von Wladislaw Sankin
Die deutsche Russland-Politik spielt keine Rolle beim gerade ausklingenen Bundestagwahlkampf. Solange die Koalitionsgespräche dauern, wird unklar sein, ob und wie das Dilemma zwischen der proklamierten Werteorientierung und Pragmatismus im neuen Kabinett gelöst wird. Klar ist auf der anderen Seite, dass die Bundesregierung nach dem klaren Sieg der Regierungspartei "Einiges Russland" bei der Duma-Wahl vom 17. bis 19. September in den nächsten Jahren von Russland und dessen Präsidenten Wladimir Putin keine neue außenpolitische Orientierung zu erwarten hat. Ein guter Anlass, einen Blick auf die 16 Jahre Merkel-Politik gegenüber Russland zu werfen.
Den deutschen Medien kommt bei der Ausgestaltung dieser Politik eine besondere Rolle zu. 1998 hatte der vorherige niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder den Kanzlerthron noch mit Unterstützung der Medien bestiegen. Aber schon sieben Jahre später schien die Stimmung umgeschlagen zu sein. Je enger Schröders freundschaftliche Beziehungen zu Putin wurden, desto mehr machte sich der Kanzler für die Presse untragbar. Aber nicht nur für sie. Die Aufnahme vieler Staaten Ostmitteleuropas in NATO und EU führte 2004 in diesen supranationalen Organisationen zu einer entscheidenden Kräfteverschiebung. Bei den "neuen Europäern" und allen voran in Polen und im Baltikum wurde die von der Schröder-Regierung herbeigeführte deutsch-russische Annäherung mit äußerster Argwohn betrachtet.
Seit seinem Wechsel direkt nach dem Kanzlerjob in die Aufsichtsräte russischer Energieunternehmen machte sich Schröder endgültig vogelfrei für Anfeindungen durch Pressevertreter. Sein Verhalten sei eines deutschen Altkanzlers unwürdig, so war seitdem der Grundton. Bereitwillig stellte sich Schröder immer wieder einem Schlagabtausch: "Es geht um mein Leben, und darüber bestimme ich – und nicht die deutsche Presse."
Bisheriger Gipfel dessen dürften die Anschuldigungen des russischen Oppositionsaktivisten Alexei Nawalny in einem Bild-Interview im September 2020 gewesen sein, als dieser nach seinem Krankenhausaufenthalt in der Berliner Charité Schröder als "Putins Laufburschen" beschimpfte und ihm heimliche Zahlungen aus dem Kreml unterstellte – haltlos. Deutsche Medien berichteten genüsslich von dem "Skandal".
Anders Merkel. Im Unterschied zum "machohaften" Schröder hat es die eher unscheinbare Ex-Naturwissenschaftlerin vermocht, zu einem Liebling der deutschen Presse zu werden. Und sie war anders als Schröder durch und durch proamerikanisch, was bei der Presse auf wenig Widerstand stieß. "Die von Konrad Adenauer geprägte, von Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt und Kohl letztlich fortgesetzte, von Gerhard Schröder aber in Frage gestellte Staatsraison einer transatlantischen Sonderbeziehung hat sie gleich doppelt verinnerlicht", schrieb Parlamentskorrespondent Robin Mishra kurz nach ihrer ersten Kanzlerwahl im November 2005 über sie. Kurz vor der Bundestagswahl 2009 trat derselbe Journalist bereits im Hinblick auf die noch nicht geschriebenen Geschichtsbücher mit konkreten Ratschlägen hervor.
"Um als prägende deutsche Kanzlerin angesehen zu werden und auf Augenhöhe mit Konrad Adenauer, Willy Brandt oder Helmut Kohl zu kommen, müsste sie in einer zweiten Amtszeit klarmachen, für welche Überzeugungen sie eintritt."
Seiner Meinung nach, so Mishra damals, müsste Merkel noch stärker als zuvor für den Klimaschutz eintreten, um das Image der "Klimakanzlerin" zu verfestigen. Sie müsste sich auch ihr Profil beim Schutz der Menschenrechte und weltweiten Einsatz für Freiheit und Demokratie stärken. "Eine zweite Merkel-Regierung sollte diesen Akzent verstärken und zum Beispiel – wie es das Wahlprogramm der CDU/CSU vorsieht – die Gewährung von Entwicklungshilfe stärker an die Beachtung von Menschenrechten knüpfen", schrieb der Journalist. Seine Ratschläge dürften nicht unbemerkt geblieben sein, was sich an seiner raschen Beförderung in den Regierungsapparat messen lässt, in dem er bis heute als PR-Spezialist arbeitet.
2009 war das Jahr der Massenproteste in Iran, der US-amerikanische Versuch, die Ukraine und Georgien in die NATO aufzunehmen, lag nur ein Jahr zurück. Nach Putins berühmter Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 sind zweieinhalb Jahre vergangen. Aber in jenem Jahr war der Westen hauptsächlich noch mit Folgen der im September 2008 ausgebrochenen Weltfinanzkrise beschäftigt, die späteren Russland-Krisen waren noch weit entfernt.
Zwar setzt sich schon in Merkels erster Amtszeit in Berlin die Ansicht durch, dass der Weg nach Moskau für jeden deutschen Politiker über Warschau führt. Als führende EU-Macht begreift sich Deutschland fortan als Schutzmacht der Staaten Ostmitteleuropas – zulasten der Russland-Beziehungen. In der Presse, die Stichwortgebern in den US-kontrollierten Thinktanks lauscht, wird es bald zur Maxime, dass es keine Sonderbeziehungen zu Russland zulasten "unserer neuen EU-Partner" geben dürfe.
Dennoch, die ersten Amtsjahre Merkels waren nicht von Konflikten mit dem schon damals als Autokrat kritisierten Putin geprägt. Bei den ersten Treffen mit ihm in Berlin, Moskau und Sotschi herrschte noch die Aufbruchsstimmung, die für Schröder-Jahre charakteristisch gewesen war. Und das, obwohl Putin Merkel angeblich schon bei ihren ersten Begegnungen mit seinem "KGB-Blick" und zwei berühmten Hunde-Vorfällen provoziert hatte.
Putins vor allem gegen die USA gerichtete Münchner Rede stieß in Deutschland, wie der FAZ-Herausgeber Berthold Kohler beklagte, auf kaum Widerstand. Weder die Kanzlerin noch Außen- (damals Frank-Walter Steinmeier, der zugleich Vizekanzler war) oder Verteidigungsminister (damals Franz Josef Jung) hätten dem "lupenreinen strategischen Partner Putin direkt, an Ort und Stelle, in gleicher freundschaftlicher Offenheit" widersprochen.
Später wurde ausgerechnet diese Eigenschaft Merkels – sich Putin direkt widersetzen zu können – von den deutschen Medien besonders hoch geschätzt. Aber im Jahr 2007 hatte der einflussreiche Publizist, der viele Jahre später wieder mal eine härtere Gangart gegenüber Russland forderte, deutlich gemacht, dass Deutschland ein Interesse an möglichst guten Beziehungen zu einem "verlässlichen Russland" habe. An keiner Stelle beschimpft er Putin als Autokraten, im Gegenteil, er schätzt, dass Putin Russland in seiner siebenjährigen Amtszeit zweifellos größere Stabilität verschafft hat.
"Das Wort von der 'strategischen Partnerschaft' ist der Bedeutung der Beziehungen angemessen", betont Kohler.
Strategische Partnerschaft setze allerdings die von Putin in seiner berühmten Rede im Deutschen Bundestag höchstpersönlich versprochene Bereitschaft aus, Russland auf den Weg der Demokratie zu bringen. Die Rede jährt sich am 25. September, zum 20. Mal. Die Putin-Kritiker im Westen rechneten mit dem baldigen Ende seiner zweiten Amtszeit und setzten auf einen "liberaleren" Nachfolger. Putin spürte diesen westlichen Wunsch und ging auf die schon damals diskutierte Idee einer Verfassungsänderung, die ihm eine weitere Amtszeit ermöglichen würde, nicht ein. Laut dem damaligen Leiter der Russland-Programme der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) Alexander Rahr war das von Putin eine "versöhnliche Geste". Der Fehler des Westens sei es gewesen, sie als einseitiges Zugeständnis zu bewerten.
Denn nur einen Monat nach den russischen Präsidentschaftswahlen in März 2008 besuchte der damalige US-Präsident George W. Bush Kiew, um am nächsten Tag während eines NATO-Gipfels in einer Blitzaktion für die Ukraine den Status eines NATO-Beitrittskanditaten (MAP) zu erwirken. Es folgten der Georgienkrieg im August 2008 und im Frühjahr 2011 der "Arabische Frühling", die NATO-Intervention in Libyen und der Beginn des Syrienkrieges.
Diese Ereignisse bekräftigten bei Putin den offenbar schon früher gefassten Entschluss, in den Kreml zurückkehren zu wollen. Nach den Duma-Wahlen im Dezember 2011 setzte in Russland eine Protestwelle ein, die als Bolotnaja-Bewegung bekannt wurde. Der Westen sympathisierte mit den Protestlern. Mitten in die Unruhen hinein trat die feministische Anarcho-Band "Pussy Riot" mit dem sogenannten "Punk-Gebet" in der Moskauer Erlöser-Kathedrale auf. Drei Aktivistinnen wurden von der russischen Justiz wegen Rowdytums verfolgt und zu zwei Jahren Haft verurteilt. In Deutschland erlangten sie dagegen durch die massive mediale Begleitung des Prozesses Heldenstatus.
Spätestens ab diesem Moment setzt für die Russland-Expertin Sabine Fischer (Stiftung Wissenschaft und Politik) eine unaufhaltsame Änderung der deutschen Russland-Politik ein. Sie will diese dabei nicht an der Person Merkel festmachen, sondern spricht von "Berlin":
"Die Unterdrückung, die sowohl das Ende von Präsident Dmitri Medwedews Modernisierungsrhetorik als auch Putins Rückkehr in den Kreml begleitete, hat dem russischen Image in Deutschland erheblich geschadet. Erstmals waren die Entscheidungsträger in Berlin gezwungen, die Grundannahmen ihrer Politik gegenüber Moskau in Frage zu stellen – insbesondere die Möglichkeit, sich auf wertorientierte Weise einander anzunähern. Wenn es jemals einen wirklichen Wendepunkt der deutschen Einstellung gegenüber Russland gab, dann zu dieser Zeit", so Fischer in einem Artikel für das Moskau-Carnegie-Center.
In der Tat, die Medwedew-Jahre sind von einem regen deutsch-russischen Austausch und weiteren gegenseitigen Plänen im wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Bereich gekennzeichnet. Medwedew und Merkel besuchten einander häufig, mit dem jüngeren Medwedew fühlte sich Merkel ungezwungen, sie lachen und scherzen. Presseberichte aus dem Jahr 2010 lesen sich wie Zeugnisse einer unwiederbringlich vergangenen Zeit.
"Die Deutschen bestehen darauf, dass Russland den Bau der Nord-Stream-Pipeline forciert, und Merkel soll ein separates Gespräch mit Dmitri Medwedew zu diesem Thema geführt haben", schrieb die Nachrichtenagentur RIA Nowosti über das Treffen Medwedews und Merkels in Jekaterinburg im Juli 2010.
"Die Deutschen bestehen auf Nord Stream!" Die fertiggestellte Pipeline wurde im November 2011 eingeweiht. Medwedew und Merkel drehten zusammen mit Wirtschaftskapitänen symbolisch den Gashahn der ersten Linie der Pipeline auf. Heute fabulieren teilweise dieselben Personen über die zweite Leitung der Gas-Pipeline als mutmaßliche politische Waffe in russischer Hand. So kurz kann wohl das Gedächtnis sein. Noch erstaunlicher klingt die Passage, dass Russland und Deutschland keine politischen Differenzen hätten:
"Die politische Agenda sieht im Vergleich zur wirtschaftlichen Agenda sehr viel bescheidener aus. Dies liegt jedoch daran, dass es keine besonderen Unterschiede in der Herangehensweise an die größten Probleme der Geo- und Regionalpolitik zwischen Moskau und Berlin gibt."
Die Stimmung dieses Treffens im Rahmen des Petersburger Dialogs beschrieb die Wirtschaftszeitung Kommersant als ausgezeichnet. "Medwedew und Merkel ließen keine Gelegenheit aus, sich gegenseitig Komplimente zu machen." So soll Merkel Medwedew halb im Scherz gesagt haben, er solle wieder einmal ein "Kandidat" (bei Wahlen) werden, erzählt Alexander Rahr, der dem Treffen dabei war.
Kanzlerin Merkel trat dennoch wie eine Lehrmeisterin in Sachen Menschenrechte auf, gibt aber zu verstehen, dass sie Medwedew für einen guten "Schüler" hält. Im Hinblick auf den Mord an der Menschenrechtsaktivistin Natalia Estemirowa sagte sie: "Für die Zivilgesellschaft ist es wichtig, dass Menschen, die die Menschenrechte einschränken und die Freiheit der Meinungsäußerung einschränken, bestraft werden." Der Kommersant schränkt aber ein: "Frau Merkel machte jedoch deutlich, dass Dmitri Medwedew nicht zu diesen gehört." Merkel sagte: "Wir begrüßen, dass der Präsident einen Rat für die Entwicklung der Zivilgesellschaft in Russland geschaffen hat."
Das waren noch Zeiten, als Merkel auf die Wirtschaft gehört hat. Die Konsultationen in Jekaterinburg, an denen beide Ministerkabinette teilnahmen, waren ein Treffen in Rahmen eines "großen Trecks nach Osten", die nächsten Stationen auf Merkels Reise waren Kasachstan und China. Im Zuge der Eurokrise gehe es Deutschland wirtschaftlich nicht gut, die CDU sinke in den Umfragen, schrieben russische Medien zu Merkels Motivation. Bei diesem denkwürdigen Treffen wurden viele Vereinbarungen getroffen, von denen Deutschland und Russland bis heute profitieren. Der Aufschwung ließ sich in Zahlen messen: Im Jahr 2012 erreichte der deutsch-russische Handel einen Umfang von ca. 80 Milliarden Dollar – ein Wert, der in wenigen Jahren infolge der Sanktionen um fast 50 Prozent sinken wird.
So, wie es in Jekaterinburg in Juli 2010 gelaufen ist, durfte es nicht mehr kommen. Rahr, der in den Vorjahren mit seiner Tätigkeit als Vermittler noch über erheblichen Einfluss auf die deutsche Regierung verfügt hatte, wurde immer mehr ausgegrenzt und verließ im Jahr 2012 die DGAP. Später erzählte er, dass bereits im Jahr 2011 in den deutschen Machtzentren zu hören war, Russland sei nicht mehr so wichtig.
Das hat, wie schon erwähnt, mit Putins Rückkehr auf den Präsidentensessel zu tun. Ab diesem Moment wurde der Dämonisierung Putins keine Schranken mehr gesetzt, und die deutschen Medien wurden fortan von Regime-Change-Fantasien ergriffen. In Dezember 2011 titelte die Zeit über Nawalny: "Der Blogger, der Putin stürzen will". Knapp neun Jahre später wird Merkel Nawalny in seinem Krankenhauszimmer in Berlin besuchen.
Als die schon in den Vorjahren angekündigte wirtschaftliche Integration im postsowjetischen Raum unter Moskaus Federführung Fahrt aufnahm, begaben sich Berlin und Brüssel in den geopolitischen Kampfmodus. Die Europäische Volkspartei, die CDU, Merkel und die Medien waren ganz vorne mit dabei. Die Ukraine dürfe auf keinen Fall in Russlands Orbit bleiben und müsse an die EU und den Westen herangeführt werden – so lautete die Maxime.
Um jeden Preis, denn Deutschland wie auch zahlreiche andere westliche Staaten scheuten keine Einmischung in ukrainische Angelegenheiten, unterstützten die Opposition diplomatisch und finanziell und beteiligten sich an Provokationen. Am Ende der Eskalationsspirale standen das bis heute nicht aufgeklärte Blutbad auf dem Kiewer Maidan und der bewaffnete Staatsstreich. Wie sich später herausstellte, sollten die Abspaltung der Krim, der Krieg in der Ostukraine und die endlose Sanktionsspirale der Preis dafür sein. Deutsche Politik und Medien waren sich bewusst, was für ein heißes Eisen sie anfassten:
"Es geht um Geopolitik, um das 'Grand Design', wie es die Experten gern nennen. Und es geht – ob die Kanzlerin nun will oder nicht – um Angela Merkel und Wladimir Putin ganz persönlich", schrieb Der Spiegel im Dezember 2013.
"Der Kampf um die Ukraine ist einer zwischen dem russischen Präsidenten und der deutschen Kanzlerin."
Später werden die Medien Merkel als friedliche Vermittlerin darstellen, die den Krieg zwischen Russland und der Ukraine verhindern will. In Wirklichkeit stellte sie sich auf die Seite Kiews, wie auch ihre letzten Besuche in Moskau und Kiew in August gezeigt haben. Letztendlich ging es der Kanzlerin darum, das gewonnene geopolitische Terrain – die Ukraine – in ihrem Einflussbereich zu sichern.
Dass die Kanzlerin das Sterben der Zivilisten in diesem Krieg und allen voran im Rebellengebiet als Problem betrachtet, ist jedenfalls anzuzweifeln, denn sowohl sie als auch Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (diese behauptete fälschlicherweise in einer Anne-Will-Sendung, 10.000 ukrainische Soldaten seien im Krieg gestorben) betrauern nur über den Tod ukrainischer Soldaten. Kein Wunder, denn ausgerechnet ukrainische Militärangehörige werden seit Jahren im Berliner Bundeswehr-Krankenhaus behandelt. Belege für die deutsche Beteiligung am verfassungswidrigen Staatsstreich in Kiew, infolge dessen in der Ukraine radikale Kräfte die Oberhand gewonnen haben, gibt es viele, sie werden aber von den Medien ignoriert.
Wegen der Ukraine-Krise standen die deutsch-russischen Beziehungen im Jahr 2014 vor dem Aus. Dennoch hat Merkel mit Putin so oft wie mit niemandem sonst telefoniert – die nicht geschlossenen Gesprächskanäle führten letztendlich dazu, dass die Folgen der Krise wenn nicht beseitigt, dann zumindest unter Kontrolle gebracht werden konnten. Trotz gegenseitiger Vorwürfe und Skandalen entwickeln sie sich weiter. Ihretwegen oder doch ihr zum Trotz? Sowohl als auch.
"Unsere Beziehungen zu Deutschland sind so vielfältig, dass man sie mit einem Wort – gut, schlecht oder mittelmäßig – nicht umschreiben kann. Ja, in der Politik sieht es derzeit nicht blendend aus. In der Wirtschaft schon etwas besser. Und auf jeden Fall sieht es bei der Zusammenarbeit im Bereich Kultur, Kooperation zwischen Städten und Regionen, oder einzelnen Personen gut aus. Es geht darum, dass die Politiker mit ihren negativen Vorstellungen, die sich von unseren unterscheiden, die anderen Bereiche nicht verschlechtern", sagte der ehemalige russische Botschafter in Deutschland Sergei Krylow im russischen Fernsehen.
In Deutschland, den USA und Europa gibt es genug Kräfte, die sich noch mehr Konfrontation mit Russland als derzeit anstreben. Wenn sich in der Außenpolitik kein Vorwand für Eskalation finden lässt, wollen sie Putin wegen innerrussischer Angelegenheiten wie z. B. dem Umgang mit der Opposition und dem Funktionieren des Rechtssystems "in die Schranken weisen". "Russland hat Kremlkritiker Nawalny zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt. Ein Urteil ohne jede rechtsstaatliche Grundlage. Europa überlegt noch, wie deutlich Putin in die Schranken verwiesen werden soll", schreibt etwa der Hauptstadtkorrespondent des Spiegel Markus Feldenkirchen in einem Kommentar für den NDR und fordert:
"Man muss Putin klare Kante zeigen!"
Klare Kante heißt Sanktionen, die Journalisten zufolge gnädigerweise weder zu Hunger noch zu Arbeitslosigkeit führen müssten – und natürlich den Stopp der Gas-Pipeline Nord Stream 2 bedeuten würden. Journalisten wie Feldenkirchen gibt es Dutzende, und immer wieder sagen sie das Gleiche – "man muss Putin klare Kante zeigen".
Wenn Merkel in dieser Atmosphäre Russland unter Beibehaltung großer wirtschaftlicher Projekte zur Einhaltung der Menschenrechte mahnt und in den Prachtsälen des Kreml beispielsweise die Freilassung Nawalnys fordert, werden solche Gemüter zumindest ein bisschen besänftigt. Merkel weiß doch, wie sie in der Presse gut rüberkommt.
Die Russen werden angesichts der deutschen Anmaßung wieder mal den Kopf schütteln – aber was soll's. Wenn sogar Merkels langjähriges Gegenüber Putin selbst sagt, dass er die Kanzlerin für ihre direkte Art schätzt, sollte das niemanden groß aufregen. Hauptsache ist – um wieder mit Putin zu sprechen –, dass "Deutschland unser wichtigstes Partner in Europa" ist. Wie adäquat auch immer die jeweiligen Kanzler die medial-politische Realität in Deutschland und Europa wahrnahmen – auch sie müssen gehen, während die deutsch-russischen Beziehungen bleiben.
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