Gleichzeitig sind die meisten Verträge auf dem Spotmarkt aber eher kurzfristig und nicht an den Ölpreis gekoppelt. Und genau das war der Zweck der Liberalisierung des Spotmarktes durch die europäischen Aufsichtsbehörden – die Abschaffung der langfristigen Verträge und Abhängigkeiten vom Erdöl, wie sie bei Gazprom der Fall waren. Wofür das Unternehmen von den europäischen Beamten ständig kritisiert wurde.

Eine zweite Interpretation der Lage kommt von Konstantin Simonow, dem Leiter des Nationalen Energiesicherheitsfonds. Er sagte:

"Der europäische Gasmarkt wird einfach spekulativ, ähnlich wie der Ölmarkt, der in verschiedene Richtungen schwanken kann. Solche Preisspitzen sind die Folge von Spekulationsspielen. Die Europäische Kommission hat diesen Markt selbst geschaffen, und jetzt müssen die Europäer damit leben."

Igor Juschkow, Experte an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation und des Nationalen Energiesicherheitsfonds, bezeichnet den Handel auf dem Gasmarkt als eine Art Börsenhandel. Jeder wolle verdienen, also gebe es auch eine spekulative Logik. Die Unternehmen selbst hätten in Erwartung eines besseren Preises massenhaft ihre Gaseinkäufe eingestellt. Deshalb seien die Preise jetzt gefallen. Juschkow weiter:

"Und jetzt warten die Spekulanten auf den richtigen Moment, um weitere Gas-Termingeschäfte zu einem günstigeren Preis zu kaufen. Und um sie zu verkaufen, sobald der Preis wieder steigt."

Die Tatsache, dass die Preise gleich am nächsten Tag nach einem Anstieg um 25 Prozent um 10 Prozent fielen, deutet darauf hin, dass einige Spekulanten Wertpapiere abgestoßen haben, um Gewinne aus dem Preisanstieg mitzunehmen.

Das ist ein relativ neues Phänomen in der EU. Früher war der Spotmarkt klein und die Preise schwankten nicht so stark. Russisches Gas, das im Rahmen langfristiger Verträge mit relativ vorhersehbaren Preisen über Pipelines geleitet wurde, hat derart drastische Preisschwankungen verhindert. Nun seien die Pipeline-Volumina von Gazprom um fast 130 Mrd. Kubikmeter gesunken, verglichen mit beispielsweise 2021, als 160 Mrd. Kubikmeter im Rahmen langfristiger Verträge geliefert worden seien, so Juschkow weiter. Der Anteil der kurzfristigen Verträge an den europäischen Importen sei indes gestiegen; folglich habe sich die spekulative Börsenkomponente erhöht und die Volatilität sei gewachsen. Der Experte führt weiter aus:

"In dieser Hinsicht war Gazprom tatsächlich eine Art fundamentaler Faktor, der den Markt weitgehend stabilisierte. Denn Gazprom garantierte ein beliebiges Volumen an Lieferungen. Es war ein garantierender Lieferant. Jetzt gibt es ihn nicht mehr, sodass die Risiken für die europäischen Unternehmen größer geworden sind."

Im Ergebnis haben die Europäer einen freien, liberalisierten Gasmarkt erhalten, so wie sie es sich gewünscht und worauf sie abgezielt haben. Die einzige Sache ist, dass sie nun dafür bezahlen müssen. Im vergangenen Jahr lagen die Gaspreisschwankungen zwischen 300 und 2.000 US-Dollar. Im Jahr 2023 haben sich die Gaspreise dann innerhalb weniger Monate mehr als halbiert – von 700 bis 800 US-Dollar auf jetzt weniger als 300 US-Dollar. Und das ist noch nicht das Ende. Juschkow geht davon aus, dass die Preise sich verdoppeln könnten – auf 600 US-Dollar –, sobald die Region von sommerlichen Hitzewellen heimgesucht wird, wie es im letzten und vorletzten Sommer der Fall war. Der Experte unterstreicht:

"Der Wetterfaktor wird zu einem der wichtigsten Faktoren für die Gaspreise. Wenn es eine Hitzewelle gibt, steigen die Preise. Wenn es keinen Wind gibt, steigen die Preise sogar noch mehr."

Wenn das Wetter dagegen windig sei, arbeiteten die Windparks effizienter und produzierten mehr Energie – was bedeute, dass weniger Gas verbraucht werde. Die Nachfrage nach Gas sinke, die Gaspreise gingen zurück, so Juschkow.

Ein weiterer Faktor ist der Wettbewerb mit Asien um LNG. Normalerweise steigt die Gasnachfrage in Europa und Asien zur gleichen Zeit. Und sie beginnen einen Preiskampf, um die knappen LNG-Tanker zu ergattern. Dies treibt die Preise auf beiden Märkten in die Höhe. Auch das sei für die Europäer die neue Normalität, so Juschkow. Sobald die Gaspreise in Asien um zwei Millionen britische Wärmeeinheiten oder mehr stiegen, ließen die LNG-Lieferanten die Europäer im Stich und lieferten die Ware nach Asien.

Jede schlechte makroökonomische Statistik – eine Rezession, ein Rückgang der Industrieproduktion – wird sich auch in den Preisen an der Gasbörse niederschlagen. Juschkow kommt zu dem Schluss:

"Mit anderen Worten: Europa hat sich einen eigenen Gasmarkt geschaffen, auf dem der Preis von unberechenbaren Spekulanten, von unberechenbarem Wetter, von der Situation in Asien, von der eigenen Wirtschaft und Geopolitik abhängt."

Warum aber war die Europäische Kommission so scharf darauf, einen Markt zu schaffen, der höchst unbeständig, unberechenbar – und überteuert – ist? Weil sich die europäischen Beamten geirrt haben: Sie malten ein rosiges Bild in ihren Köpfen, aber in Wirklichkeit wurden ihre Erwartungen nicht erfüllt. Igor Juschkow weist darauf hin, dass die Europäerdavon ausgegangen seien, dass all dies vor dem Hintergrund eines Überangebots auf dem Markt erfolgen würde. Aber in der Praxis habe sich herausgestellt, dass der Markt im Gegenteil ein Defizit an LNG aufweise.Der Experte schlussfolgert:

"Die Europäer haben dieses Marktmodell in dem Glauben aufgebaut, dass es einen Käufermarkt geben würde und die Verkäufer um den Markt konkurrieren würden. Letztlich ist aber das Gegenteil eingetreten: Die Verbraucher konkurrieren um die auf dem Markt verfügbaren Mengen. Und dieses Marktmodell wird noch lange Zeit Bestand haben."

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen auf Wsgljad.

Olga Samofalowa ist eine russische Journalistin.

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