Europa

Der brillante Seiltänzer Vučić und die verschobenen Parlamentswahlen in Serbien

Am heutigen Sonntag hätte Serbien ein neues Parlament gewählt. Doch die Corona-Krise machte dem Ansinnen einen Strich durch die Rechnung. Präsident Aleksandar Vučić hätte den Wahlen wohl gelassen gegenüberstehen können. Eine Analyse.
Der brillante Seiltänzer Vučić und die verschobenen Parlamentswahlen in SerbienQuelle: www.globallookpress.com © Shi Zhongyu/Xinhua

von Pierre Lévy

Die Serben sollten an diesem Sonntag ein neues Parlament wählen. Wegen des Coronavirus sind die Wahlen auf einen noch nicht festgelegten Termin verschoben worden. Es fällt jedoch schwer, den Verdacht zu hegen, Aleksandar Vučić hätte sich einer drohenden Frist entzogen: Der allmächtige Präsident scheint auf dem Höhepunkt seiner Popularität angelangt zu sein.

Bei den letzten Wahlen im April 2016 hatte sich seine Partei, die Serbische Fortschrittspartei (SNS, oft als Mitte-Rechts-Partei bezeichnet), der 50-Prozent-Marke genähert. Studien zeigen, dass sie diesmal 60 oder gar 65 Prozent der Stimmen hätte erhalten können.

Vučić ist ein Meister der ideologischen Flexibilität: Er beherrscht die Kunst, ein sehr breites Spektrum von Bürgern anzusprechen. Als junger Informationsminister wurde er, als die NATO im Jahr 1999 das Land angriff, im Westen als Ultranationalist angeprangert. Doch im Jahr 2008 vollzog er eine Wende und half bei der Gründung der SNS, um eine Annäherung an die EU anzustreben.

Im Jahr 2016 hatte er seine Entscheidung zur Einberufung vorgezogener Wahlen sogar damit begründet, dass eine verstärkte Mehrheit erforderlich sei, um die von der Europäischen Union im Hinblick auf den Beitritt geforderten "Reformen" besser umsetzen zu können. Mit den genannten Reformen war in der Tat bereits ab den 2000er-Jahren begonnen worden: massive Privatisierungen, Umstrukturierungen, "Lockerung" des Arbeitsgesetzes.

Der Präsident ist stolz darauf, die Arbeitslosigkeit gesenkt zu haben, offiziell auf weniger als zehn Prozent. Auf der anderen Seite bleibt der Lebensstandard mit einem durchschnittlichen Gehalt von 500 Euro pro Monat für die meisten Menschen ein Problem. Er rühmt sich auch damit, den Bau neuer Infrastrukturen in Angriff genommen zu haben, von denen einige derzeit fertiggestellt sind.

Doch während er sich weiterhin der europäischen Integration verpflichtet fühlt, versteht es der starke Mann des Landes auch, mit den Millionen seiner Mitbürger zu sprechen, die noch immer eine emotionale, historische, kulturelle und geopolitische Verbindung zu Russland haben. Er versäumt es zu keiner Zeit, die "unerschöpfliche" Freundschaft mit Moskau zu erwähnen, und sowohl Putin als auch Vučić begrüßen sich regelmäßig zu Staatsbesuchen.

Eine andere Nähe beunruhigt nun auch den Westen. Während Russland auf wirtschaftlicher Ebene im Energiebereich – Öl, Gas etc. – sehr präsent ist, hat China seinerseits weitgehend in den Bergbausektor und in Rohstoffe sowie in die Stahlindustrie investiert.

Und kürzlich war Peking seit Beginn der COVID-19-Pandemie offenkundig präsent. Die Ankunft von chinesischer Ausrüstung und chinesischem Personal wurde spektakulär inszeniert. Die Serben hatten also keinen Mangel im Gesundheitswesen, wie es in vielen Ländern der Europäischen Union der Fall war. Während der serbische Staat oft als zerfallend und korrupt beschrieben wird, liegt die Zahl der Todesopfer in einem Land mit mehr als sieben Millionen Einwohnern kaum über 100. Eine Effizienz (zwar um den Preis einer sehr strikten Ausgangssperre), die Aleksandar Vučić zugeschrieben wird.

Dieser zögerte nicht, die Chinesen ostentativ zu loben und im Gegensatz dazu den "Egoismus" der EU zu stigmatisieren, die als unfähig zur "Solidarität" mit Italien beurteilt wurde – was Belgrad jedoch nicht daran hindert, die mit Brüssel im Jahr 2014 angefangenen Beitritts-"Verhandlungen" fortzusetzen.

Das Image der EU scheint sich im Zusammenhang mit der Gesundheitskrise verschlechtert zu haben. Schon zuvor waren viele Bürger von Europa nicht begeistert. Ein großer Teil von ihnen stellt sich vielmehr vor, auf pragmatische Weise wirtschaftlichen Nutzen aus dieser EU zu ziehen. Doch gefühlsmäßig ist die Nähe zum "großen russischen Bruder" stärker.

Jedenfalls versteht es Aleksandar Vučić, einen gekonnten Spagat gegenüber seinen Partnern im Westen und im Osten zu vollziehen. In den Jahren 2014 und 2016 wurde er jeweils zum Premierminister gewählt, im Jahr 2017 dann zum Präsidenten – mit erheblich erweiterten Befugnissen für diese Funktion. An diesem Tag ernannte er, unter Beibehaltung seines Bündnisses mit der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS, 1990 vom Präsidenten Milošević gegründet), eine "Tech"-Premierministerin mit einem besonders untypischen Profil: Ana Brnabić, die erste Frau an der Spitze einer serbischen Regierung, ist kroatischer Abstammung und macht keinen Hehl aus ihrer Homosexualität – eine Herausforderung in einem Land, das stark von einer konservativ-orthodoxen religiösen Tradition geprägt ist.

Die Ernennung der heute 44-Jährigen, die in den Vereinigten Staaten studiert hatte, war ein neues Beispiel des Geschicks von Vučić: Dieser Umstand versicherte Brüssel, dass sich Serbien auf dem Weg zu einem modernen Land befindet, und erschütterte die "liberale" Opposition. Darüber hinaus entsteht die Stärke des Präsidenten auch aus der Schwäche seiner Gegner. Die Opposition setzt sich einerseits aus der "souveränistischen" Tendenz zusammen, die insbesondere von der Demokratischen Partei Serbiens (DSS) verkörpert wird, und andererseits aus der Demokratischen Partei (DS), die nach dem Sturz von  Präsident Milošević im Jahr 2000 an die Macht kam. Die DS war dazu von den Westmächten gesponsert worden.

Letztere hatten also damals auf die DS gesetzt, die nun der Partei der Europäischen Sozialisten angehört, um sofort den Prozess des Bruchs mit dem jugoslawischen Sozialismus und der Angleichung an den Westen einzuleiten. Doch seit einigen Jahren hat die DS an Bedeutung verloren, wie auch etwa die Sozialistische Partei Frankreichs.

Aus dieser liberalen "Linken" gingen dann viele kleine Parteien hervor, von denen einige noch nie an einer Wahl teilgenommen haben, deren Chancen aber sehr gering erschienen, wenn die Wahlen zum vorgesehenen Termin stattgefunden hätten. Vielleicht hatten deshalb mehrere Oppositionsführer zu einem Wahlboykott aufgerufen. Offiziell wurde dies mit der Dominanz der Freunde des Staatsoberhauptes über die Medien, die Verwaltung und die Justiz gerechtfertigt.

Bereits aufgrund dieser Vorwürfe, autoritär zu sein, hatte sich im Januar 2019 eine Protestbewegung entwickelt (ausgelöst durch die Prügel eines Gegners), die bis zu 50.000 Demonstranten auf den Straßen Belgrads versammeln konnte.

Das völlige Fehlen sozialer Forderungen und die mangelnde Organisation verurteilten diese Bewegung jedoch dazu, nicht mehr als ein Strohfeuer zu sein, das hauptsächlich die städtische oder studentische Bourgeoisie mobilisierte.

Eineinhalb Jahre später scheint das Fundament von Aleksandar Vučić, einem brillanten Seiltänzer, sicherer denn je.

RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Mehr zum ThemaNach Italien nun auch Hilfe für Serbien: Russland schickt Ärzte und Ausrüstung nach Belgrad

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.