Ex-Naftogaz-Chef prophezeit: Kiew könnte im Winter wieder russisches Gas stehlen
Der ehemalige Leiter des staatlichen ukrainischen Erdgaskonzerns Naftogaz Ukrainy, Andrei Kobolew, hat zugegeben: Die Ukraine könnte unter bestimmten Umständen damit beginnen, unerlaubterweise russisches Transitgas abzuzapfen – was wiederum zur Einstellung der Lieferungen und zur Beendigung des Gasvertrags führen würde. Diese Prognose legte er unter Einbeziehung jüngster Daten in einem Leitartikel in Serkalo Nedeli (dt.: Wochenspiegel) vor, einem ukrainischen russischsprachigen Onlinemagazin.
Bei Kobolews Ausblick für die ukrainische Wirtschaft im Jahr 2022 sei der Hauptfaktor nicht, ob sie von der Lage auf dem europäischen Erdgasmarkt geschädigt werde, sondern wie stark die Schäden ausfallen werden. Bei seinen Auslegungen spielten, neben der seit Herbst 2021 prekären Lage auf dem welt- und europaweiten Erdgasmarkt, zwei weitere Variablen eine Rolle, die im jetzigen Winter zum Zuge kommen. Einerseits ist dies als eine Konstante das höchstwahrscheinlich weiterhin ungewöhnlich kalte Winterwetter in der Ukraine mit Temperaturen von oft unter -15 Grad Celsius. Dieses führe zu einem Tagesverbrauch von bis zu 180 Millionen Kubikmeter Gas bei einem Eigenförderungsvolumen von 50 Millionen Kubikmetern täglich, wobei der Füllpegel der ukrainischen Erdgasspeicher recht knapp sei (Kobolew zitiert einen Gesamtfüllstand von "unter 14 Milliarden Kubikmetern"). Andererseits gilt es noch, die Wetterentwicklung in Mittel- und Westeuropa in diesem Winter abzuwarten, die den Preis, aber auch die eigentliche Verfügbarkeit von Erdgas auf dem Markt bestimmen werde – zumal die Ukraine wegen der weggefallenen Versorgungsverträge mit dem russischen Gazprom lediglich nach dem Restprinzip mit virtuellem oder realem Reversgas aus europäischen beziehungsweise für Europa bestimmten Kapazitäten versorgt wird.
Auf jeden Fall jedoch, so der Experte, werde die Ukraine bedeutende Mengen Erdgas für den heimischen Gebrauch importieren müssen. Bei seiner Prognose hat Kobolew nun zwei Extremszenarien für das erste Quartal 2022 skizziert, die die Marktlage in der Ukraine über den Rest des Jahres bestimmen werden.
Nach dem optimistischen Szenario wird Naftogaz in der Lage sein, ausreichende Gasimporte zu gewährleisten, um die täglichen Defizite zu decken. Dies hänge wiederum einerseits davon ab, ob die Marktlage in Europa überhaupt die Einführung von virtuellem oder realem Reversgas in die Ukraine erlauben wird: Bestimmt wird dies vom Wetter in Europa selbst und resultierend daraus auch von den Preisen und, allgemeiner, der Verfügbarkeit. Ein weiterer harter Faktor ist hier, ob dem in tiefroten Zahlen stehenden ukrainischen staatliche Erdgaskonzern bedeutende Geldspritzen vom ukrainischen Staat – der ja auch selbst hochverschuldet ist – zugeteilt werden: Denn der ehemalige Naftogaz-Chef sagt für dieses Szenario Ausgaben von "zwei bis sechs Milliarden US-Dollar" voraus, Kosten also, die der Konzern überhaupt nicht tragen kann. Und kaufen muss der Konzern dann auf jeden Fall, und zwar für die gesamte bereitgestellte Summe, selbst bei Preisen von über 2.000 US-Dollar für 1.000 Kubikmeter Gas, unterstrich Kobolew.
Doch gelingt die Mittelbeschaffung nicht, beziehungsweise ist in Europa selbst das Gas zu knapp, so wird der ukrainische Erdgaskonzern nach dem pessimistischen Szenario unweigerlich gezwungen sein, "russisches Gas aus dem Transitfluss zu entnehmen". Vor Kurzem hatte der Leiter des ukrainischen Gastransportsystems, Sergei Makogon, erklärt, dass im Jahr 2021 41,7 Mrd. Kubikmeter russisches Gas durch das ukrainische Hoheitsgebiet transportiert wurden.
Während auf die ukrainische Volkswirtschaft im ersten Fall lediglich finanzielle Schäden zukommen, werden im zweiten Fall die Konsequenzen deutlich härter sein:
"Die Reaktion der Russen auf die unsanktionierte Entnahme (oder, einfacher ausgedrückt, den Diebstahl) von Erdgas ist nicht schwer vorherzusagen: Stopp des Transits durch die Ukraine und sofortige Kündigung des bestehenden Transitvertrags. […] Höchstwahrscheinlich wird dies zum Betriebsstart von Nord Stream 2 führen sowie zu Gazproms Verzicht auf die Nutzung der ukrainischen Transitroute – unter stiller, aber voller Zustimmung der westlichen Partner."
Zwar spricht Kobolew im Zusammenhang mit seinem pessimistischen Szenario explizit nur von finanziellen Schäden – auch wenn von deutlich höheren als etwa durch Verlust der Transitgebühr. Indes dürften sich die Schäden für die Volkswirtschaft der Ukraine dann weit über das Finanzielle hinaus bewegen.
Tod der Volkswirtschaft
So erklärt der ehemalige Leiter des ukrainischen staatlichen Erdgaskonzerns ja selbst, dass eine Abschaltung der ukrainischen Verbraucher vom Gasnetz (gemeint sein dürften Privatverbraucher ebenso wie die Industrie) "unrealistisch" aussehe. Ebenso wenig darf damit gerechnet werden, dass der Energiebedarf etwa durch Kohleeinfuhren abgedeckt wird: Die Vorräte sind über die letzten Monate auf ein Sechstel des Solls gesunken, auf dem Weltmarkt ist bis etwa 2024 laut der Internationalen Energieagentur allenfalls ein Wachstum der Nachfrage und somit der Preise zu erwarten.
Keine Dauerlösung kann auch der Zukauf von Strom aus Weißrussland sein, ebenso wenig wie der vor Kurzem wiederaufgenommene Betrieb aller verfügbaren Atommeiler der Ukraine (zumal diese längst reparatur- und generalüberholungsbedürftig sind).
Nicht zuletzt sind zahlreiche Betriebe (etwa die Industrie der Düngemittelherstellung) der Ukraine nicht auf Kohle oder Elektrizität als Wärmequelle ausgelegt, sondern auf Erdgas. Doch ungeachtet der Energiequelle wird ein Betriebstopp im Zusammenhang mit fehlender oder zu teurer Energieversorgung für viele von ihnen einen Verlust von Kunden und möglicherweise Lieferanten bedeuten; für manche vielleicht die permanente Schließung bedeuten. Erst am 31. Dezember 2021 brachte Anatoli Mogiljow, ehemals Innenminister der Ukraine, seine Befürchtung vor einem allumfassenden Kollaps im Lande zum Ausdruck – nicht zuletzt im Zusammenhang mit bereits laufenden Betriebsschließungen, aufgrund derer der Belegschaft Mittel zum Leben fehlen:
"Die Menschen bleiben ohne Lohn, ohne ihr Einkommen. […] Wir verbleiben mit der Möglichkeit der Abschaltung sowohl der Heizung als auch des Stroms und so weiter. All das kann zu einem derartigen Kollaps im Lande führen, dass ich nur mit Schrecken daran denken kann, was sein wird."
Schon jetzt spricht die UNICEF von einer Mangelernährung bei einem Viertel der ukrainischen Bevölkerung. Ebenso ist die Tatsache, dass ein Ausfall der Strom- und Heizversorgung der Privatverbraucher, wie er in der naher Zukunft ausgerechnet vom ukrainischen Geheimdienst SBU für ganze Regionen des Landes befürchtet wird, wohl kein gutes Zeichen.
All diese Konsequenzen würden bei einem Diebstahl von russischem Gas, das durch die Ukraine geleitet wird, zwar nicht oder nicht mit voller Härte eintreten – allein, dies wäre nur ein Aufschub und die Freude daran wäre kurz: Mit Wegfall des russischen Transitgases wäre der virtuelle Gasrevers ebenfalls eine Sache der Vergangenheit. Somit stünden der Ukraine weniger Energieträgerquellen offen als davor – und das schränkt nicht nur die Auswahl ein, wann und wie viel und somit auch welchen Preis man pro Energieeinheit zahlt, sondern auch die eigene Verhandlungsgrundlage ein und sorgt für höhere Energiepreise. Daneben ist eine Umstellung der erdgasverbrauchenden Industrieobjekte und Anlagen der Kommunalversorgung auf andere Energiequellen ein kostspieliges Unterfangen, das die marode Wirtschaft der Ukraine sich nur bedingt wird leisten können.
Krieg als drittes Szenario
Damit wird für die auch ansonsten nicht gerade moralisch bedachte oder strategisch umsichtige Kiewer Regierung eine dritte Option attraktiver:
Abgesehen davon, dass die Kiewer Regierung im Zusammenhang mit allen möglichen Krisen im Lande ohnehin fast schon reflexartig gegen die abtrünnigen Volksrepubliken Donezk und Lugansk in der Donbass-Region militärisch eskaliert, könnte sie nun auch noch einen realwirtschaftlichen Anreiz dazu sehen – liegen in den beiden Volksrepubliken Donezk und Lugansk doch zahlreiche Kohlezechen, viele von ihnen nach wie vor in Betrieb.
Noch brisanter wird die Lage dadurch, dass sich das pessimistische zweite Szenario des Ex-Naftogaz-Chefs und das soeben skizzierte dritte Szenario beileibe nicht ausschließen. Unter bestimmten Umständen würde die endgültige Abkopplung der Ukraine vom russischen Erdgastransit als Konsequenz unerlaubter Entnahme größerer Gasmengen eine militärische Operation zwecks Eroberung der Kohlezechen im Donbass sogar begünstigen: Dafür muss der Anteil an russophoben Hardlinern in der Kiewer Regierung nur einen bestimmten kritischen Anteil überschreiten, sodass sie als Apparat auch die letzten Hemmungen verliert. Außerdem äußerte im Herbst 2021 der aktuell Naftogaz-Leiter Juri Witrenko sogar die Ansicht, ein Ende der russischen Erdgasdurchleitung durch die Ukraine würde die Letztere an den Rand des Krieges rücken – aber nicht einmal mit der DNR und LNR, sondern ausgerechnet mit Russland. Und diesen provoziert die Ukraine zusammen mit Moldawien und unter Patenschaft des zündelnden kollektiven Westens nun tatsächlich an einer zweiten Front – um und an Transnistrien, dem sie bereits seit 2014 immer schwerere Ein- und Ausfuhrbeschränkungen auferlegte und das sie zusammen seit Anfang 2022 nun endgültig unter Embargo brachten.
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