Genozid in Galizien: Wie die russische Identität in der Westukraine ausgelöscht wurde
Von Dmitri Plotnikow
Galizien, ein geschichtsträchtiges Gebiet im Westen der Ukraine, ist derzeit das Zentrum der nationalistischen Bewegung des Landes. Allerdings waren die Dinge einst ganz anders. Vor etwas mehr als hundert Jahren konkurrierten Vertreter gegensätzlicher politischer Bewegungen, Russophile und Pro-Ukrainer, um die Loyalität der einheimischen ruthenischen Bevölkerung, der Russynen.
Die Russophilen in Galizien begrüßten den Beginn des Ersten Weltkriegs als einen Schritt in Richtung einer erwarteten Wiedervereinigung mit Russland. Die ukrainische Bewegung aber blieb Österreich-Ungarn gegenüber treu. Mit deren Hilfe eliminierte Wien die ruthenischen Intellektuellen, die es als "fünfte Kolonne" – sprich: Landesverräter – betrachtete. Um dies zu verwirklichen, richteten die Habsburger Konzentrationslager ein.
Und was dann geschah, entspricht einem Völkermord.
Der Anfang der Tragödie
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs mussten die Russophilen in Galizien schwere Zeiten durchmachen. Infolge der österreichischen Politik des "Teilen und Herrschen" kam es zu einer Spaltung der Bewegung. Die ältesten und angesehensten Organisationen gerieten in die Hände von pro-österreichischen Führern, die eine ukrainische und nicht eine ruthenische Identität propagierten.
Nachdem die Armee des Russischen Reiches am 18. August 1914 die Grenze überschritten und eine Offensive in Galizien lanciert hatte, kam es in der Region zu massiven Repressionen. Die Menschen fielen dem Zorn der österreichischen Behörden wegen Kleinigkeiten zum Opfer – wie zum Beispiel dem Besitz russischer Literatur, der Zugehörigkeit zu einer russischen Gesellschaft, dem Besitz eines russischen Schuldiploms oder der bloßen Sympathie für Russland. In einigen Fällen wurden Menschen verhaftet, nur weil sie sich als Russen bezeichneten. Die Gefängnisse waren voll von sogenannten "Staatsfeinden" und "gefährlichen Moskauer Agenten" während die Straßen von Galgen gesäumt waren.
"Die der 'Russophilie' verdächtigten wurden an Bäumen vor den Fenstern der Häuser gehängt. Sie hingen dort einen Tag lang an den Bäumen, dann wurden sie heruntergeholt und andere kamen an die Reihe", erzählte einer der Bauern aus dem Bezirk Gorodetskij. Die Unterdrückung betraf vor allem die Intellektuellen und die orthodoxen Priester, von denen die meisten ihre Studien im russischen Reich abgeschlossen hatten.
Der Unterdrückung gegen die Intellektuellen folgten solche gegen die breite Öffentlichkeit. Verdächtig wurde jeder, der mit Russland oder der russischen Kultur sympathisierte. Dies betraf Personen, die einst Russland bereist hatten, russische Zeitungen lasen oder einfach nur als russophil bekannt waren. Die Militärgerichte arbeiteten rund um die Uhr und für Fälle von mutmaßlichem Hochverrat wurde ein vereinfachtes Gerichtsverfahren eingeführt.
Die Mitglieder der galizischen Bewegung der Russynen, die den "ukrainischen Weg" wählten, beteiligten sich tatkräftig an der Unterdrückung. Pro-österreichische Politiker erstellten Listen mit "unzuverlässigen" Verdächtigen, die auf bloßen Anschuldigungen beruhten, und verhafteten jeden, der mit Russland sympathisierte. Ilya Terech, eine russophile Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, schrieb: "Zu Beginn des Krieges verhafteten die österreichischen Behörden fast alle russischen Intellektuellen in Galizien und Tausende von Bauern auf der Grundlage von Listen, die den Verwaltungs- und Militärbehörden von den Befürwortern der Ukraine übergeben wurden."
Menschen, die sich als Russen verstanden oder einfach einen russischen Namen trugen, wurden willkürlich verhaftet.
"Jeder, der eine russische Zeitung, ein Buch, eine heilige Ikone oder auch nur eine Postkarte aus Russland besaß, wurde festgesetzt, misshandelt und abtransportiert. Darauf folgten dann Hinrichtungen ohne Ende, mit tausenden von unschuldigen Opfern, einem Meer von Blut der Märtyrer und von den Tränen der Waisenkinder", überlieferte ein weiterer Russophiler, Yulian Yaworskij.
Im Oktober 1914 schrieb der russische Schriftsteller Michail Prischwin, der als medizinischer Assistent an der Front diente, in sein Tagebuch: "Als ich in Galizien ankam sah ich die lebendigen Bilder aus der Zeit der Inquisition." Prischwin beschrieb die Gefühle der galizischen Russynen gegenüber Russland wie folgt: "Galizier träumen von einem großen, reinen und schönen Russland. Ein siebzehnjähriger Schuljunge, der akzentfrei Russisch sprach, ging mit mir durch Lwow (das heutige Lviv und damalige Lemberg). Er schilderte mir die Unterdrückung der russischen Sprache. Den Schülern war es nicht einmal erlaubt, eine Landkarte von Russland zu besitzen, und vor dem Krieg wurde er dazu gezwungen, Bücher von Puschkin, Lermontow, Tolstoi und Dostojewski zu verbrennen."
Die Hölle auf Erden
Die Gefängnisse in Galizien waren nicht groß genug, um alle Festgenommenen unterzubringen. Allein in Lwow befanden sich am 28. August 1914 zweitausend Gefangene. Daher beschlossen die österreichischen Behörden, Konzentrationslager einzurichten. Im September 1914 wurde in der Steiermark die riesige Haftanstalt Thalerhof eröffnet. Die ersten Häftlinge kamen dort am 4. September an. Gemäß der Aussage eines Überlebenden, des Pfarrers Theodor Merena, handelte es sich bei den Gefangenen um "Menschen unterschiedlichen Standes und Alters". Unter ihnen waren Geistliche, Juristen, Ärzte, Lehrer, Beamte, Bauern, Schriftsteller und Studenten. Das Alter der Gefangenen reichte von Säuglingen bis zu Greisen.
Gelegentlich kamen auch ukrainische Aktivisten, die dem österreichischen Regime treu ergeben waren, in den Thalerhof. Sie wurden jedoch meist rasch wieder freigelassen. Einer erinnerte sich später daran, dass alle Gefangenen die Möglichkeit hatten, freizukommen, indem sie ihren russischen Namen niederlegten und sich als "Ukrainer" in die "Ukrainische Liste" eintragen ließen.
Bis zum Winter 1915 gab es im Thalerhof keine Baracken. Die Menschen schliefen trotz Regen und Frost unter freiem Himmel auf dem Boden. Die sanitären Verhältnisse im Lager waren katastrophal und unmenschlich.
Die Latrinen waren nicht zugedeckt und wurden nicht selten von zwanzig Personen auf einmal benutzt. Nachdem Baracken errichtet worden waren, überfüllten sich diese und beherbergten statt der vorgesehenen 200 Personen bis zu 500 Insassen. Die Gefangenen schliefen auf Stroh, das nur selten ausgetauscht wurde. Selbstverständlich waren dadurch Epidemien weit verbreitet. Allein in den zwei Monaten nach November 1914 starben über dreitausend Häftlinge an Typhus.
"Nur selten trat der Tod im Thalerhof auf natürliche Weise ein – er wurde injiziert, durch das Gift der Infektionskrankheiten. Auch gewaltsamer Tod war im Thalerhof an der Tagesordnung. Von einer Behandlung der Kranken konnte keine Rede sein. Selbst die Ärzte waren den Gefangenen gegenüber feindselig eingestellt", schrieb der inhaftierte Schriftsteller russynischer Abstammung, Vasily Vavrik. Keiner der Häftlinge erhielt eine angemessene medizinische Versorgung. Anfänglich gab es im Thalerhof nicht einmal ein Krankenhaus und die Menschen starben auf dem feuchten Boden. Als die Krankenhausbaracken schließlich errichtet wurden, verwehrten die Ärzte den Patienten so gut wie jede medizinische Behandlung.
Um Angst zu verbreiten, errichteten die Gefängnisbehörden im ganzen Lager Galgen, an denen sie regelmäßig "Gesetzesbrecher" aufhängten. Bei den Vergehen konnte es sich um bloße Kleinigkeiten handeln, wie zum Beispiel in der Baracke nachts geraucht zu haben. Zur Bestrafung wurden auch eiserne Fesseln verwendet, selbst bei Frauen. Darüber hinaus war das Lager von Stacheldraht, Wachtürmen, aggressiven Hunden, Plakaten mit Propaganda-Parolen, Foltereinrichtungen, einem Graben für Hinrichtungen, Galgen und einem angrenzenden Friedhof umgeben.
Dieses Lager war drei Jahre lang in Betrieb und wurde im Mai 1917 auf Anordnung von Karl I. von Österreich aufgelöst. Die Baracken blieben aber bis 1936 auf dem Gelände stehen, bis sie schließlich abgerissen wurden. In der Folge wurden 1767 Leichen exhumiert und in ein Gemeinschaftsgrab im nahe gelegenen Dorf Feldkirchen überführt.
Die genaue Zahl der Opfer im Thalerhof ist bis heute umstritten. Dem offiziellen Bericht von Feldmarschall Schleer vom 9. November 1914 zufolge, waren zu diesem Zeitpunkt 5700 Russophile dort inhaftiert. Laut einem der Überlebenden waren es im Herbst desselben Jahres etwa 8000 Gefangene. Zwanzig- bis dreißigtausend russische Galizier und Bukowiner gingen insgesamt durch den Thalerhof. Alleine in den ersten anderthalb Jahren starben etwa 3000 Häftlinge. Anderen Quellen zufolge wurden in der ersten Hälfte des Jahres 1915 bereits 3800 Menschen hingerichtet. Im Verlauf des Ersten Weltkriegs töteten die österreichisch-ungarischen Behörden insgesamt mindestens 60.000 Russynen.
Die Erinnerung an die Vergessenen
In der Periode zwischen den beiden Weltkriegen bemühten sich die ehemaligen Häftlinge, die Erinnerung an die Tragödie zu verewigen, die den galizischen Ruthenen widerfuhr, und sie bemühten sich, die Erinnerung an die Opfer von Thalerhof aufrechtzuerhalten. Die erste Gedenkstätte wurde 1934 errichtet, und schon bald entstanden ähnliche an anderen Orten der betreffenden Region. In den Jahren 1924 bis 1932 wurde der Thalerhof-Almanach veröffentlicht. Darin sind Dokumente und Augenzeugenberichte des Völkermordes zusammengefasst. In den Jahren 1928 und 1934 wurden in Lemberg Thalerhof-Kongresse mit über 15.000 Teilnehmern abgehalten.
Im Jahr 1939 wurde Galizien Teil der UdSSR. Noch vor der Sowjetzeit gab es ein stillschweigendes Verbot über das Thema Thalerhof zu sprechen, denn allein die Tatsache, dass es in Galizien Russen gab, wurde als Hindernis für die Ukrainisierung angesehen, die in der Westukraine nach dem Zweiten Weltkrieg aktiv vorangetrieben wurde. Nach der Eingliederung von Galizien und Wolhynien in die UdSSR wurden die meisten russophilen Organisationen in Lemberg aufgelöst. Nichtsdestotrotz fanden die Gedenkveranstaltungen an den Gedenkstätten weiterhin statt. Mit dem Älterwerden und dem Tod der Zeitzeugen wurde eine neue Generation von Galiziern im Geiste des Atheismus erzogen, die eine ukrainische nationale Identität annahm. Infolgedessen kamen immer weniger Menschen zu den Gedenkveranstaltungen.
In der heutigen Ukraine gibt es keine öffentliche Diskussion über den Völkermord an den Russynen. Kein einziges Schulbuch über die Geschichte des Landes erwähnt den Thalerhof. Die Vorstellung, dass in Galizien – dem stolzen Zentrum der "ukrainischen Kultur" – einst Russen lebten, passt nicht in die nationalistische Ideologie der heutigen Ukraine. Und die meisten jungen Menschen haben noch nie etwas von Thalerhof gehört.
Die Tragödie war ein Wendepunkt der russophilen Bewegung in Galizien. Alle Menschen, die sich nicht unterordneten und keine ukrainische Identität annahmen, wurden physisch beseitigt. Nur wenige Jahre nach den tragischen Ereignissen änderte sich bereits die öffentliche Meinung und die Region geriet unter den Einfluss anderer Bewegungen und Politiker. Als dann Österreich-Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg zerfiel, entwickelte sich Galizien zu einem starken Zentrum der ukrainischen nationalistischen Bewegung.
Übersetzt aus dem Englischen.
Dmitri Plotnikow ist ein politischer Journalist, der sich mit der Geschichte und den aktuellen Ereignissen der ehemaligen Sowjetstaaten beschäftigt.
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