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Überläufer, Proteste, Befehlsverweigerung – Chaos in der ukrainischen Armee nimmt zu

Wegen schlechter Militärführung und Verachtung für die Untergebenen kommt es in der ukrainischen Armee immer wieder zu Beschwerden und Dienstverweigerung. Im Hinterland protestieren die Frauen der Frontsoldaten, und es werden immer wieder Überläufer auf die russische Seite gemeldet.
Überläufer, Proteste, Befehlsverweigerung – Chaos in der ukrainischen Armee nimmt zuQuelle: AFP © Anatoly Stepanow

Von Wladislaw Sankin

Der Chef der Wagner-Gruppe Jewgeni Prigoschin teilte am Samstag in einer an Wladimir Selenskij adressierten Ansprache von einer Meuterei im ukrainischen Frontabschnitt nahe Artjomowsk mit. "Sie schmeißen die Waffen hin und gehen weg", sagte er über ukrainische Soldaten und fügte hinzu: "Lassen Sie sie noch leben! Töten Sie nicht Tausende und Zehntausende Ukrainer mit ihren Händen!"

Eine Meuterei in der ukrainischen Armee? Die Aussagen des Wagner-Chefs kann und muss man natürlich mit Vorsicht genießen. Prigoschin hat sich zu einem selbständigen Akteur im russischen patriotischen militärnahen Umfeld entwickelt und kann seine eigene Agenda verfolgen. "Trollen" und "Kriegs-PR" beherrscht er gut.

Aber bislang hat Prigoschin seine zahlreiche Behauptungen und Forderungen stets mit Belegen und Fakten untermauert. Auch hat er entgegen der in großen Teilen der russischen "Kriegsgesellschaft" vorherrschenden Ansicht, die Ukraine sei endgültig am Verlieren, die Kampfstärke der ukrainischen Armee betont.

Belege für Prigoschins Fakten kommen nun von den ukrainischen Soldaten selbst. So beschwerten sich Soldaten der 129. Brigade der Territorialverteidigung aus Kriwoi Rog (der Heimatstadt Selenskijs) in einer Videobotschaft, dass sie ohne Unterstützung mit schweren Waffen, Artillerie, Aufklärung, Versorgung und Kommunikationsmitteln von ihren Kommandeuren an die vorderste Front geschickt worden waren. Dort waren sie unter starken russischen Beschuss geraten und hatten starke Verluste ohne ausreichende Evakuierungsmöglichkeit erlitten. Sie drücken ihr Misstrauen gegenüber ihrer Militärführung aus.

In Kriwoi Rog sammelten sich die Angehörigen der Soldaten vor der Einberufungsbehörde für Proteste und skandierten "Schande". Die Demonstranten entrollten ein Transparent, das den Leiter der Militärverwaltung von Kriwoi Rog, Alexander Wilkul, kritisierte. Darauf stand: "Verkauft alles und jeden für Geld. Adresse: Wilkul und Co". Gemeint waren Korruption und Bereicherung an Kampfmitteln – einer der Gründe für die schlechte Versorgung der Territorialverteidigung. Ähnliche Proteste hatte es vorher in den Städten Poltawa und Charkow gegeben.

Die Territorialverteidigung ist für die ukrainischen Streitkräften mit ihren bis zu 200.000 Mobilisierten zu einer wahren Fundgrube für Kanonenfutter in den schwersten Militärabschnitten geworden. Der Vorteil: In diesen Einheiten, die zu Beginn der russischen Militäroperation im Eiltempo wie Pilze aus dem Boden als unterstützende Paramilitärs entstanden sind, dienen in der Regel die motivierteste Kämpfer. Auch deren Soldaten aus Kriwoi Rog schlossen ihre Beschwerde mit dem energischen Nazi-Schlachtruf "Ruhm der Ukraine! Ruhm den Helden!"

Diese Menschenressource scheint aber schon ausgeschöpft zu sein. Im ganzen Land veranstalten die Einberufungsbeamte auf Straßen und sonstigen öffentlichen Plätzen regelrechte Jagd auf Männer. Oft kommt es zu Handgreiflichkeiten und Verfolgungsjagden, wozu es zahlreiche Videobeweise im Netz gibt. Die Motivation schwankt und es tauchen wieder Meldungen über Übertritte der ukrainischen Soldaten auf die russische Seite.

So läuft laut dem Mitglied der Verwaltung des Gebiets Saporoschje Wladimir Rogow das ukrainische Militär im Frontabschnitt Saporoschje in großem Umfang zu Russland über. Er teilte RIA Nowosti mit:"Solche Fälle kommen in letzter Zeit besonders oft vor. Die Menschen wollen nicht länger für das Selenskij-Regime kämpfen."

Neulich hätten acht Armeeangehörige aus Saporoschje, die Teil der 110. Brigade der Territorialverteidigung der ukrainischen Armee waren, ihre Waffen niedergelegt und sich freiwillig ergeben, so Rogow. Kiew sei sich der prorussischen Ansichten der Bewohner im von der Ukraine kontrollierten Teil des Gebiets Saporoschje bewusst, fügte er hinzu. Daher werde das Militärpersonal aus den westlichen ukrainischen Regionen dorthin verlegt.

Während die Soldaten immer weniger bereit sind, für die Selenskij-Regierung zu sterben, fordert der stellvertretende Außenminister der Ukraine und Ex-Botschafter in Deutschland Andrei Melnyk die westlichen Verbündeten der Ukraine nun auf, für einen sicheren ukrainischen Sieg Kiews "noch in diesem Jahr" Waffenlieferungen mit einem Prozent ihres Bruttoinlandproduktes zu finanzieren. Er schrieb:

"Wir sind unseren Verbündeten für ihre militärische Hilfe dankbar. Aber: Sie ist nicht genug. Die Ukraine braucht zehnmal mehr, um die russische Aggression in diesem Jahr zu beenden. Daher fordern wir unsere Partner auf, alle künstlichen roten Linien zu überschreiten und ein Prozent des BIP für Waffen für die Ukraine aufzuwenden."

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.