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Sieg oder Corona? Nachbetrachtung einer umstrittenen Parade in Weißrussland

Das Gedenken an den 2. Weltkrieg hat für Weißrussland eine existenzielle Bedeutung: Fast jeder dritte Einwohner der damaligen Sowjetrepublik starb darin. Trotz heftiger Kritik der WHO ließ Staatschef Lukaschenko die traditionelle Militärparade am Tag des Sieges abhalten.
Sieg oder Corona? Nachbetrachtung einer umstrittenen Parade in WeißrusslandQuelle: Reuters © Vasily Fedosenko

In vielen Ex-Sowjetrepubliken werden die Feierlichkeiten am Tag des Sieges am 9. Mai groß gehalten. Die Hauptparade findet traditionell in Moskau statt, wo neben den feierlichen Formationen auch die neueste Militärtechnik an der Führungsriege des Landes und Kriegsveteranen auf den Tribünen vorbeizieht. Das 75. Jubiläum sollte zu einem besonders wichtigen Ereignis werden, bei dem in Moskau auch politische Botschaften von großer internationaler Tragweite verkündet werden sollten.

Die Anti-Pandemie-Maßnahmen haben dem jedoch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nicht nur die Militärparade und der populäre Volksmarsch "Unsterbliches Regiment" wurden abgesagt. Auch die Kranzniederlegung an vielen Gedenkorten war für die einfachen Bürger nicht möglich. Wegen der strengen Ausgangsbeschränkungen und um die voraussehbare Menschenansammlung zu vermeiden, legten die Regierenden nicht nur in Moskau, sondern auch in vielen weiteren russischen Regionen die Blumen im Alleingang "stellvertretend" für die Bürger nieder.

So begab sich Russlands Präsident Wladimir Putin allein zu der Ewigen Flamme am Grab des unbekannten Soldaten an der Kremlmauer, auf gleiche Weise der Gouverneur des Gebiets Wolgograd, Andrej Botscharow, in den berühmten Saal des Soldatenruhms auf dem Mamajew-Hügel. Das weltbekannte Denkmalkomplex blieb an diesem Tag abgeriegelt und wurde von der Sonderpolizei Rosgwardija bewacht. Nur wenige Fotoreporter wurden zugelassen, um die gespenstische Leere am wichtigsten Gedenktag der Stadt festzuhalten. Flugschauen, Züge aus historischen Militärfahrzeugen, Lichtinstallationen, Gesangsdarbietungen und das "Unsterbliche Regiment" als Online-Event sollten in vielen russischen Städten als ungleicher Ersatz herhalten. Die Feierlichkeiten sollen jedoch in wenigen Monaten zu einem günstigeren Zeitpunkt nachgeholt werden, hieß es.

Zwei Länder wollten sich allerdings nicht auf dieses Szenario einlassen: Weißrussland und Turkmenistan. Alexander Lukaschenko, der seit 25 Jahren Weißrussland mit autoritären Methoden regiert, gilt seit Monaten als "Corona-Leugner". Noch zu Beginn der Corona-Epidemie hat er zu verstehen gegeben, dass ein Shutdown in Weißrussland undenkbar sei. Es ist das einzige Land in Europa, in dem Fußballmeisterschaften mit Zuschauern weiterhin erlaubt waren. Trotz Gegenwinds vonseiten der WHO-Experten ließ er auch die geplante Militärparade am Tag des Sieges veranstalten.

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Diese Haltung sorgte im Vorfeld der Feierlichkeiten für reichlich Konfliktstoff. Zwei Journalisten des russischen Fernsehsenders Perwy Kanal wurde von den weißrussischen Behörden die Akkreditierung entzogen, nachdem sie in einem Bericht über Weißrussland eine viel höhere Anzahl an COVID-19-Toten vermuteten. Offiziell gibt es in Weißrussland über 24.000 Coronavirus-Infizierte und 135 Todesfälle (Stand 11. Mai). In der Folge wurde eine Petition für die Absage der Parade gestartet. Am Feiertag begründete Lukaschenko vor den mehreren Tausend versammelten Gästen sein Festhalten an der Parade wie folgt:

Dieser Feiertag ist uns heilig. Die Tragödie des weißrussischen Volkes, das die titanische Last der Verluste und Zerstörungen des schlimmsten Krieges des 20. Jahrhunderts auf seinen Schultern getragen hat, steht in keinem Verhältnis mit den Schwierigkeiten der Gegenwart. Selbst der Gedanke, diese Tradition zu verraten, die seit 75 Jahren die Geschichte der Heldentat der Sieger rühmt, ist für uns inakzeptabel.

Ebenso ging er auf die Kritik ein und bezeichnete die Wahl als "alternativlos":

In dieser wahnsinnig gewordenen Welt werden sich Leute finden, die uns den Tag und die Zeit dieses heiligen Aktes zum Vorwurf machen. Ich möchte ihnen rein menschlich sagen: Beeilt euch nicht, Schlüsse zu ziehen und uns zu verurteilen, Weißrussen, die Erben des Krieges. Wir konnten einfach nicht anders, wir hatten keine andere Wahl.

In Weißrussland, wo weite Teile des Landes auch während der nazistischen Besatzung von den Partisanenverbänden kontrolliert wurden, starben Millionen Zivilisten durch grausame Vergeltungsmaßnahmen wie Massenerschießungen oder Niederbrennen der Dörfer. Das heutige Weißrussland sei ein "lebendes Denkmal" an die Ermordeten, so Lukaschenko. Und die Parade in Minsk finde "stellvertretend" für alle postsowjetischen Staaten statt.

Die am 9. Mai abgehaltene Parade war allerdings nicht die einzige. In Aschchabad, der Hauptstadt Turkmenistans, fand überraschenderweise auch eine Militärparade statt. Nicht nur Eliteeinheiten zogen durch die Straßen, sondern auch als Sowjetsoldaten in historischen Uniformen verkleidete Teilnehmer. Mehrere Dutzend Beamte aus Militär und Regierung trugen – wie es die Aktion "Unsterbliches Regiment" vorsieht – Portraits ihrer kämpfenden Vorfahren. Dies war die erste Würdigung dieser Art in dem zentralasiatischen Land seit der Auflösung der Sowjetunion. Turkmenistan wird autoritär regiert und ist von der Außenwelt weitgehend abgeschottet. Offiziell gibt es dort keine Corona-Fälle.

Der weißrussische Präsident sprach vielen Menschen in den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken aus der Seele – allen voran den Bürgern Russlands und der Ukraine, die von der Kriegsverwüstung besonders betroffen waren. Dafür sprechen die Klickzahlen der Reportagen und Live-Übertragungen der Parade in Minsk sowie eine Vielzahl an positiven Kommentaren im Internet. So wurde die komplette Sendung des weißrussischen Fernsehkanals CTVBY auf Youtube bereits 2,3 Millionen Mal angesehen. Bislang konnten nur die Paraden in Moskau eine solch große Zuschauerquote erreichen.

Laut dem Analytiker des russischen Portals Ukraina.ru, Maxim Maximow, hat der weißrussische Präsident zwar geschichtspolitisch und emotional einen gelungenen Akt hingelegt, diese Maßnahme dürfte die Beziehungen zwischen Moskau und Minsk allerdings eher erschweren. Die russische Führung fühlte sich düpiert. Die Corona-Müdigkeit mache sich auch in Russland bemerkbar und die Demonstration in Minsk hätte die Spaltung in der Corona-Frage und den Unmut in der Bevölkerung eher gefördert. Alexander Lukaschenko gilt in den Beziehungen zwischen Russland und Weißrussland als ein eher schwieriger Partner; über die Preise für Ölllieferungen und andere Wirtschaftsfragen wird regelmäßig gestritten – trotz des guten persönlichen Verhältnisses beider Präsidenten zueinander.

Die abschließende Bewertung der Militärparade aus Sicht der Weltgesundheitsorganisation steht noch aus. Nach Angaben des russischen Portals Eadaily.com hat der Chef des WHO-Notfallprogramms Michael J. Ryan die Situation, bei der die komplette Führung des Landes ohne Einhaltung der Anti-Infektionsregeln eng beieinander stand, als "aüßerst gefährlich" bezeichnet. Man müsse nun zwei Wochen abwarten, um mögliche Folgen ausmachen zu können, so Ryan.

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