Europa

Die Invasion der Ukraine ist abgesagt, aber die Krise ist noch nicht vorüber

Trotz wochenlanger Spekulationen ist die befürchtete Invasion der Ukraine ausgeblieben, was viele im Westen dumm dastehen ließ. Aber da die Grundursachen des Konflikts zwischen der Ukraine und Russland weiterhin ungelöst sind, bleibt die Situation so gefährlich wie bisher.
Die Invasion der Ukraine ist abgesagt, aber die Krise ist noch nicht vorüberQuelle: Sputnik © Sergey Averin / Sputnik

Eine Analyse von Paul Robinson

Eigentlich hätte Russland am vergangenen Dienstag in die Ukraine einmarschieren sollen. Oder war es Mittwoch? Die Medien konnten sich nicht ganz entscheiden, da einige das eine und andere wiederum das andere vorhersagten, alles jeweils gestützt auf Hinweise aus anonymen amerikanischen und gelegentlich britischen Quellen. Das Weiße Haus weigerte sich, ein konkretes Datum zu nennen, und beschränkte sich auf die Vorhersage, dass eine Invasion praktisch jederzeit stattfinden könnte, während die britische Regierung orakelte, dass russische Bomben "innerhalb von Minuten" nach Erteilung des Marschbefehls aus dem Kreml fallen könnten. Unweigerlich traten dabei die Parallelen zu den Behauptungen von vor etwa 20 Jahren hervor, irakische Chemiewaffen seien innerhalb von 45 Minuten in Bereitschaft.

Peinlich für alle Beteiligten ist nicht nur das Ausbleiben der versprochenen Invasion, sondern sind auch die Medienberichte vom Dienstag, die darauf hindeuteten, dass die russischen Truppen nach Abschluss ihrer Militärübungen zu ihren Stützpunkten zurückgekehrt seien. Darüber hinaus ist der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu am Dienstag nach Syrien geflogen, um dort Marineübungen beizuwohnen. Das hätte sonderbar angemutet, wäre tatsächlich ein Angriff auf die Ukraine geplant gewesen.

Es scheint also, dass die Invasion abgeblasen ist. Nicht, dass sie überhaupt jemals anstand. Seit mehreren Wochen weisen russische Offizielle vehement zurück, dass eine Invasion geplant sei. Im russischen Staatsfernsehen wurde die Idee rundheraus als "westliche Hysterie" verspottet, auch von denen, die oft als "Kreml-Propagandisten" bezeichnet werden, wie etwa der Talkshow-Moderator Wladimir Solowjow. Einige Witzbolde scherzten, die ganze Welt erwarte einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine, mit Ausnahme zweier Länder – Russlands und der Ukraine.

Ebenfalls am Dienstag lehnte der russische Präsident Wladimir Putin einen Appell des Unterhauses des russischen Parlaments ab, mit dem er dazu aufgerufen wurde, die Unabhängigkeit der aufständischen Volksrepubliken Donezk und Lugansk im Donbass anzuerkennen. Während Putin das, was im Donbass geschieht, als Völkermord anprangerte, forderte er zugleich, dass alles getan werden müsse, um den Krieg dort zu beenden, indem die Bedingungen des Minsk-2-Abkommens von 2015 erfüllt werden. Das Abkommen sieht eine Wiedereingliederung des Donbass unter erheblichen  Autonomierechten in die Ukraine vor. Dieser Ansatz ist mit einem umfassenden militärischen Angriff auf die Ukraine kaum vereinbar und deutet darauf hin, dass Putin weiterhin nach einer diplomatischen Lösung des Konflikts sucht.

Unklar ist allerdings, ob die russische Diplomatie sehr viel ausrichten kann. Der Kreml findet vielleicht etwas Trost darin, dass die USA, aus Angst vor einem Krieg, die Sicherheitsbedenken Russlands diskutieren und sogar ein paar Zugeständnisse machen müssen.

So sprechen die USA nach ihrem Ausstieg aus dem INF-Vertrag nun über neue Verhandlungen zur Begrenzung von Nuklearwaffen im Mittelstreckenbereich. Der russische Außenminister Sergei Lawrow hat jedoch festgestellt, dass die amerikanische Reaktion auf die russischen Vorschläge unbefriedigend ist. Auch seien weder die USA noch ihre europäischen Partner bereit, grundlegende Forderungen Russlands zu erfüllen, wie beispielsweise den Stopp der NATO-Osterweiterung. Hinzu kommt, dass eine Umsetzung des Minsker Abkommens nicht absehbar ist. Vielleicht hat die jüngste Krise einige westliche Regierungen dazu veranlasst, Druck auf Kiew auszuüben, die erforderlichen Zugeständnisse zu machen. Doch gibt es dafür keine sicheren Anzeichen. Und die jüngsten Gespräche zu diesem Thema – im sogenannten "Normandie-Format" – waren ein Fehlschlag.

Schlimmer noch, die westlichen Staaten haben auf den angeblichen russischen Aufmarsch reagiert, indem sie immer mehr Waffen in die Ukraine lieferten. Dies mag die ukrainischen Regierung aber eher in ihrer Entschlossenheit bestärkt haben, keine Kompromisse einzugehen. Kremlsprecher Dmitri Peskow warnte diese Woche, dass eine "Bedrohung durch einen ukrainischen Angriff auf den Donbass besteht und diese sehr hoch ist, höher als zuvor". Wenn Russland, wie manche meinen, eine Art Zwangsdiplomatie betrieben hat, so scheint es seine Ziele nicht erreicht zu haben.

Es ist daher schwer zu sagen, ob Russland stärker aus der Krise hervorgegangen ist, als es vor der Krise war. Dasselbe gilt für die westlichen Staaten, insbesondere diejenigen, die eine Hauptrolle beim Schüren der Kriegsangst gespielt haben – die USA und das Vereinigte Königreich. Die vollmundigen Ankündigungen einer bevorstehenden Invasion, die aus dem Mund amerikanischer und britischer Offizieller kamen, haben sich als falsch herausgestellt. Zudem lässt sie die panische Flucht westlicher Diplomaten aus Kiew ziemlich erbärmlich dastehen und, macht deutlich, dass ihre Verbindlichkeiten gegenüber der Ukraine ausgesprochen schwach sind.

Insgesamt werden die jüngsten Ereignisse dazu führen, dass das Vertrauen in westliche Regierungen und Geheimdienste sowie in die Medien weiter untergraben wird, die jede zweifelhafte Behauptung – von oft namentlich nicht genannten "Offiziellen" – wiederholt haben. Die Hysterie, die von Washington und London ausging, schadet der zukünftigen Glaubwürdigkeit beider Regierungen zutiefst. Wie die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, feststellte, wird der 15. Februar 2022 (der Tag, an dem die vorhergesagte Invasion ausblieb) "in die Geschichte eingehen als der Tag, an dem die westliche Kriegspropaganda scheiterte". Der Westen sei "beschämt und zerstört worden, ohne dass ein Schuss abgegeben wurde", sagte sie.

Was die Ukraine betrifft, so kann sie auf die zusätzliche militärische Unterstützung verweisen, die sie als Bonus erhalten hat. Die neuen Waffen werden aber so gut wie nichts dazu beitragen, einem ausgewachsenen russischen Angriff standzuhalten. Es ist überdeutlich geworden, wie eng die Grenzen sind, innerhalb derer der Westen bereit ist, die Ukraine zu unterstützen. Darüber hinaus hat die durch US-amerikanische und britische Vorhersagen eines bevorstehenden Krieges ausgelöste Panik negative Auswirkungen auf die ukrainische Wirtschaft. Ausländische Investoren, die wahrscheinlich ohnehin schon skeptisch waren, ihr Geld in der Ukraine anzulegen, werden es sich nun zwei- oder dreimal überlegen, dies zu tun.

Es ist auch offensichtlich, dass die ukrainische Politik hinsichtlich des Donbass in einer Sackgasse steckt. Trotz der Weigerung, die Vereinbarungen von Minsk umzusetzen, lässt sich das Problem auch mit Gewalt nicht lösen. Putins Verweis auf den Völkermord macht deutlich, dass er die Aufgabe, die Menschen im Donbass zu schützen, ernst nimmt. Ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine scheint daher vorerst ausgeschlossen, aber sollte die ukrainische Regierung jemals versuchen, den Donbass mit Gewalt zurückzuerobern, ist mit einer gewaltsamen Reaktion der russischen Armee zu rechnen.

Das bedeutet, dass, solange der Konflikt im Donbass andauert, die Möglichkeit eines Krieges bestehen bleibt und Russland wahrscheinlich eine große Zahl von Truppen in unmittelbarer Nähe zur Ukraine belassen wird. Folglich können wir in Zukunft mit weiteren Kriegsängsten rechnen. Leider ist diese Geschichte noch lange nicht zu Ende.

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RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Paul Robinson ist Professor an der Universität von Ottawa. Er schreibt über russische und sowjetische Geschichte, Militärgeschichte und Militärethik und ist Autor des Blogs Irrussianality.

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