Hat EU-Recht Vorrang vor der nationalen Verfassung? – Polens Streit mit dem Europäischen Gerichtshof
Der Konflikt zwischen Polen und der EU spitzt sich weiter zu. Es geht um die Frage, ob EU-Recht Vorrang vor der nationalen Rechtsprechung hat. Das Verfassungsgericht in Warschau wird voraussichtlich heute ein Urteil in dieser Frage fällen. Laut der Zeit rechnen "fast alle Beobachter mit einem Urteil, das die nationale Verfassung über EU-Recht stellt". Welche Auswirkungen ein solches Urteil auf das Gefüge der EU haben wird, ist offen.
Der Brüsseler Justizkommissar Didier Reynders warnt in der Financial Times:
"Es besteht eine reale Bedrohung für die gesamte Architektur der EU."
Die liberale polnische Zeitung Rzeczpospolita, die eher der polnischen Opposition zugewandt ist, formuliert:
"Folgt das Verfassungstribunal den Argumenten der Regierung, wären wir auf dem Weg in den Polexit."
Konkret geht es in dem Rechtsstreit um die Gestaltung des polnischen Justizsystems. Seit ihrem Wahlsieg 2015 forcierte die nationalistische polnische Partei PiS ("Recht und Gerechtigkeit") eine Änderung des Justizsystems. Zunächst wurde das Verfassungstribunal mit neuen Richtern besetzt, die Kritikern zufolge aus dem parteinahen Umfeld stammen. Zur Vorsitzenden wurde 2016 Julia Przyłębska ernannt, eine Vertraute des PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński, die nun auch den Vorsitz in dem laufenden Verfahren führt.
Nachfolgend wurde 2017 die sogenannte "Disziplinarkammer des Obersten Gerichts" per Gesetz installiert. Diese hat die Funktion, Gerichtsurteile zu überprüfen und im Bedarfsfall disziplinarische Schritte einzuleiten. Für die Befürworter ist das eine demokratische Überwachungsmöglichkeit der Gerichte, für die Gegner die Aufhebung der Gewaltenteilung und die Kontrolle der Gerichte durch die regierende PiS-Partei.
Heute fällte der Europäische Gerichtshof (EuGH) das Urteil, wonach die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts gegen EU-Recht verstoße, weil sie nicht alle Ansprüche an die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit von Richtern erfülle. Bereits im April 2020 hatte der EuGH in einer einstweiligen Verfügung entschieden, dass die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts ihre Arbeit zunächst aussetzen müsse, weil sie möglicherweise nicht politisch unabhängig sei.
Trotz dieser Anordnung blieb die Disziplinarkammer weiter aktiv. Erst gestern hatte der EuGH eine weitere einstweilige Verfügung erlassen: Darin wird Polen aufgefordert, die Bestimmungen auszusetzen, mit denen die Disziplinarkammer ermächtigt wird, über Anträge auf Aufhebung der richterlichen Immunität sowie über Fragen zur Beschäftigung und Pensionierung von Richtern zu entscheiden. Das polnische Verfassungsgericht antwortete damit, dass es einstweilige Anordnungen des EuGH für unzulässig erklärte, wenn diese das polnische Justizwesen betreffen.
Der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro kommentiert das gestrige Urteil des polnischen Verfassungsgerichts zustimmend:
"Mit diesem Urteil setzt sich das polnische Verfassungsgericht für den Schutz der polnischen Verfassungsordnung ein, und zwar vor rechtswidrigen Eingriffen, einer Art Machtergreifung, einer juristischen Aggression seitens der Organe der Europäischen Union, die – ohne jeden Grund – antraten, die Verfassungsorgane des polnischen Staates zu stoppen."
Der polnische Ombudsmann für Bürgerrechte, Adam Bodnar, warnt hingegen vor den Folgen "für den freien Fluss von Waren, Kapital oder Dienstleistungen", wenn "jedes EU-Mitglied das EU-Recht auf eigene Weise interpretieren würde".
Sollte das polnische Verfassungsgericht sich mit seinem heute zu erwartenden Urteil gegen das EuGH stellen, droht eine weitere Eskalation des Konflikts. Beide Seiten scheinen momentan wenig kompromissbereit zu sein und werfen sich wechselseitig Befangenheit vor. Erschwerend kommt hinzu, dass sich der Streit tatsächlich in einer Grauzone abspielt: Die Rechtslage ist nicht vollkommen geklärt.
Die rechtliche Legitimität der EU beruht auf den einzelnen Mitgliedsstaaten. Die Befugnisse der EU-Behörden wurden ihr in den Europäischen Verträgen von den Mitgliedern übertragen. Diese Befugnisse haben klare Grenzen. Der Tagesspiegel resümiert:
"Die Organisation der Justiz gehört nicht dazu, auch nicht die Festlegung, was im Sexualkundeunterricht gelehrt wird und welche Mitsprache die Eltern dabei haben."
Die große Frage ist, wie die EU damit umgehen wird, wenn ein Mitgliedsstaat erklärt, künftig nicht mehr dem EU-Recht den Vorrang zu gewähren. Einen gewissen Präzedenzfall hatte der Rechtsstreit zwischen dem deutschen Bundesverfassungsgericht und dem EuGH geschaffen. Das Bundesverfassungsgericht hatte sich im Mai 2020 im Fall von milliardenschweren Staatsanleihekäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) gegen ein Urteil des EuGH gestellt. Schon damals hatte der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki von "einem der wichtigsten Urteile in der Geschichte der EU" gesprochen. Der Streit zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH ist noch nicht abgeschlossen: Am 9. Juni leitete die EU-Kommission ein förmliches Verfahren wegen von ihr gesehener Vertragsverletzung ein.
Im Fall von Polen scheinen die Handlungsalternativen beider Seiten begrenzt zu sein. Die Zeit analysiert, dass ein EU-Austritt Polens – ein "Polexit" – in dem Land keineswegs mehrheitsfähig wäre. Hinzu kommt, dass Polen stark von EU-Fördergeldern profitiert. Die EU selbst könne auch keinen Rauswurf Polens vorantreiben, ohne ihre eigene Integrität zu gefährden, wohl aber mit der Streichung von Fördergeldern drohen. Für die Zeit stellt sich als wahrscheinlichstes Resultat ein "Ausgleich" Polens mit der EU – der innere Zusammenhalt der EU drohe sich jedoch weiter zu schwächen.
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