Die weißrussische Regierung wird beschuldigt, eine Maschine des irischen Luftfahrtunternehmens Ryanair bei ihrem Flug von Griechenland in die litauische Hauptstadt Vilnius zu einer Notlandung gezwungen zu haben. So habe Minsk des "Bloggers" Roman Protassewitsch habhaft werden wollen, heißt es seither.
Die Maschine war nach ihrem Weiterflug noch nicht an ihrem eigentlichen Bestimmungsort angekommen, als in den Reihen der transatlantischen politischen Entscheidungsträger Empörung ausbrach. Schnell war von einem vermeintlichen "Akt der staatlichen Luftpiraterie" die Rede, und umgehend wurden erste Sanktionsforderungen laut – noch bevor etwaige Untersuchungsergebnisse vorlagen.
Der deutsche Außenminister Heiko Maas wollte gar einen dreifachen Angriff auf die "Sicherheit des Luftverkehrs, auf die Pressefreiheit und auf europäische Bürger*innen an Bord" in den noch nebulösen Vorgängen erkannt haben.
Auch Politiker der Europäischen Union (EU) beeilten sich, den Vorfall zu verurteilen. So schrieb etwa EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Sonntagabend bei Twitter.
"Das unverschämte und illegale Verhalten des Regimes in Belarus wird Konsequenzen haben."
Zudem wusste von der Leyen von einer "Entführung" des Passagierflugzeugs durch Weißrussland zu berichten. Wie zahlreiche kritische Beobachter im In- und Ausland seither nicht müde werden zu betonen, handelte es sich bei dem mutmaßlichen Vorfall jedoch keineswegs um einen Präzedenzfall. Erinnert wird etwa an den Fall des von der CIA entführten und gefolterten Khaled al-Masri oder an den Sommer 2013, als die Präsidentenmaschine des bolivianischen Staatsoberhaupts Evo Morales in Wien landen musste, weil die USA den CIA-Whistleblower Edward Snowden in der Maschine vermuteten.
Oder aber auch der Fall aus dem Jahr 2016, als ukrainische Sicherheitskräfte unter Androhung des Einsatzes von Kampfjets die Landung des Belavia-Flugs 737 in Kiew forcierten, weil sich der Maidan- und regierungskritische Journalist Armen Martirosjan an Bord befand. Dieser wurde dann aus dem Flugzeug geholt und einer "Befragung" unterzogen.
Der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert bezeichnete diese Beispiele für eine vermutete Doppelmoral der Bundesregierung zuletzt als "schiefe Vergleiche".
Lukaschenko sprach derweil vom Überschreiten mehrerer "roter Linien" durch westliche Regierungen.
"Wie wir vorausgesagt haben, haben die, die uns von außen und von innen schaden wollen, ihre Methoden für Angriffe gegen den Staat geändert. Sie haben viele rote Linien überschritten, haben die Grenzen des gesunden Menschenverstandes und der menschlichen Moral überschritten."
Es handele sich nicht mehr nur um einen reinen Informationskrieg, sondern um einen modernen hybriden Krieg für den die jüngsten Ereignisse ein weiterer Beleg sein.
Derweil forderte Deutschlands Top-Diplomat Maas "nach der erzwungenen Landung eines Passagierflugzeugs und der Festnahme eines Oppositionellen", wie die dpa berichtet, weitere harte Sanktionen gegen Weißrussland (Belarus). Er könne aber noch keine konkreten Industriezweige oder Unternehmen für Strafmaßnahmen nennen, erklärte Maas am Donnerstag vor einem Treffen der EU-Außenminister in Lissabon.
"Klar ist aber, dass wir uns nicht mit kleinen Sanktionsschritten zufriedengeben wollen, sondern dass wir die Wirtschaftsstruktur und den Zahlungsverkehr in Belarus mit Sanktionen ganz erheblich belegen wollen."
Der "Machthaber" Lukaschenko müsse verstehen, dass die Zeit des Dialogs vorbei sei.
Am Dienstag veröffentliche Minsk die Protokolle des Funkverkehrs des betreffenden Ryanair-Flugs FR4978. Eine "erzwungene" Landung der Maschine geht aus dem Funkverkehr nicht hervor. Nach einer mutmaßlichen Bombendrohung war es laut Protokoll die freie Entscheidung des Piloten, in Minsk zu landen. Wie auch immer man die Lage bewerten mag, von einem "Dialog" über das Geschehene kann kaum die Rede sein.
Wenn Lukaschenko nicht einlenke, so Maas weiter, müsse davon ausgegangen werden, "dass das der Beginn einer großen und langen Sanktionsspirale" sein werde.
Die EU hatte diese Woche bereits neue Sanktionen gegen Minsk auf den Weg gebracht. Dazu gehört ein Flugverbot für Fluggesellschaften der früheren Sowjetrepublik. In Brüssel strebt man an, dass Sanktionen gegen ausgewählte Wirtschaftszweige noch vor dem Sommer in Kraft treten.
Wie der Bundesaußenminister hinzufügte, erwarte die EU nun die Freilassung von mehr als 400 politischen Gefangenen durch Minsk. Maas argumentierte:
"Solange das nicht der Fall ist, kann es bei der Europäischen Union auch kein Nachlassen geben, wenn es darum geht, neue Sanktionen auf den Weg zu bringen."
Derweil erklärte Lukaschenko, dass man "auf alle Sanktionen, Angriffe und Provokationen hart reagieren" reagieren werde.
"Nicht, weil wir einen Kampf im Zentrum des Kontinents austragen wollen. Das wollen wir nicht, davon hatten wir schon genug. Sondern weil sie dort, im Westen, uns keine andere Wahl lassen."
Beschlüsse werden beim Treffen der EU-Außenminister in Lissabon nicht erwartet, da es sich um ein informelles Treffen handelt. Ein Ziel der nun im Eiltempo gegen Weißrussland auf den Weg gebrachten Wirtschaftssanktionen soll nach Angaben des luxemburgischen Außenministers Jean Asselborn die belarussische Kali-Industrie sein. "Das Schlüsselwort ist Kali", sagte Asselborn nach Angaben der Welt. Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis brachte zudem Hersteller von Ölprodukten ins Spiel.
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