Großbritannien – Vom Sommer der Streiks in den Winter der Unruhen
Die Arbeitskämpfe an den Containerhäfen sind noch nicht ausgefochten, da zeichnen sich schon die nächsten Konflikte ab, die das öffentliche Leben in Großbritannien beeinträchtigen. Zehntausende Beschäftigte der Royal Mail und der britischen Telecom legten am Mittwoch die Arbeit nieder.
115.000 Angestellte der Royal Mail und 40.000 Beschäftigte der British Telecom beteiligten sich an dem Streik, wie die BBC berichtete. Bei der Zustellung von Briefen und Paketen kommt es dadurch zu Verzögerungen.
Der Generalsekretär der Gewerkschaft Communication Workers Union, Dave Ward, sagte: "Wir können nicht in einem Land leben, wo unsere Bosse Milliardengewinne einfahren, während ihre Angestellten gezwungen sind, die Tafeln zu nutzen." Ein bisheriges Angebot der Arbeitgeberseite, die Gehälter um zwei Prozent anzuheben, lehnte die Gewerkschaft angesichts der weitaus stärker angestiegenen Verbraucherpreise ab.
Royal Mail hingegen warnte, der Streik koste das Unternehmen eine Million Pfund (rund 1,16 Millionen Euro) pro Tag, gefährde Jobs und mache Lohnerhöhungen schwerer finanzierbar. Weitere Streiks sind angekündigt.
Angesichts der Teuerungsraten planen viele Menschen insbesondere bei den Energiepreisen, diese nicht mitzutragen, weil sie zu hoch sind. Im Juli hatte die Inflationsrate in dem Land, dessen Armutsrate bereits beträchtlich ist, die Zehn-Prozent-Marke geknackt und damit einen Höchststand seit Beginn der Erfassung vor 25 Jahren erreicht.
Nach Einschätzung der US-Investmentbank Goldman Sachs könnte die Rate im kommenden Jahr sogar noch auf mehr als das Doppelte steigen, angetrieben vor allem durch die enormen Preissprünge bei Gas und Strom. Am Freitag gab die staatliche Regulierungsbehörde Ofgem bekannt, dass die Obergrenze der jährlichen Energierechnungen für einen britischen Durchschnittshaushalt um 80 Prozent auf 3.549 Pfund (4.187 Euro) angehoben wird.
Ofgem-Chef Jonathan Brearly sagte:
"Wir rechnen damit, dass die Preise im Winter weiter steigen werden."
Nach einer Prognose der Energieagentur Auxilione, die das Handelsblatt zitiert, könnten die Preise bis April 2023 auf mehr als 6.000 britische Pfund für einen Durchschnittshaushalt pro Jahr klettern. Damit hätten sich die Kosten für Strom und Gas innerhalb eines Jahres fast verfünffacht.
Für den Fall andauernd hoher Gaspreise warnt Goldman Sachs vor einer Inflation von mehr als 22 Prozent im kommenden Jahr. In weniger drastischen Szenarien rechnet die Bank damit, dass die britische Inflation ihren Höhepunkt 2023 bei etwa 15 Prozent erreichen wird. Die Großbank Citi hatte kürzlich für Januar einen Anstieg auf 18 Prozent zu Beginn des neuen Jahres prognostiziert. Goldman Sachs hält eine Rezession im Vereinigten Königreich für unvermeidlich – selbst bei Entlastungspaketen und anderen der derzeit diskutierten Maßnahmen, die die Favoritin im Rennen um die Johnson-Nachfolge, Liz Truss, angekündigt hat.
Auch für Lebensmittel und andere Waren sind die Preise in britischen Geschäften in diesem Monat so stark gestiegen wie seit mindestens 2005 nicht mehr, wie Bloomberg am Mittwoch unter Berufung auf das British Retail Consortium (BRC) berichtete.
Demnach beschleunigte sich die Inflation der Ladenpreise im August auf 5,1 Prozent – einen neuen Höchststand für den 2005 eingeführten Index – im Vergleich zu 4,4 Prozent im Juli. Die Lebensmittelpreise stiegen demnach um 9,3 Prozent, wobei Milch, Margarine und Chips am stärksten zulegten. Die Preissteigerungen bei Lebensmitteln werden nach Einschätzung von NielsenIQ, das die Daten für den BRC-Index erstellt, noch mindestens sechs Monate lang anhalten.
Das macht sich auch in den Umsätzen und im Kaufverhalten bemerkbar. Kunden sparen, wo sie können, greifen zu günstigeren Waren, gehen zu Discountern oder verzichten ganz.
Insgesamt sind die Folgen der Inflation weitreichend. Während die explodierenden Kosten für Gas und Strom für gut 70 Prozent der berühmten britischen Pubs in diesem Winter das Aus bedeuten könnten, warnen Wohlfahrtsorganisationen und Experten angesichts der steigenden Lebenshaltungskosten, dass Millionen hilfsbedürftiger Briten, beispielsweise mit Behinderungen oder Langzeitkrankheiten, durch Einsparmaßnahmen in der Pflege am stärksten betroffen sein werden.
Junge Menschen werden laut Experten infolge des Konsums von Lachgas, das Rückenmarks- und Nervenschäden nach sich ziehen kann, häufiger ins Krankenhaus eingeliefert.
Schon in den vergangenen Wochen gab es immer wieder Proteste und Streiks. Im Juni gingen in London Tausende von Menschen auf die Straßen, um gegen die Untätigkeit der Regierung bei der Bewältigung der Lebenshaltungskostenkrise zu demonstrieren. Die Demonstranten trugen Transparente mit Slogans wie "Krieg kürzen, nicht Sozialhilfe" und "Heizungsarmut beenden, Häuser jetzt isolieren". Laut Angestellten der Kommunalverwaltung ist die Nachfrage nach Unterstützung gestiegen, allerdings seien die Möglichkeiten zur Hilfe beschränkt, da es an Mitteln fehle.
In unterschiedlichen Branchen im Vereinigten Königreich toben Tarifkonflikte, weshalb in britischen Medien vom "Sommer der Streiks" zu lesen ist. So hatten unter anderem die Beschäftigten mehrerer Zugunternehmen sowie in Häfen mehrfach tageweise ihre Arbeit niedergelegt, um für bessere Arbeitsbedingungen und an die Inflation angepasste Löhne zu kämpfen. Dem gegenüber werden Großbritanniens große Gas- und Stromerzeuger in den nächsten zwei Jahren Übergewinne von bis zu 170 Milliarden Pfund einfahren.
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