Geografie und Größe zählen: Erdoğan spielt riskant, aber clever um geostrategische Energierouten
von Zlatko Percinic
Bei einem Immobilienkauf diktieren nicht nur die Größe und Substanz einer Immobilie den Preis, sondern insbesondere auch deren Lage. Das gilt ebenso für Länder, deren Größe und geografische Lage ihren strategischen "Wert" bestimmen. Deutschland ist beispielsweise solch ein Land in Zentraleuropa, weil es als Brücke zwischen West und Ost dient. Die Türkei erfüllt eine ähnliche Funktion zwischen Orient und Okzident. Mit dem Bosporus verfügt Ankara zudem über die einzige Wasserstraße, die das Schwarze Meer mit dem Mittelmeer verbindet.
Im Jahr 2017 durchquerten 87.593 Schiffe diese Meerenge, davon allein 13.732 LNG-Tanker, die Flüssiggas transportierten. Im Jahr darauf präsentierte die türkische Regierung einen ehrgeizigen Plan für den Bau des "Istanbul-Kanals", der eine zweite Verbindung zum Schwarzen Meer schaffen soll. Im März dieses Jahres erfolgte die Ausschreibung in Verbindung mit jenem "verrückten Projekt", als das es bei seiner erstmaligen Erwähnung im Jahr 2011 bezeichnet wurde. Mit dem Sensationsfund von 320 Milliarden Kubikmetern Gas in der Tuna-1-Quelle des Sakarya-Gasfelds im Schwarzen Meer vor wenigen Wochen, dürfte sich der Bedarf an LNG-Tankern noch weiter erhöhen und damit auch die wirtschaftliche Attraktivität eines "Istanbul-Kanals" weiter steigern.
Mit dem Beschluss der Nationalen Energieförderungspolitik im Jahr 2017 wurden die Weichen die Erkundung und damit für diese Entdeckung gestellt, als in der Folgezeit das seismische Forschungsschiff Oruç Reis sowie drei Bohrschiffe (Fatih, Yavuz, Kanuni) gekauft wurden. Das Ziel sollte sein, sowohl die enormen Energiekosten als auch die -abhängigkeit der Türkei zu reduzieren, was im vergangenen Jahr mit 41 Milliarden US-Dollar zu Buche schlug.
Seit 2018 verringert die Türkei sukzessive ihren Gasimport aus Russland. Noch 2017 machte russisches Gas 52 Prozent der Importe aus, ein Jahr später waren es 47 Prozent und im vergangenen Jahr nur noch 33 Prozent. Dafür wuchs der Anteil an Flüssiggas (LNG) enorm. So wurde die Türkei in kürzester Zeit zum drittgrößten europäischen Importeur von LNG aus den USA.
Diese Zahlen sind durchaus von geopolitischer Bedeutung. Die USA versuchen mit aller Macht, den Marktanteil von ihrem "Friedensgas" in Europa zu erhöhen. Zu Zeiten, wenn frühere politische Bindungen Risse zeigen, wird den Energielieferungen größere Bedeutung beigemessen. Eine gewisse Energieabhängigkeit könnte auch politisch ausgenutzt werden; also genau so, wie es die USA stets Russland vorwerfen. Als wohl größte "Bedrohung" in diesem Sinne betrachtet die US-Regierung den Bau von Nord Stream 2, mit welcher im bewährten Nord Stream zusätzliches Gas aus Russland nach Europa gebracht werden soll. Deshalb zögert Washington seit geraumer Zeit auch nicht mehr, Personen und Unternehmen mit extraterritorialen Sanktionen zu belegen, die das Erweiterungsprojekt in irgendeiner Weise unterstützen.
Wenn im türkischen Sakarya-Gasfeld die Förderung tatsächlich im Jahr 2023 beginnen sollte, wie es der türkische Präsident Erdoğan angekündigt hat, wird die Türkei als noch ein weiterer Akteur im Kampf um Marktanteile hinzukommen. Russland dürfte davon aber stärker betroffen sein als die USA. Mit dem Projekt South Stream wollte Moskau einst zusätzliches Gas nach Südosteuropa liefern, was aber aufgrund einer "Gazprom-Klausel" im Dritten Energiepaket der EU nicht mehr umgesetzt werden konnte. Stattdessen wurde das Projekt in TurkStream umgetauft.
Zwei Erdgasrohre verlaufen durch das Schwarze Meer und treffen bei Kıyıköy/Türkei unweit der griechischen Grenze an Land. TurkStream 1 liefert ausschließlich Gas für den türkischen Markt und endet hier, während die Länder Südosteuropas ab Griechenland selbst für den Ausbau von TurkStream 2 verantwortlich sind. Im Gegenzug sollen sie Transitgebühren erhalten, eine dringend benötigte Einnahmequelle für jedes einzelne der betroffenen Länder.
Auch vor der Küste Israels und Libanons wurden enorme Gasvorkommen entdeckt, während die griechischen Zyprioten noch auf ihren Sensationsfund warten, obwohl man auch dort in den Gewässern riesige Vorkommen vermutet. Diese Länder planten eigentlich, ihr Gas über die ebenfalls in Planung befindliche EastMed-Pipeline in die EU zu liefern. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte sein Land deswegen bereits zu einer "Energie-Supermacht" und wähnte sich im Exportglück. Allerdings sind bisher Ägypten und Jordanien die einzigen Länder, die tatsächlich Gas aus Israel beziehen.
Dass das EastMed-Projekt noch nicht weiter gediehen ist, hat verschiedene Ursachen (Preisentwicklung, Corona, fehlendes Gas u.a.), aber für die größte der Unwägbarkeiten ist die Türkei selbst verantwortlich. Noch bevor das riesige Gasfeld im Schwarzen Meer entdeckt wurde, hat Ankara mit der Umsetzung einer hochkomplexen und risikoreichen geopolitischen Strategie begonnen, die die gesamte Dynamik in der Region verändert. Präsident Erdoğan erklärte bei der Einweihungsfeier von TurkStream am 8. Januar, dass auch er sein Land zu einem "globalen Energie-Drehkreuz" machen will:
Wir wollen unser Land zu einem globalen Energie-Hub machen. Die Türkei war nie auf regionale Spannungen aus. Der einzige Grund unserer Kohlenwasserstoffexplorationen im östlichen Mittelmeer ist der Schutz der Interessen unseres Landes und der Türkischen Republik Nordzypern. Wie wir immer sagen: Kein Projekt hat eine Chance, wirtschaftlich, legal und diplomatisch umgesetzt zu werden, welches die Türkei im östlichen Mittelmeer ausschließt.
Im Vergleich zu Israel zeigt sich hier der Vorteil der geografischen Lage der Türkei und ihrer Größe. Sowohl auf der Ost-West- als auch auf der Nord-Süd-Achse kann die Türkei durch politische Manöver die Träume einzelner Staaten vom Energiereichtum vereiteln. Im Streit mit Griechenland und dem griechischen Zypern um Seegrenzen und exklusive Wirtschaftszonen landete Ankara einen Überraschungscoup, als es im November vergangenen Jahres mit der libyschen Regierung einen Vertrag unterzeichnete, der neue Seegrenzen zwischen den beiden Ländern zog. Mit Militärmanövern vor Zypern und seismischen Untersuchungen des Forschungsschiffs Oruç Reis in umstrittenen Gewässern zieht sich Ankara zwar den Zorn in Athen auf sich, verhindert damit aber zugleich geschickt die Realisierung von Konkurrenzprojekten wie EastMed.
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Erwähnenswert ist an dieser Stelle auch die Feststellung, dass sich sowohl die USA als auch Russland mit Kritik am Vorgehen der Türkei bemerkenswert zurückhalten. Denn beiden Staaten kommt der Umstand zupass, dass Ankara den jeweils anderen als einen weiteren Nebenbuhler um Marktanteile in Europa ausschaltet. Dass die Türkei aber selbst zu einem Rivalen werden könnte, wird jetzt immer offensichtlicher. Und Moskau dürfte das als erstes zu spüren bekommen.
Der Vertrag zwischen Gazprom und dem türkischen Gasbetreiber BOTAŞ für TurkStream 1 endet Ende 2021, so dass es zu neuen Verhandlungen kommen wird. Wie das Bilkent Energy Policy Research Center in Ankara korrekt einschätzt, wird die Ausgangslage bei den Verhandlungen eine ganz andere sein. Nachdem bereits die Gasimporte aus Russland stark reduziert und dafür die Flüssiggasimporte aus den USA und aus Katar massiv ausgeweitet wurden, verfügt die Türkei nun auch über ein eigenes Vorkommen, das ab 2023 operationell genutzt werden soll. Dazu kommt, dass die USA TurkStream 2 – ebenso wie Nord Stream 2 – mit Sanktionen belegt haben. Jedoch wurden bisher die Sanktionen nicht explizit auf BOTAŞ angewendet – oder auch nur damit gedroht –, obwohl das staatliche Unternehmen zusammen mit Gazprom die Fertigstellung auf türkischer Seite betreibt.
Die Gasförderung im Schwarzen Meer wird aber auch Auswirkungen auf den Export von verflüssigtem US-amerikanischem Schiefergas haben, das in Produktion wie Transport deutlich teurer ist als Erdgas durch Rohrleitungen. Der türkische Energieminister Fatih Dönmez geht davon aus, dass die zusätzliche Gasförderung Auswirkungen auf den globalen Gaspreis haben wird. Außerdem zeigte er sich sicher, dass es noch weitere Funde im Schwarzen Meer geben wird. Nicht zu vergessen sind die Explorationsarbeiten im östlichen Mittelmeer und vor der libyschen Küste, welche die Türkei nach dem Abkommen mit Tripolis durchführen darf und zeitgleich vorantreibt.
Dafür geht Erdoğan sogar das kalkulierte Risiko einer militärischen Auseinandersetzung mit Griechenland ein, wohlwissend, dass sowohl die NATO und ebenso wahrscheinlich auch nicht die EU den Griechen zu Hilfe eilen würde. Solange Ankara ein Mitglied dieses transatlantischen Militärbündnisses bleibt und Berlin die Türkei innerhalb der EU in Schutz nimmt, hat der türkische Präsident nicht viel zu befürchten.
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