Was ist Recht in der Europäischen Union – und wer darf recht haben?

Das polnische Verfassungsgericht bestätigt den Vorrang der polnischen Verfassung vor der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. Ein Angriff auf die "Grundlagen" der europäischen Ordnung, donnert die EU-Kommissionspräsidentin. Entrüstung von vielen Seiten.

von Pierre Lévy, Paris

Bestürzung, Seelenqual, Hysterie – das ist die Bandbreite der Gefühls-Wallungen in der Brüssel-Straßburg-Blase der Europäischen Union (EU) nach dem brisanten Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom 7. Oktober. Das polnische Gericht bestätigte den Vorrang der nationalen Verfassung vor dem EU-Recht. Ein Angriff auf die "Grundlagen" der europäischen Ordnung, donnerte die Kommissionspräsidentin in Brüssel. Das "Europaparlament" der EU war nicht zu übertreffen. "Sie wagen es, sich der Europäischen Union zu widersetzen, das lassen wir nicht zu", sagte sogar der Sprecher von La France Insoumise, der nicht zögerte, den Wachhund der europäischen Ideologie zu spielen. Und beim Europäischen Rat der EU am 21. Oktober brachten auch viele der dort versammelten Staats- und Regierungschefs – wie etwa Emmanuel Macron – ihre Wut zum Ausdruck. Nur Angela Merkel versuchte, das Spiel ein wenig zu beruhigen, da sie sich bewusst war, dass eine Konfrontation mit Warschau unweigerlich zu einer gefährlichen Situation für die Europäische Union als Ganzes führen würde.

Denn das polnische Gericht hat recht: Der Vorrang des "europäischen" EU-Rechts ist in keinem Vertrag verankert. Nur die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat dies festgelegt, und diese Auslegung ist nur deshalb gültig, weil keine Regierung sie jemals in Frage gestellt hat. In diesem Fall argumentiert Warschau, dass die Länder zwar der Übertragung von Souveränität in bestimmten Bereichen (z.B. Wirtschaft) zugestimmt haben, die Organisation jedes landesinternen Justizsystems – der Schwerpunkt des aktuellen Streits mit Brüssel – jedoch ein nationales Vorrecht bleibt.

Aber auch wenn die Kommission rechtlich unrecht hat, hat sie politisch recht. Denn die polnische Position stellt das Wesen der europäischen Integration infrage: Wenn ein Land den Anspruch erhebt, gegen die Gemeinschaftsinstitutionen in letzter Instanz entscheiden zu können, wozu dann eigentlich die Europäische Union? Das haben viele EU-Politiker verstanden: Sie warnen, dass das Ende der EU in Sicht ist, wenn der von Polen geschaffene Präzedenzfall – der von Ungarn sofort unterstützt wurde – akzeptiert wird.

Zumal das polnische Urteil nicht aus heiterem Himmel kam. Bereits im Jahr 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in einem Urteil den Vorrang des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) der EU infrage gestellt: Aus Karlsruhe wurden die Deutsche Bundesbank und die Bundesregierung angewiesen, sich der Autorität des BVerfG zu unterwerfen und nicht der des EuGH in Luxemburg. Der Donnerschlag war enorm. Und auch von außerhalb der EU gibt es beunruhigende Signale: In Norwegen hat die Zentrumspartei (die sich für die Dezentralisierung einsetzt), der Juniorpartner in der kommenden Koalition, gerade erklärt, dass das Land den EU-Binnenmarkt verlassen sollte. Im vergangenen Frühjahr brach die Schweiz die langwierigen Diskussionen mit Brüssel über die engere Zusammenarbeit mit der EU ab, da man ihr eine Zwangsjacke aufzwingen wollte, die mit derjenigen aller regulären EU-Mitgliedsstaaten vergleichbar wäre.

Innerhalb der Union mehren sich die Stimmen, die jene Legitimität des letzten Wortes in Frage stellen, welche man in Brüssel im Namen der "europäischen Werte" für sich beansprucht. So laut übrigens, dass Le Monde sich kürzlich (6. Oktober 2021) über diese "Epidemie" in Frankreich empörte: "Es ist Mode geworden, Verfassungsreferenden zu fordern (...), um den Einfluss der europäischen Gerichte auf das französische Recht anzufechten."

Der Kolumnist der Tageszeitung prangerte den ehemaligen Sozialisten Arnaud Montebourg an, der sich dafür eingesetzt hat, dass das französische Parlament "in letzter Instanz die nationale Souveränität zum Ausdruck bringt"; und noch mehr den EU-freundlichen Michel Barnier, der einen nationalen "verfassungsrechtlichen Schutzschild" (zur Migration) forderte, um das Land vor den Urteilen des EuGH zu schützen. Der Mann, der zehn Jahre lang EU-Kommissar war, möchte für den Élysée-Palast kandidieren und versucht, die Stimmung in der Bevölkerung einzufangen, indem er seine Erfahrungen als Brexit-Verhandlungsführer nutzt, um zu warnen: Die Entscheidung des britischen Volkes, so betont er, war kein Zufall und könnte sich auch anderswo wiederholen, wenn wir weiterhin taub für die Wünsche der Menschen sind. Gleichzeitig schlägt die britische Tageszeitung The Telegraph vor, dass man sich in London, anstatt mit Brüssel einen Ausstieg auf der Grundlage von Artikel 50 zu verhandeln, vielleicht einfach hätte weigern können oder sollen, "europäisches" EU-Recht anzuwenden...

Also was nun? Aus der EU austreten oder die Überlegenheit des nationalen Rechts durchsetzen? Es ist eigentlich immer dieselbe Frage. Nur ist die zweite Variante bei den Citoyens potenziell konsensfähiger.

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Pierre Lévy ist ein französischer Journalist. Er war ehemaliger Redakteur der Tageszeitung L'Humanité von 1996 bis 2001. Er ist Chefredakteur der Monatszeitschrift Bastille-République-Nations, die jetzt Ruptures heißt. Sein Themenschwerpunkt ist die Europäische Union.

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