Europa

Die Nord-Stream-Anschläge – kein Interesse an Aufklärung

Der neueste Bericht des legendären und renommierten investigativen Journalisten Seymour Hersh scheint frühere Verdächtigungen zu bestätigen, dass die USA hinter der Zerstörung der Pipelines stecken. Die Dementis Washingtons ändern daran nichts.
Die Nord-Stream-Anschläge – kein Interesse an AufklärungQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO/Chris Emil Janssen

Von Glenn Diesen

Im vergangenen September wurden die Gaspipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 zwischen Russland und Deutschland gesprengt. Dies war ein Angriff auf eine europäische Infrastruktur, auf die europäische Energiesicherheit – und auch auf die Umwelt, da große Mengen Erdgas in die Ostsee strömten.

Das unmittelbare reflexartige Argument der westlichen politischen Medienmeute war, dass wahrscheinlich Moskau seine eigenen Pipelines gesprengt habe, obwohl Nord Stream eine wichtige Einnahmequelle für Moskau darstellte und man durch die Pipelines auch einen gewissen politischen Hebel gegenüber Brüssel in der Hand hielt. Anstatt Beweise oder eine nachvollziehbare Motivation vorzulegen, behauptete man, all dies sei Teil des mythischen "russischen Spielbuchs".

Im ganzen kollektiven Westen wurde man als Hausierer von Verschwörungstheorien und als russischer Propagandist verschrien, wenn man es bloß wagte zu behaupten, die USA würden von dieser neuen Situation profitieren. In einer ultimativen Demonstration der Blockdisziplin – oder des Stockholm-Syndroms – konnten die US-Amerikaner die Zerstörung der Pipelines öffentlich bejubeln, während die Westeuropäer jede Anschuldigung gegen ihren Verbündeten inbrünstig als Desinformation anprangerten. Der Vorfall geriet vorerst in Vergessenheit, da die Meute der politischen Medien kein Interesse an einer offenen Untersuchung hatte und mit der Zeit das öffentliche Bewusstsein vernebelt wurde.

Seymour Hersh, der investigative Journalist, der die Vertuschung des US-Massakers von Mỹ Lai im Jahr 1968 in Vietnam und den Skandal rund um das Gefängnis Abu-Ghraib im Irak im Jahr 2004 aufgedeckt hat, veröffentlichte diese Woche einen Bericht, in dem die USA für den Angriff auf die Nord-Stream-Pipelines verantwortlich gemacht werden. Wird der Bericht dazu führen, dass dem Angriff die ernsthafte Debatte und Untersuchung zuteil wird, die er verdient, oder wird man versuchen, dem zuvorzukommen, indem man Hersh als einen alten, senilen "Putinisten" verunglimpft

Das US-Interesse an der Zerstörung von Nord Stream 2

Die historischen Befürchtungen Washingtons über die wirtschaftliche Integration zwischen Deutschland und Russland wurden mit den Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 Wahrheit, indem billige Energie direkt zwischen den beiden europäischen Giganten transportiert werden konnte. Die USA äußerten sich bemerkenswert offen zu ihrem Wunsch und ihrer Absicht, das deutsch-russische Pipeline-Projekt zu verhindern. Washington widersetzte sich jahrelang dem Bau von Nord Stream 2, verurteilte Deutschland für seine Beteiligung daran und sanktionierte sogar europäische Unternehmen, die sich an diesem Projekt beteiligten.

Die RAND Corporation veröffentlichte 2019 eine Denkschrift im Auftrag der US-Armee, mit Strategien zur Schwächung Russlands. Die Energiekooperation zwischen Berlin und Moskau wurde als eine wichtige Quelle der wirtschaftlichen Einnahmen und des Einflusses Russlands in Europa identifiziert, und der Bericht befürwortete, dass "ein erster Schritt darin bestehen müsste, Nord Stream 2 zu stoppen". Im Juli 2020 warnte der damalige US-Außenminister Mike Pompeo:

"Wir werden alles tun, um sicherzustellen, dass diese Pipeline Europa nicht bedroht."

Nord Stream 2 wurde im Zuge des sich verschärfenden Konflikts um die Ukraine immer wieder aufs Neue bedroht. US-Senator Tom Cotton erklärte im Mai 2021, dass "noch Zeit ist, das Projekt zu stoppen. Beenden wir Nord Stream 2 jetzt und lasst es unter den Wellen der Ostsee vor sich hin rosten". Am 14. Januar 2022 erklärte der Nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan: "Wir haben den Russen klar gemacht, dass die Pipeline gefährdet ist, wenn sie weiter in die Ukraine vordringen." Am 3. Februar forderte Senator Ted Cruz das Ende von Nord Stream 2:

"Diese Pipeline muss gestoppt werden, und die einzige Möglichkeit, ihre Fertigstellung zu verhindern, besteht darin, alle dafür verfügbaren Instrumente einzusetzen."

Am 7. Februar 2022 stand Präsident Biden direkt neben Bundeskanzler Scholz im Weißen Haus, als er warnte, dass es "kein Nord Stream 2 mehr geben wird, wenn Russland in die Ukraine einmarschiert. Wir werden dem ein Ende bereiten". Auf die Frage eines Journalisten, wie er etwas verhindern wolle, dass unter deutscher Kontrolle steht, antwortete Biden: "Ich verspreche Ihnen, wir sind in der Lage, das zu tun." Auch die Unterstaatssekretärin für Strategie und Politik im US-Außenministerium, Victoria Nuland, wiederholte diese Drohung:

"Ich möchte ganz klar sagen: Wenn Russland auf die eine oder andere Weise in die Ukraine einmarschiert, wird Nord Stream 2 nicht vorankommen."

Am 26. September 2022 nahmen die Drohungen Gestalt an, indem die deutsch-russischen Nord-Stream-Pipelines bei zwei Unterwasserexplosionen zerstört wurden. Am darauffolgenden Tag, dem 27. September 2022, nahmen Führungskräfte aus Polen, Norwegen und Dänemark an einer Zeremonie in Polen teil, um die Eröffnung der neuen norwegisch-polnischen Pipeline durch die Ostsee zu feiern, mit der die Abhängigkeit von Nord Stream ersetzt werden soll.

Unmittelbar nach dem Angriff auf Nord Stream twitterte der ehemalige polnische Außenminister Radosław Sikorski "Danke, USA", begleitet von einer Luftaufnahme ausströmenden Gases an der Oberfläche der Ostsee. US-Außenminister Antony Blinken argumentierte kurz darauf unmissverständlich, dass die Zerstörung von Nord Stream "eine enorme Chance" darstelle. Es sei eine großartige Gelegenheit, die Abhängigkeit von russischer Energie ein für alle Mal zu beseitigen. Blinken bot auch an, Westeuropa zu unterstützen, indem man das russische Gas durch das – viel teurere – US-amerikanische Fracking-Gas ersetzen würde. Kürzlich legte auch Victoria Nuland während einer Senatsanhörung noch einen drauf, indem sie sagte: "Senator Cruz, wie Sie bin ich – und ich denke, die Regierung ist – sehr erfreut zu wissen, dass Nord Stream 2 jetzt, wie Sie es gerne formulieren, ein Stück Metall auf dem Meeresgrund ist."

Die Untersuchung des Angriffs

Die USA haben jede Beteiligung an der Zerstörung von Nord Stream zurückgewiesen und stattdessen mit dem Finger auf Moskau als wahrscheinlichen Schuldigen gezeigt. Russland hat keinen Zugang zu den schwedischen Ermittlungen erhalten, und dann gab es den seltsamen Vorfall, dass Stockholm sich sogar weigerte, seine Untersuchungsergebnisse mit Deutschland und Dänemark zu teilen, da diese Ergebnisse als "zu heikel" eingestuft wurden.

Die Medien waren auch sehr fleißig dabei, Washingtons Narrativ zu verteidigen. Ein Beispiel: Als Professor Jeffrey Sachs während eines TV-Interviews die USA beschuldigte, die Pipeline sabotiert zu haben und dabei als Beweis Radaraufzeichnungen erwähnte, wurde er umgehend vom Moderator abgewürgt und aus der Live-Schalte geworfen.

Diese Woche also veröffentlichte Seymour Hersh seinen investigativen Bericht mit dem Titel "How America Took Out The Nord Stream Pipeline" (Wie Amerika die Nord-Stream-Pipeline ausschaltete). Hersh zitiert eine Quelle innerhalb des US-Geheimdienstes, die sehr genaue Details über die Entscheidungsfindung und den Vorgang der Zerstörung der Pipeline lieferte. Angeblich wurden die USA von Norwegen beim Angriff auf die Pipelines unterstützt. Der Bericht von Hersh hat Moskaus Forderungen nach Offenheit und sein Beharren darauf, dass die Schuldigen bestraft werden müssen, erneuert.

Die Behauptungen im Bericht von Hersh basieren auf einer einzigen Quelle und sind keine harten Beweise, obwohl der Bericht sicherlich eine Debatte und eine Untersuchung rechtfertigt. So oder so verdienen wir es zu wissen, wer dafür verantwortlich war.

Aus dem Englischen.

Glenn Diesen ist Professor an der Universität von Südost-Norwegen und Redakteur des Journals Russia in Global Affairs. Man kann ihm auf Twitter unter @glenn_diesen folgen.

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