Mariupol: Verwandte finden sich nach zweimonatiger Trennung wieder
Juri Petrowitsch Stojlowski hat sein ganzes Leben in Donezk verbracht. Gegenwärtig arbeitet er als Fahrer für ein lokales Reporterteam von RT. Wegen der Kampfhandlungen habe er den Kontakt zu seiner in Mariupol verbliebenen Tante Walentina und seinem Onkel Waleri verloren, berichtet der korpulente bärtige Mann mittleren Alters. Als er am 2. Mai auf dem Weg nach Mariupol an zerschossenen Autos vorbeifährt, erklärt Juri:
"Wegen der Beschüsse habe ich den Kontakt zu meinen Verwandten verloren. Ich suche meine Tante. Seit dem 10. März hat sie sich nicht gemeldet."
Das letzte Mal konnte die Frau von ihrem Sohn telefonisch erreicht werden. Ihr Haus sei zerstört worden, danach seien Walentina und ihr Mann in ein Ferienheim evakuiert worden, wo sie fast zwei Monate lang in einem Luftschutzkeller lebten, erklärt Juri.
Nach der Ankunft in Mariupol werden massive Zerstörungen sichtbar. Leerstehende Häuser haben eingeschlagene Fensterscheiben, ausgebrannte Stockwerke und eingestürzte Dächer. Viele Gebäude sind bis auf die Grundmauern zerstört. Im Hintergrund ist noch Artilleriefeuer zu hören.
In einem Krankenhaus in der Paschkowskogo-Straße wird Juri zunächst nicht fündig. Nachdem er einige Passanten befragte, kommt er schließlich an einem neunstöckigen Wohnblock an. Ein Teil des Gebäudes ist ausgebrannt, fast alle Fensterscheiben eingeschlagen. Dennoch steht an der Eingangstür "Hier wohnen Menschen" mit einem Marker geschrieben.
Im zweiten Stock angekommen, betritt Juri eine noch teilweise intakte Wohnung. Die meisten Möbeln sind noch da, auch einige Kartons mit humanitärer Hilfe aus Russland. Auf dem Bett liegt ein gelähmter älterer Mann mit weißem Bart – Juris Onkel Waleri Jewgenjewitsch Tschininow, der seinen Neffen zunächst nicht zu erkennen scheint. "Ich bin aus Donezk gekommen", erklärt Juri. Als der Onkel den Neffen erkennt, fasst er sich an den Kopf und kann die Tränen nicht zurückhalten. "Weine nicht, Walera, alles wird gut!", tröstet ihn Juri. Bei einem Gespräch versichert er dem Onkel, dass weitere Verwandte am Leben und in Sicherheit sind, und begibt sich zurück ins Treppenhaus auf die Suche nach Tante Walentina.
Im Flur bereitet eine alte "Babuschka" eine Mahlzeit aus Mehl und Flussgrundeln vor – einer einheimischen Fischart, "von der Enkelin gekauft". Gekocht wird über offenem Feuer auf einem improvisierten Herd. "Der Beschuss, mein Gott", beschwert sich die Frau leise.
Schließlich findet Juri auch seine Tante. Nach der Begrüßung bleiben die beiden für einen Moment überrascht stehen, bis sie einander in die Arme fallen. Die Frau beginnt zu weinen:
"Ich habe mein Zuhause verloren."
Walentina zeigt ein Zimmer, das durch einen Geschosseinschlag verwüstet und teilweise ausgebrannt wurde. Wegen der ausgefallenen Telefonverbindung verloren sie und ihr Mann den Kontakt zu allen anderen Verwandten, es gibt kein fließendes Wasser und kein Gas. Die Wohnung selbst gehöre einer anderen Person, und die Frau macht sich Sorgen, wohin sie und ihr Mann sich als Nächstes begeben können:
"Ich weiß nicht, was ich tun soll. Für mich selbst hätte ich noch einen Schutzraum gefunden, aber wo gehe ich mit meinem Mann hin?"
Tante und Neffe tauschen ihre Geschichten aus und beginnen, weitere Pläne zu besprechen. Sie gibt ihm eine Medikamentenliste. Juri gibt seiner Tante Telefonkarten, um weiterhin in Kontakt bleiben zu können, und verspricht, sie und ihren Mann bei nächster Gelegenheit herauszubringen.
Walentina begleitet Juri in den Hof zurück zum Auto. Beim Abschied ist die Stimmung hoffnungsvoller. "Jura, bring mir Zigaretten!", ruft der Onkel noch aus dem Fenster. "Wir werden leben", erklärt Walentina entschlossen und hebt die Faust in einer munteren Abschiedsgeste, die an den Rotfront-Gruß erinnert.
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