Das Rücktrittsgesuch des berüchtigten Kiewer Innenministers Arsen Awakow war möglicherweise nicht seine eigene, ganz individuelle Entscheidung. Viel eher könnte ihm George Kent, der neue amtierende US-Botschafter in Kiew, "geraten" haben, sein Amt niederzulegen. Zu diesem Schluss kommt das ukrainische Portal strana.ua nach mehreren Gesprächen mit Abgeordneten des ukrainischen Parlaments Werchowna Rada.
Awakow traf sich als allererster ukrainische Offizieller mit dem neuen US-Diplomaten am 12. Juli. Mehrere Jahre war das Amt des US-Botschafters in der Ukraine unbesetzt und wurde nur temporär durch Vertreter ausgeübt. Deswegen war das Eintreffen eines offiziellen US-Gesandten in Kiew durchaus ein wichtiges Ereignis. "Ich führte ein Treffen mit George P. Kent durch. Die USA sind ein strategischer Partner der Ukraine, der eine harte und konsequente Position bezüglich der Unabhängigkeit der Ukraine, ihrer Souveränität und territorialen Integrität bezieht", schrieb Awakow auf seinem Twitter-Account und postete ein Foto von sich, gemeinsam mit dem US-Botschafter. Am nächsten Tag reichte Awakow sein Rücktrittschreiben ein – wie auch RT DE bereits berichtete.
Seit Jahren wird in der Ukraine gemunkelt, dass die US-Botschaft für bedeutende Entscheidungen im Land wichtiger sei als der Sitz des Präsidenten. Ende Juni ernannte das ukrainische Politmagazin Fokus sogar die US-Chargé d'affaires in der Ukraine Christine Quinn zur einflussreichsten Frau des Landes, immerhin kam die Botschafterin Großbritanniens auf den fünften Platz.
"Ja, sie (Quinn) ist keine ukrainische Bürgerin, aber sie ist Symbol des ganzen Einflusses der Botschaft auf die Situation in der Ukraine", kommentierte der Chef-Redakteur des Magazins das Rating.
Der 57-jährige Politiker und Ex-Geschäftsmann wurde nur wenige Tage nach dem Maidan-Staatsstreich am 27. Februar 2014 von der damaligen "Provisorischen Regierung" bereits zum Innenminister ernannt. Im Frühjahr und Sommer 2014 spielte Awakow eine maßgebliche Rolle bei der Eingliederung der rechtsradikalen Maidan-Milizen in die Sonderpolizei, die Nationalgarde und die regulären Streitkräfte und gilt seitdem als Schirmherr der nationalistischen Paramilitärs und rechtsradikalen "Straßenaktivisten", die für viele tödliche Angriffe verantwortlich gemacht werden. Ihm wird auch die Nähe zu ukrainischen Oligarchen und vor allem persönlich zu Igor Kolomoiski nachgesagt.
Nach übereinstimmenden Einschätzungen vieler Experten stellt Awakow in der ukrainischen Politik ein Machtzentrum dar, das in vielen Fragen in Opposition zum Präsidenten stehen könnte. "Das Schwergewicht hat mehrere Premierminister überlebt und arbeitet bereits beim zweiten Präsidenten", stellt ein russisches Nachrichtenportal fest.
Nichtsdestotrotz wird schon seit Langem über seinen Rücktritt spekuliert. Noch im letzten Jahr schlug das Komitee für Strafverfolgungsangelegenheiten des ukrainischen Parlaments vor, Awakows Entlassung zu erwägen, wobei das Komitee diese Resolution einstimmig unterstützte. Präsident Wladimir Selenskij widersetzte sich jedoch den Forderungen und sagte, dass "es immer noch keinen besseren Minister gibt" und dass Awakow eine "wunderbare" Person sei, die man in der Regierung haben könne.
Nun muss die Werchowna Rada über seinen Rücktritt am Donnerstag abstimmen. Für viele gilt die Zustimmung des Parlaments als sicher. Nach Meinung mehrerer Rada-Abgeordneten riet der neue US-Botschafter Awakow zum Rücktritt, weil die US-Amerikaner und ihnen nahestehende "Antikorruptionsaktivisten" den Innenminister für Hindernis der Reformen und für einen Lobbyisten der ukrainischen Oligarchen halten. Die Beschneidung von deren Einflüssen ist eines der erklärten Ziele des Westens in der Ukraine. Im Gegenzug wurde Awakow wohl ein sorgloser Ruhestand angeboten, vermutete einer der Gesprächspartner.
Ein Abgeordneter der im Südosten des Landes populären Partei "Oppositionsplattform –Für das Leben" brachte Awakows Rücktritt mit der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen in Verbindung. Er wies darauf hin, dass Awakow noch im Dezember 2019 den Präsidenten beim Treffen des Normandie-Gipfels in Paris als "Aufseher" begleitet hatte. "Alles gut, es gibt keinen Verrat", sagte er damals nach dem Treffen den Journalisten. Mehrere Tausend Nationalisten protestierten seinerzeit in einer vom Innenministerium kontrollierten Aktion im Zentrum von Kiew gegen die sogenannte "Steinmeier-Formel". Auch danach haben solche Proteste das Regierungsviertel in Kiew immer wieder erschüttert.
"Der gemeinsame 'Westen' hat begonnen, Selenskij zur Einhaltung der Minsker Abkommen zu bewegen, einschließlich der Steinmeier-Formel", sagte der Abgeordnete im Hinblick auf den letzten Besuch des ukrainischen Präsidenten in Berlin, wo er sich mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel, mit dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier und dem Unions-Kanzlerkandidaten Armin Laschet traf.
Sie sogenannte Steinmeier-Formel sieht die Abhaltung von Wahlen in den von Kiew nicht kontrollierten Gebieten noch vor einer Übergabe der Kontrolle über die russisch-ukrainische Grenze an die ukrainischen Truppen vor. Sie ist einer der wenigen gemeinsamen Nenner der Positionen Deutschlands und Russlands in der Donbass-Frage und seit Jahren ein Stein des Anstoßes bei der Lösung des Konflikts.
Der Einfluss der US-Botschaft ist allerdings nicht die einzige mögliche Erklärung des Rätsels um Awakows Rücktritt, denn es könnte auch genau andersherum sein. Laut strana.ua könnte auch Selenskij den langjährigen Innenminister zum Rücktritt aufgefordert haben, weil er sich ohne seine ausdrückliche Erlaubnis mit dem neuen US-Botschafter getroffen hat. Zumindest schätzen einige Quellen aus Regierungskreisen so die Situation ein.
Wer auch immer den einflussreichen Minister zum Rücktritt bewogen haben könnte, eines gilt als sicher: Dieser politische Schritt könnte eine wichtige Weichenstellung sowohl in der ukrainischen Politik als auch in der Donbass-Regulierung sein. Damit kann der Abgang eines Innenministers durchaus internationale Tragweite erlangen.
Mehr zum Thema - Deutschlands Pläne für die Ukraine: Grüne Energien und Rohstoffe liefern