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"Europa ukrainisiert sich" – Experte Uralow über Getreide-Krise und Entnazifizierung der Ukraine

In Russland wird die Hysterie des Westens kaum mehr beachtet. Statt auf westliche Vorwürfe zu reagieren, konzentriert sich Russland auf die Lösung der Ukraine-Krise. Die wichtigste Aufgabe sollte dabei die Entnazifizierung sein, sagte der russische Ukraine-Experte Semjon Uralow in einem RT-Gespräch.
"Europa ukrainisiert sich" – Experte Uralow über Getreide-Krise und Entnazifizierung der Ukraine

Der Politikwissenschaftler, Journalist und Buchautor, Chef-Redakteur des analytischen Portals Sonar-2050 Semjon Uralow ist in Russland ein gefragter Experte zu den Sichtweisen einer Integration des postsowjetischen Raums. Im Zeitraum von 2002 bis 2014 organisierte er politische Wahlkampagnen in allen ukrainischen Regionen und gilt als einer der besten Kenner des Landes. Seit Beginn der russischen Militäroperation am 24. Februar prägte Uralow den Begriff einer "Post-Ukraine" in russischen Medien. Der RT DE-Online-Redakteur Wladislaw Sankin sprach mit dem Analysten über die Ukraine-Krise.

RT: Der Westen wirft Russland die Blockade der Getreideausfuhr aus der Ukraine vor. Aber könnte es sein, dass die Ukraine ihr Getreide bereits verkauft hat und jetzt nur noch blufft? Es gibt immer mehr solcher Andeutungen.

Semjon Uralow: "Ich denke, es gibt in der Getreide-Krise zwei Aspekte. Der erste hat damit zu tun, dass die Landwirtschaft in der Ukraine seit Langem in privaten Händen ist. Also wenn wir rein aus wirtschaftlicher Logik sprechen, dann ist es kein ukrainisches Getreide im engeren Sinne. Das ist das Getreide von wenigen Dutzenden Agrarunternehmen, die teilweise sogar mit westlichen Unternehmen fusioniert sind. Wenn die Regierung in Kiew die Ausfuhr von diesem Getreide verhindert, dann nimmt sie damit teilweise auch westliche Unternehmen als Geisel.

Der zweite Aspekt ist ein medialer und liegt im informations-psychologischen Raum. Die USA sind der weltweit größte Exporteur vieler landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Durch diese künstlich erzeugte Krise treiben sie die Weltmarktpreise in die Höhe, und wir wissen, wie eine Börse funktioniert: Je höher die Hysterie, desto großer die Panik bei den potenziellen Investoren und Käufern. Denn das hat keine andere Logik: Mit einer Hand die Lieferungen des russischen Getreides zu blockieren und mit der anderen eine Hysterie über die angebliche Blockade des ukrainischen Getreides zu entfachen, ist schizophren. Aber wenn wir einsehen, dass die dahinterstehende Logik nichts mit der Wirtschaft, sondern mit Börsen zu tun hat, dann wird diese Krise verständlich."

RT: Das hat also – wie Sie sagen – mit US-Börsen zu tun. Nichtsdestotrotz beschuldigen ausgerechnet Politiker in EU-Ländern – wie etwa Olaf Scholz und sein Kabinett – Russland, eine Hungersnot zu provozieren. Manche – wie Ursula von der Leyen – scheuen sich nicht, dies als Russlands "Terrorarsenal" zu bezeichnen. Warum diese rhetorische Steigerung?

Semjon Uralow: "Die führenden Politiker in Brüssel und in Deutschland – und Scholz in erster Linie – zeigen leider ihre wahre Rolle, und zwar das Fehlen jeglicher politischer Handlungsfähigkeit. Sie sind gezwungen, Arien in jenen Opern zu singen, die in den USA geschrieben wurden. Das Thema der durch Russland provozierten Hungersnot im Fall der Getreide-Krise in der Ukraine ist – wie gesagt – ein Börsen-Spiel.

Außerdem müssen die EU-Politiker irgendeine Erklärung für die kommende wirtschaftliche und soziale Krise in der EU finden. Und das einzige, was sie machen können, ist Bidens Argument zu wiederholen, als er Russland den Anstieg der Sprit-Preise vorwarf. Diese Art des politischen Verhaltens, das Europa in der letzten Zeit an den Tag legt, kann man als "Ukrainisierung" bezeichnen. Politische Eliten, die von außen gesteuert werden, erklären ihre antiwirtschaftlichen Entscheidungen, die sie im Interesse ihres Fernverwalters treffen müssen, mit den Umtrieben eines äußeren Feindes, in diesem Fall von Wladimir Putin."

RT: Welche Reaktion auf diese Vorwürfe wäre vonseiten Russlands angemessen?

Semjon Uralow: "In der letzten Zeit beobachte ich die Tendenz, dass man in Russland weniger darauf achtet, was einzelne Beamte in der EU oder Staats- und Regierungschefs einzelner Staaten sagen. Wir sehen, dass Kontakte am Telefon aufrechterhalten bleiben, aber das hat keinen Einfluss mehr auf die reale Politik. Diese Tendenz wird nur noch steigen. Vielleicht ist das sogar besser für Russland. Die Bürger der Europäischen Union werden eines Tages verstehen, wie handlungsunfähig ihre Eliten sind. Der wahre Verwalter ist der schon so oft erwähnte Tiefe Staat, der Deep State, der auf der Ebene der transnationalen Unternehmen und von speziellen Diensten funktioniert."

RT: Reden wir nun einmal über den Verlauf der russischen militärischen Sonderoperation in der Ukraine. Sind Sie nach fast vier Monaten seit Beginn zuversichtlich, dass Russland doch das gesamte Gebiet der Ukraine bis zur polnischen Grenze unter seine Kontrolle bringen kann?

Semjon Uralow: "Ich habe niemals an den Ergebnissen der Sonderoperation gezweifelt. Sie sind in ihren Grundsätzen angelegt – Russland nimmt sich das Eigene zurück. Putin hat das ausführlich erklärt, dass die Ukraine nur noch als ein Russland gegenüber freundlich gesinntes Land existieren könne, und niemand werde es zulassen, dass anstelle der Ukraine ein Anti-Russland herausgebildet wird. In diesem Sinne stellt die Sonderoperation im historischen Kontext das Rücksetzen auf den Nullpunkt, nämlich der UdSSR-Verträge dar, wonach den Republiken die ganzen industriell entwickelten Regionen zugeschlagen wurden, um ihr Industriepotenzial zu verbessern. Diese Industrieregionen sind als solche seinerzeit innerhalb des Russischen Imperiums oder in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) entstanden.

Die Geschwindigkeit der Militäroperation sollten besser Militärs einschätzen. Ich kann sagen, dass Russland nun auf Distanzkampf setzt. Entgegen den Behauptungen der ukrainischen Propaganda, hat Russland nach wie vor genug Raketen. Worauf es aber hinauslaufen wird, habe ich schon zu Beginn der Sonderoperation vorhergesagt: Die Ukraine wird sich auf Garnisons-Städte zerteilen. Die Intensität und die Geschwindigkeit der (russischen) Fortbewegung werden ausschließlich von der Selbstbestimmung dieser Garnisonen abhängen.

In den Städten, wo Garnisonen der Meinung sind, dass sie ihre Ortschaften bis zum Ende plündern können, wird es hart zugehen, und die Zivilisten werden gut beraten sein, aus diesen Städten abzureisen. Im schlimmsten Fall können sie die Einwohner in eine Art Geiselhaft nehmen, wie wir es in Mariupol gesehen haben, was leider zum Tod sehr vieler Zivilisten führen wird. Dort, wo die Garnisonen und die politischen Eliten der Städte rationale und zukunftsorientierte Entscheidungen treffen werden, wird die Fortbewegung zügig sein. Man muss also nicht auf die gesamte Ukraine schauen, entschieden wird auf der Ebene der Städte und Gebiete. In jedem Gebiet – und wir reden zunächst von den Regionen wie Odessa, Dnjepropetrowsk oder Charkow – gibt es neben der Gebietshauptstadt fünf bis sechs solcher Schlüsselortschaften.

Historisch kann man diesen Prozess mit der besonderen Rolle des sogenannten Semstwo, der eigentümlichen Selbstverwaltungseinheit unserer Vorfahren im Russischen Zarenreich vergleichen. Also solche "Semstwos" werden die Entscheidungen treffen."

RT: Nur wenige wissen, dass in den 1920er Jahren die Hauptstadt der Sowjetrepublik Ukraine Charkow war. Welche Bedeutung hat Charkow militärisch, wirtschaftlich und politisch jetzt, insbesondere im Zusammenhang mit der russischen Sonderoperation?

Semjon Uralow: "Charkow ist eine wichtige Großstadt, nach Kiew die zweitwichtigste, und angesichts der industriellen Degradierung der letzteren sogar die erste. In der Ostukraine ist sie das Tor zu der Region, die wir als "linksufrige Ukraine" oder "Neurussland" nennen.

Die derzeitige Krise diktiert neue Regeln – die geographische Lage der Städte wird immer wichtiger. Wenn man sich die Karte ansieht und auf die Verkehrswege achtet, wird klar: Charkow ist der Schlüssel zu den nahe gelegenen Regionen Russlands und des Donbass. Ohne die Kontrolle über diese Stadt ist es unmöglich, die Sicherheit in den umliegenden Gebieten zu gewährleisten."

RT: Muss die russische Armee Charkow befreien? Wenn ja, wann soll das geschehen und welche Folgen wird es haben?

Semjon Uralow: "Es gibt keine andere Möglichkeit. Die Stadt muss unter Kontrolle gebracht werden, und diejenigen neonazistische Paramilitärs, die in Charkow im Laufe der Jahre vom ehemaligen Gebietsgouverneur (2005-2010) und Innenminister (2014-2021) Arsen Awakow ausgebildet und rekrutiert wurden, müssen rausgeschmissen werden, vor allem angesichts der Tatsache, dass auch russische benachbarte Regionen wie die Region Belgorod aus dem Gebiet Charkow beschossen werden. 

Wie sich die Lage in Charkow bislang entwickelt, ist ein Szenario wie in Mariupol und anderen Städten im Donbass sehr wahrscheinlich. Meine Bekannten vor Ort berichten, dass im nördlichen Teil des städtischen Bezirks Saltowka mit der Plünderung begonnen wurde. Unter dem Vorwand, die "russische Aggression" zu bekämpfen, riegeln die Bewaffneten die Gebiete ab. Es gibt keine andere Wahl, als sie von dort militärisch zu verdrängen."

RT: Was ist Ihrer Meinung nach die Entnazifizierung und wie sollte sie durchgeführt werden, auch in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht?

Semjon Uralow: "Dies ist der wichtigste Prozess, denn nur wenige verstehen, worum es sich dabei handelt. Wenn sie nicht durchgeführt wird, werden wir immer wieder Terroranschläge auf alle diejenigen erleben, die Russland unterstützen. Wenn die Entnazifizierung unprofessionell oder halbherzig durchgeführt wird, besteht die Gefahr, dass sich in der Ukraine ein neuer bewaffneter banderistischer Untergrund herausbildet. Die Ukraine füllt sich – mit westlicher Unterstützung – massiv mit allen erdenklichen Waffen für einen solchen Kampf.

Ich erinnere Sie daran, dass der ukrainische Nationalismus drei Phasen hat. Die erste war die der "Masepinzy" [Anm. der Red. – Iwan Masepa war ein Führer des Kosakenheers, der im Dienste des russischen Zaren Peter des Großen stand, sich aber während der nordischen Kriege mit dem schwedischen König Karl XII. gegen den Zaren verbündete]. Es bedeutet, tief in die Institutionen des Reichs einzudringen, hohe Posten zu besetzen, Loyalität vorzutäuschen und in einem entscheidenden Moment, wenn Russland in Schwierigkeiten steckt, ihm in den Rücken zu fallen.

Abgesehen von Masepa verhielten sich Krawtschuk und Kutschma [Anm. d. Red. – die ersten Präsidenten der unabhängigen Ukraine in den Jahren 1991 bis 2004] ähnlich. Die zweite Phase war die "Petljurowschyna" [Anm. d. Red. – Semjon Petljura war ein ukrainischer nationalistischer Politiker und während des russischen Bürgerkrieges 1918 bis 1920 Präsident der nur von den sogenannten Mittelmächten anerkannten Ukrainischen Volksrepublik]. Es ist die Macht dieser organisierten kriminellen Gruppen, die unter dem Deckmantel des Kampfes für "Unabhängigkeit" agierten. Das ist es, was auch jetzt geschieht. Das ist es, was es ist – eine "Neo-Petljurowschyna".

In der dritten Phase, wenn die Nationalisten bereits verloren haben, beginnt die Rache im Hinterland gegen die Zivilisten. Wer hat nach dem Zweiten Weltkrieg am meisten gelitten? Lehrer und Ärzte. Wie mir einer der ehemaligen Kommandeure des NKWD [Anm. d. Red. – Sowjetische Geheimpolizei, Vorgänger des KGB] in einem der Bezirke der Westukraine sagte, hatten die Menschen tagsüber Angst vor ihnen und nachts vor den Banderowzi. Weil es Terror ist. Und eine vollständige Entnazifizierung ist nicht möglich, ohne diese drei Ausprägungen des Nazismus als eine extreme Form des Nationalismus zu verstehen. Damit die Menschen in Frieden leben können, muss der Nazismus in all seinen drei Ausprägungen vernichtet werden.

Zu diesem Zweck ist es notwendig zu verstehen, wie die Nazifizierung stattfand. Es ist notwendig, Archive und das ukrainische Bildungssystem zu untersuchen. Werden die Mechanismen der Nazifizierung nicht verstanden, kann es zu einem Rückfall kommen. Bei den derzeitigen Prozessen handelt es sich in vielerlei Hinsicht um eine nicht vollständig durchgeführte Entnazifizierung in der Nachkriegszeit. Auch die wirtschaftliche Entnazifizierung ist ein wichtiger Aspekt, denn es geht um Nationalisten und deren Sponsoren. Zahlreiche wirtschaftliche Akteure in der Ukraine haben diese Kämpfer bewaffnet und zu ihrem Vorteil eingesetzt, auch bei wirtschaftlichen Raubzügen und feindlichen Übernahmen."

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.