Europa

G7 gegen Russland: Frieden zum Preis der Instabilität

Der Verlauf der Spezialoperation in der Ukraine nimmt immer deutlichere Züge an. Ein Sieg der russischen Seite scheint unausweichlich, was mittlerweile auch von einigen Staatsoberhäuptern der G7 eingesehen wird. Es stellt sich nunmehr die Frage, wie die westlichen Entscheidungsträger mit dieser Situation umgehen sollten, ohne gleichzeitig ihr Gesicht zu verlieren.
G7 gegen Russland: Frieden zum Preis der InstabilitätQuelle: www.globallookpress.com © Michael Kappeler/dpa

von Gevorg Mirzayan

Der erfolgreiche Verlauf der russischen Spezialoperation in der Ukraine hat zu einem allgemein logischen Ergebnis geführt: Immer mehr westliche Experten beginnen darüber zu sprechen, dass der Sieg Russlands unvermeidlich ist. Und der Westen müsse sich auf diesen Sieg einstellen, d.h. einige Kompromissabkommen mit Moskau schließen, sowie auch die Ukraine dazu zwingen, diese Abkommen zu akzeptieren.

Die westlichen Entscheidungsträger diskutieren bereits über Anpassungsmöglichkeiten - insbesondere wurde das Thema auf dem G7-Gipfel angesprochen. Ja, vor der Kamera haben sie sich närrisch benommen. Der britische Premierminister Boris Johnson hat die übrigen Teilnehmer gefragt, ob sie ihre Jacken anbehalten oder ausziehen sollen, um cooler als Putin auszusehen. Der kanadische Premierminister Trudeau parierte, dass die Staatsoberhäupter eine nüchterne Reitershow mit nackter Brust demonstrieren sollten. Johnson fügte hinzu:

"Zeigen wir unsere Brustmuskeln!"

Es ist widerlich zu erkennen, dass die gesamte Weltkrise, in der die Menschen regelrecht verbrennen, zu einem nicht geringen Teil den persönlichen (Minderwertigkeits-)Komplexen von Politikern mit schiefen Bäuchen und schlaffen Brustmuskeln geschuldet ist. Ihnen erscheint Putin auf seinem Pferd auch dort, wo er nicht ist. Marina Akhmedova vom russischen Menschenrechtsrat sagt:

"Sie hätten sich besser in einem Fitnessstudio anmelden sollen."

Jedoch entspringen diese persönlichen Komplexe dem Verständnis, dass Putin auf einem Pferd sitzt - sowohl wörtlich als auch im übertragenen Sinne. Und auch, weil der russische Präsident den "Krieg an der Peripherie" gegen die G7 gewinnt und irgendetwas dagegen getan werden muss.

Allerdings gibt es innerhalb des kollektiven Westens eine große Spaltung in der Frage, "was zu tun ist". Premierminister Boris Johnson versichert, man müsse nur den Widerstand gegen die "russische Aggression" verstärken und die militärisch-wirtschaftliche Hilfe für die Ukraine erhöhen. Er führt aus:

"Wenn wir es Putin erlauben, zu gewinnen und die Annexion der eroberten Gebiete eines freien, unabhängigen, souveränen Landes zulassen..., dann wären die Folgen dieses Schrittes für die Welt absolut katastrophal."

Dabei wäre Putins Sieg nach der Meinung des britischen Premiers sogar ein Kompromiss zwischen Russland und dem Westen. Ein Kompromiss, der "nur zu einer längeren Instabilität führen würde", wie Johnson dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron sagte. Darüber hinaus würde selbst ein Versuch, den Konflikt zu lösen und einen Kompromiss zu erzielen, Präsident Putin die "Lizenz zur Manipulation" anderer Länder geben.

In gewisser Hinsicht hat Johnson natürlich Recht. In der Tat wäre ein militärischer Sieg Putins in der Ukraine eine Katastrophe für die ganze Welt - die ganze westliche Welt. Andere Nationen - China, Türkei, Iran, Nordkorea, Venezuela u.a. - werden dadurch die lehmigen Füße des westlichen Kolosses sehen, wonach auch sie beginnen werden, eine souveräne Politik zu verfolgen. Dazu gehört auch die militärische Verteidigung der eigenen nationalen Interessen, ohne Rücksicht auf die Position der G7 - der USA und der sechs Helfershelfer.

Daran ist aber keineswegs Putin schuld, sondern diejenigen, die den russischen Präsidenten zur militärischen Spezialoperation gedrängt haben. 

Diejenigen, die einer diplomatischen Regulierung russisch-ukrainischer Gegensätze im Wege standen (indem sie Märchen über die "Verletzung der Minsker Vereinbarungen durch Russland" erzählten), und diejenigen, die eine diplomatische Regulierung russisch-amerikanischer Beziehungen immer wieder zum Scheitern brachten (indem sie über die Forderungen Moskaus gegenüber den Amerikanern lachten und ihnen versicherten, dass Putin kein Recht habe, sie aufzustellen). Mögen sie jetzt die Verantwortung für ihre Taten übernehmen.

Zudem hat Johnson damit Recht, dass der Versuch zu verhandeln zu einer längeren Instabilität führen würde - allerdings ohne das Wörtchen "nur". Die Instabilität ist unvermeidlich: Ein Kompromiss mit Moskau würde einen Präzedenzfall zufolge haben, der als mächtiger Katalysator für den bereits stattfindenden Transformationsprozess der Weltordnung wirken wird. Der Übergang von der G7 zu, angenommen, der G20, also zu einer multipolaren Weltordnung. Gleichzeitig würde das Friedensabkommen aber auch die Grundlagen für neue Regeln in den internationalen Beziehungen schaffen. Es wäre die Grundlage für ein System der Koexistenz zwischen Russland und dem kollektiven Westen. Natürlich würde all dies mit Instabilität einhergehen, doch nur ein Abkommen könnte den Übergang von der Instabilität zu einem wahren Chaos verhindern.

Johnson hat sogar Recht, dass die bloße Aufnahme eines Dialogs und der Versuch eines Kompromisses dem Präsidenten Putin die "Lizenz zur Manipulation" anderer Länder geben wird. Recht hat er, wenn man versteht, dass die Briten mit der "Manipulation" die russischen Forderungen meinen, die sich aus dem Verständnis des Kremls (und in der Tat auch des russischen Volkes) von der Definition ergeben, was das nationale Interesse ist. Darunter fallen die Ablehnung der sich nach Ostern erweiternden NATO, die Aberkennung russenfeindlicher Regime in den Nachbarländern, Maßnahmen gegen die Diskriminierung russischer Wirtschaftsinteressen und gegen Versuche, russische (Kaliningrad) oder pro-russische (Transnistrien) Exklaven zu blockieren. Natürlicherweise würde ein Eingeständnis des Westens bezüglich seiner Niederlage (was der Beginn von Verhandlungen sein könnte) die anderen Staaten dazu zwingen, den legitimen Forderungen Russlands gegenüber mit Respekt zu begegnen - und sie schließlich zu erfüllen.

Im Wesentlichen läuft es darauf hinaus, dass Boris Johnson durch die Verdrehung der offensichtlichen Konsequenzen der unvermeidlichen Niederlage des Westens den Vorschlag macht, den Weg der Niederlage bis zum bitteren Ende zu gehen. Und bei diesem Vorschlag hat der britische Premierminister seine eigene Unterstützergruppe in Form von Polen, des Baltikums und einer Reihe anderer Staaten.

Doch es gibt auch ernsthafte Gegner - unter anderem den französischen Präsidenten Emmanuel Macron höchstpersönlich. Im Élysée-Palast hat man die Unvermeidlichkeit des Sieges Putins über die Ukraine längst begriffen und versucht einerseits, den Schaden dieses Sieges für den Westen zu minimieren, andererseits aber auch von diesem Sieg zu profitieren. Genau deswegen positioniert sich Emmanuel Macron als potenzieller Vermittler in den russisch-westlichen Verhandlungen. Um diese Rolle für sich zu beanspruchen, haben seine Auftritte eine konziliante Haltung eingenommen, auf beleidigende Äußerungen gegenüber Putin verzichtet er - im Gegenteil ruft er dazu auf, "Russland nicht zu demütigen", und er sondiert ständig den Boden für den Verhandlungsprozess in Moskau und Kiew.

Während er immer noch zögert, nach Russland zu kommen (um nicht der westliche Führer zu werden, der die Toten als tot anerkennt, d.h. die Köpfe des kollektiven Wesens von der Illusion einer diplomatischen Isolation Russlands zu befreien), so besuchte er kürzlich Kiew. Allerdings nicht allein, sondern als Teil einer repräsentativen Delegation anderer Befürworter eines Kompromisses mit Russland - zusammen mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz und dem italienischen Premierminister Mario Draghi.

Zwar ist unklar, was das Trio zu Selenskij sagte, jedoch musste Boris Johnson nach diesem Besuch dringend nach Kiew fliegen, um dem ukrainischen Präsidenten neue Garantien und Versprechen zu gewähren.

Eindeutig ist, dass der Ausgang der Konfrontation zwischen Johnson und Macron von den Richtern in Washington entschieden werden wird. Und heutzutage ist die Position der Vereinigten Staaten sehr interessant. Einerseits wird in akademischen und militärischen Kreisen zunehmend davon gesprochen, dass man sich mit Putin einigen müsse. Und verhandeln müsse man jetzt - denn je später die USA den Weg der Verhandlungen betreten, desto mehr ukrainisches Territorium wird von den russischen Streitkräften befreit und desto größer wird das Gebiet sein, das nicht mehr an die Ukraine zurückgehen wird (zum Wendepunkt wurde die Vergabe russischer Pässe an die Einwohner). Andererseits gibt es die Biden-Administration, die weiterhin das Kiewer Regime hartnäckig sponsert und versucht, neue Typen von Waffen an die Ukraine zu liefern. Eine Verschwendung von Milliarden Dollar in der Ukraine, während sich die USA in einer noch nie dagewesenen Wirtschaftskrise befinden.

Höchstwahrscheinlich wird die Position des Washingtoner Richters folgende sein: Bis November, d.h. bis zu den Kongresszwischenwahlen, wird er Boris Johnson unterstützen. Sollte man nämlich jetzt einen Kompromiss mit Russland eingehen, so werden das amerikanische Establishment und die Journalisten sagen, die USA habe nach der Niederlage in Afghanistan auch in der Ukraine verloren. Um genau zu sein, haben die Demokraten und Biden persönlich verloren, wobei es danach sehr schwierig sein wird, Kongresswahlen zu gewinnen. Ab November aber, wenn die Wahlen vorbei sind, wird es möglich und notwendig sein, sich der Position Macrons anzunähern und eher früher als später einen Kompromiss zu suchen. Damit bis zum Jahr 2024 (den Wahlen des neuen US-Präsidenten) das Thema der Ukraine-Niederlage in den Köpfen der amerikanischen Wähler vergessen ist.

Übersetzt aus dem Russischen

Gevorg Mirzayan ist Politikwissenschaftler, Journalist und Dozent für Politikwissenschaft an der Finanzakademie der Regierung der Russischen Föderation. 

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