Am 1. Januar fand im Zentrum Kiews ein Fackelzug anlässlich des 114. Geburtstags des Nationalistenführers Stepan Bandera statt. Das hat umgehend eine kritische Reaktion auch der israelischen Botschaft in den sozialen Medien nach sich gezogen.
Die Botschaft der Republik Belarus brauchte zwei Tage für eine Reaktion, entschloss sich dann aber sogleich zu einem weitreichenderen diplomatischen Schritt – zu einer Protestnote an das ukrainische Außenministerium. Diese Note galt vor allem der Teilnahme von weißrussischen Oppositionellen "unter stillschweigender Duldung der ukrainischen Behörden".
"Die weißrussische Botschaft in der Ukraine hat dem Außenministerium der Ukraine eine Note gesandt, in der sie die massenhafte Beteiligung von Aktivisten der geflüchteten weißrussischen extremistischen Opposition unter den Symbolen der weißrussischen Kollaborateure und Diener des Dritten Reiches an dem nationalistischen Marsch verurteilte, der am 1. Januar mit stillschweigender Duldung der ukrainischen Behörden und mit breiter Berichterstattung in den ukrainischen Medien stattfand", heißt es in der Mitteilung, die am Montag im Internet auf der Seite der weißrussischen Regierung veröffentlicht wurde.
Als ein "Symbol der Kollaborateure" nannte die Botschaft die weiß-rot-weiße Fahne, die von der sogenannten Weißrussischen Volksrepublik im Jahr 1918 eingeführt und während des Zweiten Weltkrieges wieder von den mit den Nazis kollaborierenden weißrussischen Nationalisten verwendet wurde.
In den Jahren des "nationalen Erwachens" von 1991 bis 1995 wurde die weiß-rot-weiße Fahne zur Staatsflagge der Republik Belarus, bis sie per Referendum durch die heutige rotgrüne Flagge ersetzt wurde. Nachdem die historisch belastete Flagge wiederum zum Symbol der Antiregierungsproteste im Jahr 2020 geworden war, wurde deren Verwendung im öffentlichen Raum von den staatlichen Behörden in Minsk mit hohen Auflagen belegt, die einem Verbot gleichkommen.
In der Ukraine, wohin viele national gesinnte Oppositionelle aus Belarus geflüchtet sind, taucht die weiß-rot-weiße Fahne immer wieder auf gemeinsamen Aktionen mit ukrainischen Nationalisten auf. Die "anstößigen Versuche, Kollaborateure, Mörder und Peiniger des weißrussischen Volkes" zu Helden zu machen, sei für die Menschen in Weißrussland schmerzhaft, so die Botschaft.
"Die Botschaft bringt ihren starken Protest im Zusammenhang mit der zunehmenden Radikalisierung der anti-weißrussischen Position der Ukraine zum Ausdruck, welche sich in einer Duldung bei der demonstrativen Ehrung der Kollaborateure und Henker des belarussischen Volkes äußert, und fordert, die Versuche zu stoppen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu heroisieren, welche keine Verjährung haben und vom weißrussischen Volk nicht vergeben werden können", heißt es weiter.
Zum historischen Hintergrund dieses Vorwurfs ist zu erwähnen: In der Weißrussischen Sowjetrepublik, die in den Kriegsjahren zwischen dem Sommer 1941 und dem Jahr 1944 von den Nazitruppen komplett besetzt war, herrschte ein Schreckensregime des Genozids. Im Zuge des Holocausts sowie unzähliger Strafaktionen gegen die slawische Zivilbevölkerung und die Partisanenbewegung wurde bis zu einem Drittel der Bevölkerung vernichtet. An vielen solchen Aktionen nahmen insbesondere auch ukrainische Nazi-Kollaborateure teil, die oft die "schmutzigsten" Aufgaben übernahmen.
So wurden durch die SS die 149 Einwohner des Dorfes Katyn bei Minsk unter der Teilnahme eines aus den Ukrainern zusammengesetzten Schutzmannschafts-Bataillons in einer Scheune verbrannt. Dieses Dorf symbolisiert heute stellvertretend alle 628 komplett samt ihren Einwohnern vernichteten Dörfer Weißrusslands. Nach dem Ende des Krieges wurden viele Täter ausfindig gemacht, aber die Strafverfahren gegen die Ukrainer fanden in der Sowjetunion unter Geheimhaltung statt, um das Verhältnis zwischen den Sowjetrepubliken nicht zu belasten.
Obwohl die Mörder von Katyn weder der von Bandera angeführten Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) noch der von ihm mitgegründeten Ukrainischer Aufstandsarmee (UPA) angehörten, wurden die sogenannten "Banderowzy" im öffentlichen Bewusstsein sowohl in Russland als auch in Weißrussland zum Sammelbegriff für nazistische Kollaborateure aller Couleur, die sich unzähliger Bluttaten schuldig gemacht hatten. Schließlich war es Stepan Bandera, der zu Beginn des Krieges die ukrainischen Nationalisten öffentlich zu Diensten Adolf Hitlers für den Kampf gegen Moskau und die Kommunisten anbot.
Am Ende des Krieges und auch noch einige Jahre danach führten militante Verbände ukrainischer Nationalisten weiterhin einen erbarmungslosen Partisanenkampf gegen die Sowjetunion im Hinterland. Offiziellen Statistiken zufolge haben auf dem Territorium der weißrussischen Sowjetrepublik bis zu 14.000 OUN-UPA-Kämpfer operiert und allein in den Jahren 1944 bis 1946 insgesamt 2.284 Sabotage- und Terrorakte verübt. Mehr als tausend sowjetische Soldaten, Staatsbedienstete und Zivilisten wurden dabei noch getötet.
Nach dem Ende des Kriegs setzte sich Stepan Bandera nach Westdeutschland ab. Das Auslieferungsgesuch der Sowjetunion gegen ihn wegen Kriegsverbrechen lehnten die bundesdeutschen Behörden ab. Im Jahr 1959 wurde Bandera von einem KGB-Agenten in München vergiftet.
Im Mai 2015 verlieh der damalige Präsident der Ukraine Petro Poroschenko der OUN-UPA den Ehrenstatus als "Kämpfer für die Unabhängigkeit" der Ukraine. Die russische Regierung in Moskau verurteilte diese Entscheidung und erklärte, dass "die Ukraine das Land ist, in dem Neonazis von Worten zu Taten übergingen und Tausende von Zivilisten töteten" und "dass solche Aktionen auf internationaler Ebene angemessen bewertet werden sollten". In vielen Städten in der westlichen und zentralen Ukraine wurden Denkmäler für Bandera und weitere prominente Nazi-Kollaborateure errichtet und Straßen oder Stadien nach ihnen benannt.
Die diplomatische Note Weißrusslands markiert eine weitere symbolische Weichenstellung in den Beziehungen Weißrusslands zu seinem südlichen Nachbarn. Auch seit Beginn der Ukraine-Krise hat sich der weißrussische Staat trotz geschichtlicher und politischer Differenzen um gute Beziehungen zur Ukraine bemüht und auch im Donbass-Konflikt in der Ukraine eine Vermittlerrolle eingenommen – so etwa mit Minsk als Ort für diplomatische Verhandlungen und wichtige Vereinbarungen zur friedlichen Lösung des Konflikts. Seit den im Westen geächteten Präsidentschaftswahlen in Weißrussland im August 2020 haben sich die Beziehungen zur Ukraine verschlechtert, und die beiden Staaten betrachten einander zunehmend als Bedrohung.
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