"Alles Russische auslöschen": Ukraine stellt ihre Pläne für die Krim vor
Vor einer Woche hatte der Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates, Alexei Danilow, den 12-Punkte-Plan der ukrainischen Regierung für die "Reintegration" der Halbinsel Krim nach deren "Rückeroberung" vorgestellt. Nun legte Selenskijs Sicherheitsberater Michailo Podoljak nach und erläuterte die Absichten Kiews in einem Interview für den US-finanzierten Radiosender Radio Swoboda (ein ukrainischer Ableger des Radio Free Europe / Radio Liberty).
Was beide verkünden, verheißt für die ethnisch russische Mehrheit der Krim-Einwohner nichts Gutes: Vertreibung seit 2014 Zugezogener, Strafen für den Bezug russischer Dokumente bei den Alteingesessenen, komplette Streichung von Renten für "Kollaborateure", Verbot des russischen Sprachunterrichts und der Nutzung des Russischen in der Öffentlichkeit.
Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass ethnische Russen spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die relative Bevölkerungsmehrheit auf der Krim stellten, seit etwa 1950 gar die absolute. Schon in der allerersten allrussischen Volkszählung des Jahres 1897, als die Krim etwas mehr als eine halbe Million Einwohner zählte, bezeichneten sich 180.000 der Befragten als "Großrussen", nur 64.000 als "Kleinrussen" (die damals übliche Bezeichnung für Ukrainer).
Bei der Volkszählung des Jahres 1959, kurz nachdem Chruschtschow die Halbinsel der Ukrainischen Teilrepublik übertragen hatte, stellten Russen 71,4 Prozent der Bevölkerung der Halbinsel, Ukrainer 22,3 Prozent. Die Anteile verschoben sich seitdem zwar durch verstärkten Zuzug vom "ukrainischen Festland", die Russen blieben jedoch die absolute Mehrheit der Krim-Bewohner: 1989 bezeichneten sich fast 1,63 Millionen der bei der letzten sowjetischen Volkszählung Erfassten als Russen (67,05 Prozent), 626.000 als Ukrainer (25,75 Prozent). Und bei der einzigen von der unabhängigen Ukraine durchgeführten Volkszählung des Jahres 2001 war der Anteil der Russen auf 60 Prozent, derjenige der Ukrainer auf 24 Prozent gesunken.
Kiew plant nun offenbar, diese Verhältnisse radikal zu verändern. Doch wie?
Auf den prominenten ersten Platz seiner Liste setzte Danilow die Tilgung jeder Erinnerung an die russische und sowjetische Geschichte der Halbinsel durch Umbenennung von Städten, Straßen und Plätzen sowie den Abriss von Denkmälern. Als Beispiel nannte Danilow das Denkmal für versunkene Schiffe in Sewastopol, das nach seinen Worten abgerissen und durch Obszönitäten ersetzt werden soll. Sewastopol selbst, das unter diesem Namen einen festen Platz in Lehrbüchern der ganzen Welt gefunden hat, soll umbenannt werden. Letzterer Maßnahme ist ein eigener Punkt des Maßnahmenkatalogs, Nummer 12, gewidmet.
Punkt 2 ist die Strafverfolgung aller "Kollaborateure". Auch ohne Gerichtsentscheidung sollen alle Krim-Bewohner auf Zusammenarbeit mit der "russischen Besatzungsmacht" durchleuchtet ("lustriert") werden. Als Sanktionen schwebt Danilow der Verlust von Bürgerrechten, wie dem Wahlrecht, und zwar ausdrücklich für "jede Form der Unterstützung der Okkupationsverwaltung" vor.
Alle Staatsbediensteten, die schon vor 2014 im Staatsdienst tätig waren, sollen als "Landesverräter" behandelt werden. Punkt 3 von Danilows Maßnahmenkatalog sieht neben der Strafverfolgung dieser Personen die Streichung ihrer Renten und ein lebenslanges Beschäftigungsverbot vor. Die Punkte vier und fünf befassen sich mit ähnlichen Maßnahmen für Journalisten, Erzieher und weitere Berufsgruppen.
Punkt 6 sieht die Deportation aller Russen vor, die nach Februar 2014 auf die Halbinsel gezogen sind.
In Punkt 7 werden alle zwischenzeitlichen Rechtsgeschäfte und Verträge für ungültig erklärt. Danilow betont, dass alles nach russischen Gesetzen erworbene Eigentum der Konfiskation unterliegt. Punkt 8 sieht die Sprengung der Krim-Brücke vor. Punkte 9 bis 11 widmen sich der "Umerziehung" der Krim-Bewohner.
Das 12-Punkte-Programm sei von den Mitarbeitern des Nationalen Sicherheitsrates unter Mitwirkung zahlreicher Experten vorbereitet worden, schreibt Danilow.
Am Mittwoch dieser Woche legte Selenskij-Berater Podoljak in einem Interview für denselben Radiosender Punkte, die Danilow offenbar vergessen hatte, nach. Darin zeigte sich Podoljak siegessicher:
"Wir werden definitiv in sehr kurzer Zeit auf der Krim sein, aus historischer Sicht ist das sehr kurz ‒ sechs Monate, fünf Monate, sieben Monate. Vielleicht ist das zu optimistisch, aber es ist ein Optimismus, der mathematisch verifiziert ist. Ich wiederhole: Russland verfügt nicht über ausreichende Ressourcen, um die Situation zu halten. Die Logik des Krieges ist absolut offensichtlich, und wir werden mit Ihnen definitiv schon bald über die Realitäten der Krim am Strand von Jalta sprechen."
Im weiteren Verlauf des Interviews bestätigt der Präsidentenberater die zwölf Punkte von Danilow und äußert sich zusätzlich zur Zukunft der russischen Sprache auf der Halbinsel. Seine Aussage hierzu ist unmissverständlich:
"Sobald wir die Krim betreten, müssen wir alles Russische auf ihr auslöschen."
Er fährt fort:
"Wir müssen dort alles, was mit dem russischen Kulturraum zu tun hat, vollständig schließen. Wir müssen alles Russische ausrotten. Es darf dort nur die ukrainische Kultur oder die globale Kultur geben. Wir werden keinen Dialog darüber führen, ob eine Person das Recht hat, die russische Sprache zu benutzen oder nicht. Bitte benutzen Sie sie zu Hause, aber sie ist kein Druckmittel, kein Protestmittel, kein Erpressungsmittel."
Russland werde für die Ukrainer immer der Feind bleiben, argumentiert Podoljak. Daher hat seiner Meinung nach niemand auf der Krim das Recht, etwas zu fordern. Das Verdikt für alle Minderheitenrechte des Beraters des ukrainischen Präsidenten:
"'Ich möchte moderne russische Literatur lesen, Dostojewski, Jessenin', 'ich möchte Russisch sprechen', 'ich möchte russische Filme sehen'. Wenn jemand auf der Krim nicht nach den Gesetzen und Regeln der Ukraine leben will, muss er freiwillig gehen."
Etwas konkreter als Danilow fasst Podoljak zudem, was Kiew unter strafbarer "Kollaboration" versteht:
"Viele Menschen müssen für den Wechsel ihres Passes vom ukrainischen auf einen russischen rechtlich bestraft werden."
2023 werde, sagt Podoljak, für die Krim ein "schweres Jahr" werden. Es werde schwer sein, die "russische Welt" auszumerzen.
Die Reaktionen auf die nun durch ukrainische Offizielle verkündeten Absichten fallen unterschiedlich aus. Während der russische Gouverneur von Sewastopol, Michail Raswoschaew, abwinkt und auf journalistische Nachfrage sagt, man dürfe Ankündigungen ukrainischer Politiker nicht ernst nehmen, bedanken sich Befragte in Straßenumfragen in Sewastopol bei den beiden Ukrainern: Sie fühlen sich nun daran erinnert, warum sie sich im Frühjahr 2014 von der Ukraine gelöst haben und wovor sie jetzt die Halbinsel zu verteidigen haben. Der im spanischen Exil lebende ukrainische Journalist und Politiker Anatoli Scharij wundert sich darüber, warum solche Ansagen jetzt gehäuft kommen. Irgendein Wissen, vermutet er, gibt den Verkündern der Hiobsbotschaften das Gefühl, dass sie wegen ihrer klaren Zeitprognosen nicht bald schon ausgelacht werden.
Anfang Februar warnte der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrats, Dmitri Medwedew, die ukrainischen Behörden, dass ein möglicher Angriff auf die Krim eine Eskalation des Konflikts bedeuten würde. Er forderte Kiew auf zu verstehen, dass solche Aktionen mit "unvermeidlichen Vergeltungsmaßnahmen" unter Einsatz jeglicher Art von Waffen beantwortet werden würden.
Die Halbinsel Krim gehörte seit 1774 zu Russland. Sie war in der Folgezeit Schauplatz zahlreicher Kriegsereignisse: im Krimkrieg (1853-1856), als Russland Sewastopol gegen eine britisch-französische Expedition verteidigen musste, im russischen Bürgerkrieg und im Zweiten Weltkrieg. Nach der russischen Revolution 1917 war die Halbinsel bis 1956 eine autonome Republik im Bestand der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. 1956 erzwang der damalige Generalsekretär der KPdSU ihre Übertragung in den Bestand der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, offiziell als Geschenk aus Anlass des 300. Jahrestages der Wiedervereinigung Russlands und der Ukraine. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es auf der Krim Bestrebungen, wieder zu Russland zu gehören. Der damalige russische Präsident Boris Jelzin ignorierte diese Bestrebungen, obwohl die ukrainische Führung ihm inoffiziell ihre Bereitschaft dazu mitteilen ließ. Nach dem Sieg des nationalistischen Maidan im Februar 2014 wurde auf der Krim und in der Sonderverwaltungszone Sewastopol ein international nicht anerkanntes Referendum über die Unabhängigkeit von der Ukraine und den Beitritt zur Russischen Föderation durchgeführt, das am 18. März 2014 vollzogen wurde.
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