Ankaras Spiel "ums Ganze" in Idlib: Werden die Einsätze höher?
Die Spannungen in der syrischen Provinz Idlib haben sich seit Donnerstag deutlich verschärft. Bei einem Luftangriff in der Siedlung Bechun wurden 33 Menschen getötet und 36 verletzt. Das teilte Rahmi Dogan, Gouverneurin von Hatay, der an Syrien angrenzenden Region der Türkei, mit. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums hätten türkische Soldaten, die in der Deeskalationszone unter dem Beschuss der syrischen Regierungsarmee standen, dort nicht sein dürfen.
Am Tag zuvor hätten die Terroristen versucht, eine Offensive in der Nähe der Siedlung Bechun zu starten, erklärte die Behörde weiter. Das syrische Militär eröffnete das Feuer. Sie gerieten unter Beschuss "terroristischer Gruppen, die sich in Kampfbereitschaft befanden". Die Luftwaffe der russischen Luft- und Raumstreitkräfte kam nicht zum Einsatz, betonte das Verteidigungsministerium.
Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte zuvor ein Ultimatum an die syrische Armee gestellt und sie aufgefordert, sich bis Sonntag von den türkischen Beobachtungsposten in Idlib zurückzuziehen. Ein Sprecher seiner AKP sagte, die türkische Armee sei bereit einzugreifen, sobald die von Ankara gesetzte Frist abläuft. Aber die syrischen Streitkräfte, die immer mehr in die Zusammenstöße mit militanten Vertretern des ehemaligen Al-Qaida-Netzwerks verwickelt werden, hatten offensichtlich nicht die Absicht, sich zurückzuziehen.
So weit ich verstehe, haben sie (das türkische Militär – Anm. der Redaktion) keine bataillonstaktische Gruppe der 65. mechanisierten und der 8. Infanteriebrigade gemeldet, die in diesem Gebiet operieren. Die 25. Division der syrischen Sondereinsatztruppe war in diesem Gebiet im Einsatz, und als Folge davon geriet das Gebiet nicht in die Zone, wo die syrische Luftwaffe und Artillerie nicht operieren durfte. Dieses Gebiet geriet unter Feuer, weil es von Hai'at Tahrir asch-Scham mit schwerem Gerät besetzt war", sagte der russische Militärexperte Wiktor Marachwoski gegenüber RIA Nowosti.
Ankara lieferte bislang kein klares Bild der Geschehnisse. Der Leiter der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der Verwaltung des türkischen Staatschefs, Fahrettin Altun, sagte, die Türkei habe "ihr Recht auf Selbstverteidigung ausgeübt". Ihm zufolge hat das Militär "in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht an der Operation teilgenommen, die darauf abzielte, eine humanitäre Katastrophe in Idlib zu verhindern".
Türkische Beamte erwähnten die russische Luftwaffe im Zusammenhang mit dem Vorfall nicht und machten damit Damaskus für den Tod ihrer Militärs verantwortlich. Der Experte des russischen Rates für Internationale Angelegenheiten (RIAC), einer in Moskau ansässigen Denkfabrik, Alexej Chlebnikow, sieht die Zurückhaltung türkischer Beamter bei ihren Erklärungen zu Russland als positives Signal:
Beide Seiten wollen keine Eskalation. Das geht auch aus der Botschaft unseres Verteidigungsministeriums hervor: Moskau bat die syrischen Streitkräfte, die Angriffe einzustellen, damit die Türkei ihre Verwundeten herausholen kann.
Mehr zum Thema - Auf Ersuchen der Türkei: Außerordentliche NATO-Sitzung zu Angriffen in Idlib
Riskante Spiele
Ankara hat offenbar beschlossen, fast bis zum "point of no return" zu eskalieren. Analysten glauben jedoch, dass dies nicht unbedingt bedeutet, dass die Türkei einen totalen Krieg will. Idlib ist für Erdoğan "von größter Bedeutung", sagte Ruslan Mamedow, ein Nahost-Analyst des RIAC. Vor Ort scheinen die protürkischen Kämpfer, die von der syrischen Armee vertrieben werden, jedoch schlechtere Karten zu haben.
Wir können über die Taktik sprechen, aber strategisch ist es klar: Die syrische Regierung stellt ihre Souveränität wieder her und gewinnt die Kontrolle über die Gebiete des Landes zurück", sagte Mamedow RT.
Das bringt die Türkei in eine schwierige Situation, denn Erdoğan kann nicht einfach zurückweichen und aus innenpolitischen Gründen Zugeständnisse machen, erklärte der Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs, Fjodor Lukjanow. "Die Türkei ist der Ansicht, dass der Status quo in Idlib in absehbarer Zeit einfach beibehalten werden sollte, während Damaskus, unterstützt von Moskau, der Meinung ist, dass Ankara seine Unfähigkeit zur Deeskalation durch Vereinbarungen [mit den Militanten] demonstriert und sich für eine militärische Lösung entschieden hat", so der Experte.
Die Situation steht also auf Messers Schneide, da die Türkei sich auf das Spiel ums Ganze eingelassen hat, warnt Lukjanow. Mamedow glaubt jedoch, dass es nicht darum geht, einen Krieg zu beginnen, sondern Moskau "zu einer Art Reaktion zu provozieren" und möglicherweise eine stärkere Position in den Verhandlungen zu erreichen.
Die Risiken einer solchen Politik sind hoch. Da die Türkei ihre Präsenz in Idlib verstärkt hat, beschuldigt Moskau sie, die radikalen Kämpfer mit schwerer Artillerie zu unterstützen. Die Zusammenstöße haben bereits zu Opfern sowohl auf türkischer als auch auf syrischer Seite geführt. Obwohl keiner der Vorfälle bisher zu drastischen Maßnahmen geführt hat, könnte eine weitere Eskalation Ankara an den Rand eines Konflikts mit Moskau bringen, glaubt Mamedow.
Es besteht das Risiko (...), dass Russland sich aktiv in den Konflikt einschalten könnte, und zwar das Risiko, dass ein russisches Flugzeug abgeschossen wird. Die Türken haben bereits Luftabwehrsysteme in das Kriegsgebiet verlegt", so der Experte.
Ein russischer Su-24-Bomber, der 2015 während eines Antiterroreinsatzes von einem türkischen F-16-Jet abgeschossen wurde, führte zu einer großen Krise in den Beziehungen zwischen Moskau und Ankara, obwohl es den beiden Staaten gelang, eine weitere militärische Eskalation zu vermeiden und die Beziehungen im Endeffekt zu verbessern.
Mehr zum Thema - Operation "Olivenzweig": Russland zwischen der Türkei und kurdischem Autonomiestreben
Neuer Status quo?
Die Situation scheint zwar sehr angespannt zu sein, aber es ist auch klar, dass sowohl Ankara als auch Damaskus versuchen, zu verhindern, dass sie außer Kontrolle gerät und in ein Blutbad umschlägt. Das syrische Militär sagt zwar, dass es routinemäßig von den türkischen Panzern und der Artillerie, die die Militanten unterstützen, angegriffen wird, aber es hat keine Maßnahmen unternommen, um sie zu vernichten.
Sie versuchen, keine radikalen Schritte zu unternehmen. Die Beobachtungsposten der Türkei sind noch immer intakt, obwohl viele von ihnen bereits von der syrischen Armee umzingelt sind. Die Mannschaften versuchen, einen 'Kampf aller gegen alle' zu vermeiden", erklärte Mamedow.
Die Gefahr eines Konflikts zwischen der zweitgrößten Armee der NATO und einem nuklear bewaffneten ständigen Mitglied des UN-Sicherheitsrats wirkt in dieser Situation offenbar ebenfalls abschreckend. "Es ist einfacher für Ankara, einen Deal mit Moskau zu schließen, als auf eine weitere Eskalation zu drängen", sagte der RIAC-Analyst zu RT. Lukjanow glaubt auch, dass die Seiten versuchen werden, die Risiken einer möglichen Pattsituation zu mindern.
Wenn es um Syrien geht, erweisen sich Russland und die Türkei als so weit voneinander abhängig, dass die Türkei ihre Ziele ohne Russland nicht erreichen könnte (...), aber auch Moskau würde sich in einer schwierigen Situation befinden, wenn es auf eine Opposition aus Ankara trifft", sagte er.
Eine "Art von Abkommen" zwischen Russland und der Türkei sei fast unvermeidlich, argumentierte Lukjanow. "Der Konflikt würde höchstwahrscheinlich eingefroren, es gäbe neue Linien [des Kontakts]". Er fügte hinzu, dass Moskau einer Art Pufferzone entlang der türkischen Grenze zustimmen könnte – eine ähnliche, die in dem Teil Nordostsyriens geschaffen wurde, den die kurdischen Milizen kontrollieren.
Was jetzt geschieht, ist ein Nervenkrieg, kein Weg zu einer direkten Konfrontation", so Lukjanow.
Ein Eingreifen der NATO ist unwahrscheinlich
Der Nordatlantikrat der NATO kam am Freitag auf türkischem Ersuchen zu einem Sondertreffen zusammen. "Die Alliierten verurteilen die fortgesetzten rücksichtslosen Luftangriffe des syrischen Regimes und Russlands auf die Provinz Idlib", sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg danach. Er rief Syrien und Russland dazu auf, ihre Offensive zu beenden, internationales Recht zu achten und die Bemühungen der UN für eine friedliche Lösung zu unterstützen. "Diese gefährliche Situation muss deeskaliert werden."
Stoltenberg betonte, dies sei "ein deutliches Zeichen der Solidarität mit der Türkei". Die Türkei sei ein geschätzter Alliierter in der NATO. Die Bündnispartner überprüften regelmäßig, wie sie die Türkei weiter unterstützen könnten.
Die Analysten glauben, dass die Türkei höchstwahrscheinlich weiter einen Alleingang wagen muss und nicht mit dem Eingreifen der NATO oder der USA in den Konflikt rechnen kann. Eine rhetorische Unterstützung wird es aber wohl weiterhin geben. Das US-Militär habe Idlib bereits als einen sicheren Hafen für Terroristen gebrandmarkt, so Mamedow. Er bezog sich dabei auf einen Kommentar des Sprechers der Operation Inherent Resolve, Col. Myles Caggins, gegenüber Sky News. Das macht ihre Einmischung im Namen der Türkei unwahrscheinlich, glaubt er.
Selbst im Falle einer offenen Konfrontation zwischen der Türkei und Russland hätten die US-Amerikaner keine ernsthaften Gründe, sich einzumischen, ebenso wenig wie die NATO. Schließlich handelt es sich nicht um einen Angriff auf das türkische Territorium.
Orhan Gafarlı vom Zentrum für politische Studien in Ankara kommentierte die Lage im Gespräch mit der russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti so: "Es ist nicht so, dass die Türkei Artikel 5 wirklich nutzen will, sondern dass Ankara auf die volle Unterstützung der NATO-Verbündeten in Syrien wartet." Sie wird die Position der Türkei in den Verhandlungen über Syrien stärken und dazu beitragen, Assad zu stoppen.
Artikel 5 sei vielseitig interpretierbar, sagte der Experte. "Die Türkei ist nicht dasjenige Mitglied des Bündnisses, das ihre Interpretation diktieren kann. Insbesondere ist in Artikel 5 der NATO-Charta vom Angriff auf ein Land die Rede und nicht von militärischen Aktionen, die dieses Land abseits seiner Grenzen durchführt", so Gafarlı.
Mehr zum Thema - Türkischer Premier Davutoğlu: "Ohne uns wäre die Rebellenfront in Syrien längst zusammengebrochen"
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.