Europa

Wird die Westukraine an Polen abgetreten? – Die Pläne von Polens Ex-Außenminister Sikorski

Die Behauptung des polnischen Ex-Außenministers Radosław Sikorski, wonach sein Land möglicherweise einen Einmarsch in die Westukraine geplant hatte, sorgte für Unmut der Regierung in Warschau. Eine Annexion westukrainischer Gebiete durch Polen ist indessen nicht ausgeschlossen.
Wird die Westukraine an Polen abgetreten? – Die Pläne von Polens Ex-Außenminister SikorskiQuelle: Legion-media.ru © Hakan Gider

Von Geworg Mirsajan

Polens ehemaliger Außenminister Radosław Sikorski hat behauptet, dass Warschau eine Annexion der Westukraine in Erwägung gezogen hatte. Und auch wenn die amtierende polnische Regierung ein Dementi fordert, gibt es Anzeichen dafür, dass Sikorski Warschaus tatsächliche Pläne laut aussprach. Wie und unter welchen Umständen könnten diese Träume Polens wahr werden?

Es wird immer offensichtlicher, dass die Ukraine als ungeteilter Staat keine Zukunft hat. Selbst wenn das Kiewer Regime durch irgendeinen Zufall einen Großteil seines Gebiets behält, was wird es mit seiner Wirtschaft tun?

Das BIP des Landes sank 2022 um 31 Prozent. Diese Zahl wird voraussichtlich wachsen. Teilweise wegen andauernder Kampfhandlungen, teilweise, weil das Kiewer Regime einen Teil seiner Regionen für immer verlor. Einen weiteren Teil wird es wahrscheinlich in Zukunft verlieren.

Die Kosten der beschädigten Infrastruktur betragen 85 Prozent des BIP. Das Haushaltsdefizit betrug im Jahr 2022 astronomische 20 Prozent – in einfacheren Worten, das Land lebte komplett durch Zuwendungen von außen. Und das wird es weiterhin tun – Wirtschaftswissenschaftler sagen für das Jahr 2023 ein Haushaltsdefizit von 15 Prozent des BIP voraus, und das ist noch eine optimistische Prognose.

Indessen handelte es sich bei Weitem nicht bei allen Zuwendungen von außen um freiwillige Opfergaben des kollektiven Westens zur Rettung des Kiewer Regimes. Ein bedeutender Teil bestand aus Krediten, die zurückgegeben werden müssen. Freilich ist der nominelle Umfang der Staatsschulden nicht kritisch, auch wenn sie 2022 um fast 37 Prozentpunkte wuchsen und 80 Prozent des BIP betrugen. Doch der Anteil bezieht sich auf das nominale BIP, das de facto nicht existiert.

Und im Grunde gibt es keine Mittel, diese Schulden zu begleichen – weder jetzt noch in übersehbarer Zukunft. Schon bei gegenwärtiger Schuldenbelastung wird Kiew allein für die Bedienung der souveränen Auslandsschulden 5,4 Milliarden US-Dollar im Jahr 2024 und sieben Milliarden US-Dollar im Jahr 2025 zahlen müssen. Kein Wunder, dass die Ratingagentur Fitch die Ukraine als kurz vor dem Staatsbankrott einstufte.

Indessen handeln die internationalen Kreditoren nach dem Prinzip "Die Eiserne Bank bekommt stets, was ihr zusteht". Niemand hat vor, die Schulden der Ukraine (oder was von ihr übrig bleibt) zu erlassen, erst recht nicht nach dem Ende des russischen Militäreinsatzes, wenn die Hilfe für das Kiewer Regime aus der Mode kommt. Und dann ergibt sich die Frage, wie Kiew die jetzigen Schulden begleichen wird.

Die im Grunde einzige Antwort lautet: durch Naturalienzahlungen. Zum Beispiel durch Unternehmen, die zum Ende der Militäroperation noch in Betrieb sind, durch Objekte der Infrastruktur oder durch Land.

Beispiele für solche Zahlungen existieren bereits. So werden manchmal Naturalienzahlungen an China von Ländern entrichtet, die aus unterschiedlichen Gründen die von der Volksrepublik geliehenen Mittel nicht zurückzahlen können. Schließlich zahlt Tadschikistan mit seinen Goldminen, Sri Lanka mit einem Marinestützpunkt und Montenegro mit einem Hafen.

Eine solche Praxis wurde vom Westen mit der Behauptung scharf kritisiert, dass Peking seine Schuldnern in Knechtschaft nehme. Doch es wird wohl kaum jemand die westlichen Länder kritisieren, wenn sie den chinesischen Weg einschlagen. Quod licet Iovi, non licet bovi.

Es ist indessen nicht ausgeschlossen, dass die Naturalienzahlungen der Ukraine auf ein neues Niveau kommen werden. Sie könnte ihre Schulden nicht durch Verpachtung von Landstücken und Bodenschätzen begleichen, sondern durch eine endgültige Abgabe von Territorien an die Nachbarn. Und Polen ist der erste Kandidat für eine derartige Annexion.

Man könnte sich fragen, weshalb – Warschau ist gar nicht der Hauptkreditgeber der Ukraine und gibt offiziell nicht so viel Geld, wie Lwow oder Iwano-Frankowsk wert sind. Doch es gibt einige Argumente zugunsten dieser Version.

Zuallererst ist es Polens großer Wunsch. Warschau hält die westukrainischen Gebiete für urpolnische Territorien und ist bereit, sie bei der erstbesten Gelegenheit zurückzuholen. Das jüngste Anzeichen dafür wurde die Erklärung des ehemaligen Außenministers von Polen. Sikorski versicherte, dass Polens Regierung die westukrainischen Gebiete gleich nach Beginn der Militäroperation hatte annektieren wollen. Auf eine Frage, ob Warschau eine Annexion der Westukraine in Erwägung zog, antwortete er:

"Es gab einen Moment der Unsicherheit zu Beginn des Krieges, als wir nicht wussten, wie er verlaufen wird und ob die Ukraine möglicherweise fällt."

Natürlich reagierte die amtierende polnische Regierung auf Sikorskis Worte mit Zorn und Verratsvorwürfen. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sagte:

"Radosław Sikorskis Behauptungen unterscheiden sich in nichts von russischer Propaganda. Der ehemalige Außenminister muss seine Worte abwägen. Ich erwarte, dass er diese schandhafte Behauptungen dementiert."

Dennoch kann es keinen Zweifel geben, dass Polen einen zweiten Anlauf nehmen wird wenn das Kiewer Regime im Verlaufe der Militäroperation fällt. Ob seine Truppen dann angeblich zum Schutz der Bewohner vor Russen, lokalen Nationalisten oder Reptiloiden einmarschieren, ist unwichtig. Hauptsache, die Gebiete kommen wieder unter polnische Hoheit.

Wenn das Kiewer Regime aber überlebt und die Militäroperation durch ein Abkommen beendet wird, in dessen Rahmen ein Teil der ehemaligen Ukraine (beispielsweise ein Teil des rechten Dnjepr-Ufers) unter Kiewer Hoheit verbleibt, wird Polen nach anderen Varianten zur Legitimierung der Annexion suchen müssen. Und gerade hier kommt das Thema der Schulden auf, wobei Polen sich im Austausch gegen Territorien verpflichten könnte, die ukrainischen Kredite an die USA zurückzuzahlen.

Es besteht kein Zweifel, dass sich die USA an einem solchen Prozess beteiligen würden. Es ist kein Geheimnis, dass Washington Warschau als seinen Hauptverbündeten und Mitstreiter in Europa sieht. Daher werden die USA nicht dagegen sein, Polens politisches und wirtschaftliches Gewicht auf Kosten ukrainischer Gebiete zu vergrößern. So verbindet sich der große polnische Wunsch nach einer Annexion mit der Bereitschaft der USA, Warschau dabei zu unterstützen. Hinzu kommt die Spezifik des Kiewer Regimes, das Polen jetzt schon besondere Vollmachten auf ukrainischem Territorium einräumte, etwa das Recht, polizeiliche Aufgaben auszuüben.

Die Völkerrechtlerin und Dozentin der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen Föderation Kira Sasonowa erklärte der Zeitung Wsgljad:

"Einerseits ist allein der Diskurs, wonach die USA Polen einen Teil der Ukraine übergeben, ungewöhnlich, zumal wir von nominal souveränen Staaten sprechen. Andererseits ist im Lichte des zunehmenden Souveränitätsverlusts der Ukraine eine Situation vorstellbar, bei der sie angeblich freiwillig (und faktisch unter starkem äußerem Druck) einen Teil ihres westlichen Gebiets abtritt."

Nach Sasonowas Meinung ist es aus völkerrechtlicher Perspektive nur eine Frage der Form, in der ein solcher Gebietsabtritt formalisiert wird. Sie erklärte:

"Es gibt viele Varianten, und jede davon hat eine unterschiedliche Spezifik: Umtausch, Verpachtung oder Verkauf des Gebiets."

In jedem Fall lassen sie sich etwas einfallen. Denn die Eiserne Bank bekommt stets, was ihr zusteht.

Übersetzt aus dem Russischen, zuerst erschienen bei Wsgljad.

Geworg Mirsajan ist außerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Politikwissenschaftler und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren wurde er 1984 in Taschkent. Er machte seinen Abschluss an der Staatlichen Universität in Kuban und promovierte in Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Vereinigte Staaten. Er war von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada der Russischen Akademie der Wissenschaften.

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