Die Welt dreht auf Ost-Süd-Ost – und neue Handelswege entstehen
Von Karin Kneissl
Als der Suezkanal im Jahr 1869 eröffnet wurde, entstand ein hochpolitischer Seeweg, der fortan das Mittelmeer mit dem Roten Meer verbinden sollte und in erster Linie den Weg nach Indien frei machte. "Free passage to India" via Suez war die englische Handels-und Militärdoktrin auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das noch bis zum Zweiten Weltkrieg von den europäischen Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien geprägt war.
Das 20. Jahrhundert war zweifellos das US-amerikanische Zeitalter mit dem Atlantik als großem Teich zwischen Nordamerika, den britischen Inseln und den NATO-Verbündeten in West- und Nordeuropa. Der Panamakanal ergänzte die Hemisphäre der USA, die auch ein Auge auf das sogenannte "Pacific Rim" hatten.
Nun geht das 21. Jahrhundert in sein drittes Jahrzehnt mit Umbrüchen, Kriegen und neuen Ausrichtungen. Was sich ungefähr seit dem Jahre 2002 abzeichnet, nämlich der Aufstieg Eurasiens und des pazifischen Raums, gewinnt in diesen Monaten mit neuen Allianzen an Dynamik.
Iran und Russland – pragmatische Partner statt historischer Rivalen
Eine der interessanten Entwicklungen ist die verstärkte Kooperation zwischen Teheran und Moskau, die nicht nur die Erfahrungen von Sanktionen, wie der Ausschluss aus dem internationalen Zahlungsverkehr verbindet. Das Kaspische Meer, das eigentlich ein See ist, da es über keine Verbindung zum Meer verfügt, verbindet diese beiden Staaten in vielfacher Form. Es muss nicht immer Kaviar sein ... Es geht auch um Transitfragen, Erdgasfelder, Militärtechnik, die Zukunft Syriens und vieles mehr.
Im Zuge des 19. Jahrhunderts verlor das Persische Kaiserreich unter der glücklosen Dynastie der Qajaren den Kaukasus an das expandierende Zarenreich. Armenien und Aserbaidschan gelangten unter russische und später sowjetische Kontrolle. Zur territorialen Aufteilung der Kaspischen See schlossen die beiden ungleichen Nachbarn einige wichtige Verträge ab, die als Grenzverträge bis heute ihre Gültigkeit haben. Aus der Warte von Teheran, wo das historische Gedächtnis ebenso wie in Russland lange zurückreicht, hat man die britisch-russischen Machtkämpfe um Einflussnahme auf Persien nicht vergessen. Karikaturen aus jener Ära zeigen den russischen Bären in gutem Einvernehmen mit dem englischen Löwen, während die persische Katze als Spielzeug der beiden nicht weiß, wie ihr geschieht.
Russland hatte auch die UNO-Sicherheitsratssanktionen gegen Iran mitgetragen. Dass Iran nun das von USA wieder reaktivierte Nuklearabkommen JCPOA nicht wieder umsetzen will, hat viele Gründe. Der wesentliche Grund ist tiefsitzendes Misstrauen. Russland kann trotz aller alten territorialen Zwiste vielleicht das Vertrauen der iranischen Vertreter noch eher gewinnen als dies die Vertreter der USA und der EU vergeblich versuchten. Teheran hat in China nunmehr auch einen strategischen Partner, der die Sanktionen im Energiesektor kaum mehr umsetzt. Und die USA müssen hierbei mindestens ein Auge zudrücken.
Verdutzt bis erschrocken reagierte Washington auf die Ankündigung des Nord-Süd-Korridors NSTC, welcher Russland via Iran mit Indien verbinden soll. Damit verschieben sich die Einflusszonen und Eurasien erhält eine neue Handelsroute, die eine wichtige Ergänzung zu den bestehenden Ost-West-Verbindungen ist.
Der Nord-Süd-Korridor schafft neue Fakten
Das Megaprojekt zeigt, wie zwei der am stärksten sanktionierten Länder der Welt sich dem westlichen Druck anpassen, indem sie Handelsnetze schaffen, die vor Verboten geschützt sind. Die Route führt über Flüsse und Eisenbahnlinien, die durch das Kaspische Meer, das von Russland und Iran beherrschte Binnengewässer, miteinander verbunden sind. Davon betroffen wären auch die Bemühungen von Turkmenistan und Kasachstan, ihre Routen nach Westen zu erweitern.
Russland und Iran errichten damit eine neue transkontinentale Handelsroute, die sich vom östlichen Rand Europas bis zum Indischen Ozean erstreckt, eine 3000 Kilometer lange Passage, die sich jeder ausländischen Intervention entziehen soll. NSTC ist ein Transportnetz aus See-, Straßen- und Schienenwegen zwischen Russland und Indien, zwei Ländern, die bis Ende 2021 einen bilateralen Handel von bis zu 13 Milliarden Dollar verzeichneten. Nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges hat sich dieser Handel mit Öl und anderen Rohstoffen verdoppelt.
Trockenübungen haben gezeigt, dass die Transitzeit auf dieser Strecke von früher 40-45 Tagen um bis zu 25 Tage gesunken ist, was die Transportkosten um 30 Prozent reduziert. Der INSTC ist außerdem sanktionsfrei, da er eine Alternative zum Suezkanal darstellt und nicht von westlichen Ländern dominiert wird.
Langfristig könnte der INSTC eine Alternative zu traditionellen Routen wie dem Suezkanal, dem Mittelmeer und dem Bosporus darstellen. Indien hat unterdessen beantragt, dass der iranische Hafen Chabahar, an dessen Bau Indien beteiligt war, in den INSTC aufgenommen wird. Dieser Hafen wird den Zugang zu Afghanistan auf dem Seeweg ermöglichen und sich zu einem kommerziellen Transitknotenpunkt in der Region entwickeln.
Handelsrouten kommen und gehen
Es gibt Handelsrouten, die einst Reichtum schufen, aber auch Krieg und Frieden mitbestimmten, von denen aber heute kaum mehr jemand etwas weiß. Dazu gehörte zum Beispiel die Bernsteinstraße, die sich von der Ostsee ans Schwarze Meer zog. Dazu zählten auch die befestigten Straßen des Imperium Romanum, welche die Ausläufer des Reiches mit Rom verwaltungsmäßig und wirtschaftlich verbanden.
Der Suezkanal wird nicht in der Versenkung verschwinden, aber könnte einen Teil seiner aktuellen Transitvolumina an die von Russland intensiv betriebene arktische Nord-Ost-Passage, welche den russischen Handel mit dem Pazifischen Raum unterstützt, und eben die INSTC verlieren. Die Handelsrouten unserer Ära ziehen sich von quer durch Asien. Die chinesischen Züge fahren vollbeladen nach Europa und leer retour. Es ist nicht mehr indische Baumwolle für die englischen Webereien, wie dies noch im viktorianischen Zeitalter der Fall war. Es sind Hightech-Geräte aus asiatischer Produktion.
In der Energieversorgung sind asiatische Importeure bereits seit einem Jahrzehnt wichtigere Kunden als jene in Europa. Die Asiaten zahlen die höheren Preise und ihre Bevölkerungspyramiden sind interessanter als jene traditioneller europäischer Energieeinkäufer.
Das Jahr 2023 wird wohl kaum weniger turbulent als das abgelaufene Jahr. Aber die Weichen sind neu gestellt und mit den geopolitischen Verschiebungen drehen sich auch die Handelsrouten. Zur Erinnerung: vor dem Ersten Weltkrieg konnte man in Berlin den Zug besteigen und ohne Umsteigen bis nach Bagdad reisen. Von dieser einst vielversprechenden Bahntrasse sind nur mehr Schienenreste in der syrischen Wüste übrig. Der neue Nord-Süd-Korridor könnte die Eisenbahnprojekte Chinas und Indiens ergänzen, Afghanistan aus seiner Binnenlandisolation herausholen und wird damit neue Fakten schaffen. Es ist ein abgedroschenes Konfuzius-Zitat, eignet sich für dieses Thema aber bestens: Der Weg ist das Ziel.
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