Zerfallende Weltbilder: Ein Kommentar von Rüdiger Rauls
Von Rüdiger Rauls
Weltbilder als Spiegelbilder
Unsere Weltbilder zeigen nicht nur unsere Sicht auf die Welt. Sie geben auch Einblicke in das Bewusstsein derer, die sie erschaffen und vertreten. Insofern sind Weltbilder auch immer Spiegelbild. Sie sind Selbstbild jener gesellschaftlichen Kräfte, die diese Ansichten in die Welt setzen.
Was die herrschenden Weltbilder nicht beinhalten, was sie außer Acht lassen oder bewusst nicht sehen wollen, ist ebenso aufschlussreich wie ihre Sichtweisen selbst. Aus ihren Defiziten wird deutlich, ob es ihnen darum geht, die Welt zu erkennen, wie sie ist. Oder geht es vielmehr darum, Wirklichkeit zu verbiegen und Wahrheit zu verfälschen, um Interessen zu verschleiern? Werden Weltbilder anstelle von Abbildern der Wirklichkeit zu Zerrbildern, sobald die Welt dem Wunschbild nicht entspricht?
Nur der Mensch ist in der Lage, sich derart umfassende und detaillierte Weltbilder zu schaffen. Sie entstanden entwicklungsgeschichtlich aus der Notwendigkeit, in einer Umwelt voller Gefahren zu überleben. Je vielschichtiger die menschlichen Gesellschaften wurden, umso mehr wichen die Weltbilder der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen voneinander ab. Insofern sind voneinander abweichende Weltbilder innerhalb ein und derselben Gesellschaft auch Ergebnis anders gearteter Lebensumstände und Interessen.
Verfallene Weltbilder
Weltbilder haben sich im Laufe der menschlichen Entwicklung verändert. Das aktuelle der sogenannten Werteorientierung besteht noch nicht so lange, wie viele glauben. In dieser Werte-Nährlösung sind jene Menschen aufgewachsen, die in den vergangenen fünfzig Jahren geboren wurden. So konnte bei vielen von ihnen der Eindruck entstehen, dass besonders die Politik des Westens sich schon immer an Menschenrechten orientiert hat.
Diese Forderung ist aber gar kein Produkt der westlichen bürgerlichen Gesellschaften. Die Einhaltung der Menschenrechte wurde von der internationalen Arbeiterbewegung gefordert, nachdem 1871 das französische Bürgertum die Arbeiter der Pariser Kommune zu Tausenden durch die Armee hatte abschlachten lassen. Davon zeugt noch heute die nach dem Massaker verfasste Internationale als Hymne der internationalen Arbeiterbewegung.
Die Werteorientierung in der heutigen Form entstand erst in den 1970er Jahren. Bis dahin war die Ideologie des Antikommunismus gesellschaftlich bestimmend. Sie war geboren aus den Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg. Die Arbeiter Europas hatten die monarchistischen Herrscher besonders in Deutschland, Österreich und Russland vertrieben und damit dem feudalistischen Gesellschaftssystem endgültig den Garaus gemacht.
Aber die sozialistischen Ziele der Arbeiterklasse bedrohten auch die Herrschaft des Bürgertums, kaum dass dieses als Nachlassverwalter der Monarchen die politische Macht errungen hatte. Während in Russland die sozialistische Revolution überlebte, wurde sie im Rest Europas niedergeschlagen. Der Faschismus erledigte dann den Rest in der physischen Vernichtung der führenden Kräfte der Arbeiterklasse. Nur an der Sowjetunion als Fanal des Sozialismus biss der Faschismus sich die Zähne aus.
Der Zweite Weltkrieg führte gerade nicht zur beabsichtigten Vernichtung der UdSSR, sondern zum Ausgreifen des Sozialismus bis zur Adria. Fast ganz Ostasien geriet unter den Einfluss kommunistischer Parteien. Der Sozialismus schien in den ehemaligen europäischen Kolonien Asiens nicht mehr aufzuhalten zu sein. Mit den Schlagworten "Rollback and Containment" und der Domino-Theorie wurde unter amerikanischer Führung der Versuch der Vernichtung des Sozialismus nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzt.
Der totalitären Ideologie des internationalen Kommunismus, die nach dem westlichen Weltbild sich die Unterwerfung der Völker zum Ziel gemacht hatte, sollte die freiheitliche Alternative des "American way of life" gegenübergestellt werden. Die westliche Lebensart mit ihrer Demokratie und den individuellen Freiheiten sollte den Menschen Wohlstand bringen und sie von kommunistischer Unterdrückung befreien. So sah man im Westen die Welt in der Zeit des Kalten Krieges.
Geburt der Werteorientierung
Die weltweiten Proteste gegen den Vietnamkrieg und die Niederlagen der USA in Korea, Vietnam, Laos und Kambodscha machten deutlich, dass dieses Weltbild nicht mehr dem Bewusstsein der meisten Menschen entsprach. Bereits 1970 war in Chile der Sozialist Salvador Allende zum Präsidenten gewählt worden. Zeitgleich begann das portugiesische Kolonialreich in Afrika unter der Führung von meist marxistisch orientierten Befreiungsbewegungen zu zerbrechen. Mit der Revolution der Nelken im April 1974 in Portugal drohte erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Sozialismus auch wieder in einem europäischen Land Einzug zu halten.
Es wurde immer deutlicher, dass der Sozialismus militärisch nicht zu besiegen war. Die Vorstellung, dass die Völker der Welt Opfer kommunistischer Machtübernahmen waren, stellte sich mit jeder Niederlage des Westens im Ringen um den Erhalt seiner Weltherrschaft als Trugschluss heraus. Denn trotz der militärischen Überlegenheit der USA und trotz der gewaltigen Opfer, die die Völker erbrachten, folgten sie ihren Führern auf dem Weg in die nationale Unabhängigkeit. Die Verlockungen, Versprechungen und auch die Drohungen des Westens verfingen bei ihnen nicht mehr.
Die Erkenntnis griff um sich, dass die Armen der Welt keine Angst vor dem Kommunismus hatten. Diese fürchteten vielmehr die Kriege derjenigen, die glaubten, sie vor ihm retten zu müssen. Die Bedrohung durch den Kommunismus war Ausdruck der Angst der Kapitalbesitzer besonders in der westlichen Welt. Aber die Armen der Welt waren keine Kapitalbesitzer.
Gegen Ende der 1970iger Jahre trug der damalige US-Präsident Jimmy Carter dem westlichen Trugbild Rechnung. Nicht dass er den Kampf gegen die Sowjetunion und die sozialistische Bedrohung beendete, er ersetzte vielmehr den militärischen durch den ideologisch-moralischen. Die USA schwangen sich auf zum Verfechter der Menschenrechte.
Sie bestimmten die Werte, nach denen die Führer der Welt im Interesse der Völker und des Weltfriedens handeln sollten. Gleichzeitig aber identifizierten sie auch die neuen Gegner. Diese waren zwar weitgehend noch die alten, wurden aber nun nicht mehr politisch, sondern moralisch gekennzeichnet. Sie waren fortan nicht mehr weltanschaulich anders orientierte Gesellschaftssysteme, sondern schlichtweg Schurkenstaaten, weil sie gegen diese sogenannten westlichen Werte verstießen.
Dieser Strategie stand die Sowjetunion hilflos gegenüber. Sie leitete ihren Untergang als Staat und den Untergang des Sozialismus sowjetischer Prägung als Gesellschaftssystem ein und führte besonders in den westlichen Staaten zum Niedergang des Marxismus. Er schien sich als geschichtliche Fehlentwicklung erwiesen zu haben. Sein materialistisch-analytisches Denken und Deutung der gesellschaftlichen Verhältnisse wurden zunehmend aus der öffentlichen Diskussion und Wahrnehmung verdrängt.
Wirklichkeit als Maßstab
Weltbilder zerbrechen an der Wirklichkeit, nicht an neuen Theorien oder alternativen Fakten. Jede Theorie, die sich in der Wirklichkeit nicht bestätigt, ist falsch. Das westliche Weltbild der Werteorientierung zerfällt gerade mit atemberaubender Geschwindigkeit. Es zerbricht aufgrund der Widersprüche zwischen seinen Ansprüchen und dem eigenen Handeln.
Die sogenannte Zeitenwende, die auf den Einmarsch Russlands in die Ukraine ausgerufen worden war, hat einen Dammbruch ausgelöst. Grundsätze und Glaubensbekenntnisse wurden unterspült und weggeschwemmt, die bisher als das Fundament der westlichen Gesellschaften galten. Seit der Zeitenwende-Rede werden all diese Werte geschleift, mit denen man sich bisher von den sogenannten Schurkenstaaten hatte unterscheiden wollen.
Waffen werden in Krisengebiete geliefert, mehr und gefährlichere denn je. Laufzeiten von Atomkraftwerken werden verlängert, die Kohlenutzung wird wieder ausgeweitet zur Energiegewinnung. CO₂-Bilanzen spielen keine Rolle mehr bei Förderung und Transport der dringend benötigten Energie.
Die Menschenrechtssituation in den Staaten scheint gleichgültig geworden zu sein, solange sie nur Gas und Öl liefern. Staatliche Vermögen werden beschlagnahmt, privates Eigentum eingezogen, fremdes Eigentum in Form von Pipelines zerstört. Sanktionen werden verteilt wie die Bonbons beim Karnevalsumzug, unbequeme Informationsquellen blockiert und abweichende Meinungen als Bedrohung behandelt. Keine Hemmung scheint mehr zu bestehen, keine moralische Einschränkung mehr zu gelten.
Man wütet blind und unüberlegt gegen alles, was sich den eigenen Interessen und dem eigenen Willen in den Weg stellt oder auch nur zur Besonnenheit mahnt. Alles, was den Westen einmal ausgemacht hat, sein Humanismus, seine Solidarität, seine Kultur und Rationalität, wird über Bord geworfen oder zumindest zur Disposition gestellt. Die Prinzipien fallen schneller als die Blätter im Herbst.
Eine Welle an Doppelmoral bricht aus der Gesellschaft hervor und über sie herein. Es gibt kaum noch ein politisches Thema, bei dem nicht mit zweierlei Maß gemessen wird. Die Geschwindigkeit, mit der das westliche Wertesystem zerfällt, macht deutlich, dass es bereits seit Langem ausgehöhlt war. Es fehlte nur noch der Stoß, der es zum Einsturz brachte.
Neue Ordnungen
Russland ist unter Bruch des Völkerrechts in der Ukraine einmarschiert. Daran gibt es nichts zu deuteln. Aber ist das der erste Krieg in der Menschheitsgeschichte oder zumindest seit dem Ende des Kalten Krieges? Die Meinungsmacher im Westen erwecken diesen Eindruck. Dass auch der Westen schon zur Genüge solche Kriege geführt hat, scheint vergessen zu sein. Was ist der Unterschied zum Krieg gegen Jugoslawien, zum Überfall auf den Irak?
Diese Fragen werden schon gar nicht mehr gestellt, geschweige denn dass man den Unterschied benennen könnte. Es scheint tatsächlich so, dass die Meinungsmacher im Westen unter der Dauerbeschallung mit der eigenen Propaganda diese Ereignisse vollkommen ausgeblendet haben. Wie aber soll unter solchen Umständen ein neues Weltbild entstehen, das den Entwicklungen seit dem Februar dieses Jahres gerecht werden kann?
Die Werteorientierung hat sich weitgehend selbst den Boden unter den Füßen weggezogen, es sei denn, man reduziert sie auf den Kampf zwischen Demokratie und Autokratie. Aber auch in diesem Falle verstrickt sich der Westen immer tiefer in die Widersprüche zwischen eigenen Werten und eigenem Handeln.
Kann man schon nicht den Unterschied erklären zwischen den westlichen Angriffen auf Jugoslawien und dem Irak und denen Russlands auf die Ukraine, wie will man dann erklären, dass man das autokratische Russland und China bekämpft, während man mit nicht minder autokratischen Ländern wie Saudi-Arabien, Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Aserbaidschan Lieferverträge abschließt? Wie vertragen sich solche Beziehungen mit den westlichen Werten und dem Kreuzzug in ihrem Namen gegen Russland, China, Iran, Venezuela und andere?
Welche Ordnung will der Westen anstreben anstelle der alten, der seiner eigenen Vorherrschaft, und vor allem auf welcher Weltsicht soll sie entstehen? Russland, China, Iran und all die anderen vom Westen Sanktionierten haben ein klares Weltbild. Sie sehen die Entwicklung hin zu einer multipolaren Welt, in der nicht mehr der Westen und die USA als dessen Führungsmacht das Sagen haben. Und diese neue Ordnung scheint den Bestrebungen in der Welt auch zu entsprechen.
All diese Staaten, die über Jahre vom Westen durch Sanktionen drangsaliert wurden, wollen eine unabhängige und gleichberechtigte Entwicklung ihrer Gesellschaften und Wirtschaft nach ihren eigenen Maßstäben, ihren Werten und Grundsätzen, ihrer kulturellen und historischen Entwicklung ohne Bevormundung und Drohungen durch den Westen. Für diese Wünsche scheint die Zeit gekommen, und sie scheinen nicht mehr aufzuhalten zu sein.
Denn die Kräfteverhältnisse in der Welt haben sich verändert. Russland ist so sehr erstarkt, dass es einer weiter Ausdehnung des NATO-Gebiets militärisch entgegentritt. China hat wirtschaftlich mit dem Westen gleichgezogen. Und die Sanktionierten der Welt sind zu einer solchen Macht geworden, dass sich Russland und China auf sie stützen können.
Die Unerbittlichkeit des Westens besonders gegenüber Russland und China rührt daher, dass er in dieser sich abzeichnenden neuen Ordnung für sich keinen Platz mehr sieht. Sein Selbstbild einer überlegenen, weil auf Werten gegründeten Ordnung entspricht immer weniger der Realität. Aber sich ein neues Weltbild zu schaffen auf der Grundlage der Veränderungen, scheint außerhalb seiner Fähigkeiten zu liegen.
Rüdiger Raul betreibt den Blog Politische Analyse. Die Erstveröffentlichung dieses Artikels fand im Magazin VIER statt.
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