Giftgas in Syrien: OPCW antwortet Russland und verwickelt sich weiter in Widersprüche
von Sebastian Range
Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) hat ihre Antwort an Seiten der syrischen und russischen Vertreter auf deren Fragen und Einwände zum OPCW-Abschlussbericht über einen mutmaßlichen Giftgaseinsatz am 7. April 2018 im syrischen Duma veröffentlicht. Moskau hatte um die Veröffentlichung ersucht.
In ihrem Anfang März veröffentlichten Abschlussbericht kam die OPCW zu dem Schluss, dass es "angemessene Gründe" für die Annahme gäbe, dass in Duma Chlorgas eingesetzt worden war. Bei dem Vorfall sollen über 40 Menschen getötet worden sein.
Mitte Mai war dann jedoch noch ein interner OPCW-Ingenieursbericht an die Öffentlichkeit gelangt, der sich mit zwei in Duma aufgefundenen Gaszylindern beschäftigt, bei denen es sich – laut dem Abschlussbericht "möglicherweise" – um die Tatwaffen handeln solle.
Der Ingenieursbericht hält es für wahrscheinlich, dass die beiden Zylinder nicht aus der Luft abgeworfen, sondern "von Hand" platziert wurden. In letzter Konsequenz würde das bedeuten, dass die islamistischen Aufständischen, die Duma damals kontrollierten, die Tat begangen oder inszeniert hätten. Wären die Behälter dagegen aus der Luft abgeworfen worden – wie es der offizielle OPCW-Abschlussbericht impliziert –, käme (nur) die syrische Luftwaffe als Täter infrage.
Die OPCW bestätigte de facto die Echtheit des später geleakten Berichts, indem sie erklärte, dass sie eine Untersuchung einleiten werde, wie das Dokument an die Öffentlichkeit gelangen konnte. Zudem erklärte sie, dass sie sich nicht weiter zu dem geleakten Dokument äußern werde, dessen Existenz und dessen Schlussfolgerungen im offiziell veröffentlichten Abschlussbericht keinerlei Erwähnung fanden.
"Es ist schwer, den Ernst dieses manipulativen Akts der OPCW zu unterschätzen", kommentierte Robert Fisk im Independent diesen Vorgang. Der britische Journalist und Nahost-Experte weist zudem darauf hin, dass "kein einziges Nachrichtenmedium, das über die offiziellen Schlussfolgerungen der OPCW berichtete, die Geschichte über den von der OPCW unterdrückten Bericht aufgegriffen hat". Auch Deutschlands Mainstream-Medien war der geleakte Bericht – im Gegensatz zur vorherigen offiziellen Verlautbarung der OPCW – keine Silbe wert.
Die OPCW hätte sich viel Peinlichkeit ersparen können", so Fisk, "wenn sie einfach die ganze Wahrheit gesagt hätte: Während eine Mehrheit ihrer Wissenschaftler zu dem Schluss kam, dass die 'Gasflaschen' durch das Dach einschlugen (also von einem Flugzeug stammen), glaubte ein Minderheitenbericht, dass sie es nicht taten.
Das hätte der üblichen Praxis einer öffentlichen Untersuchung entsprochen, die eine abweichende Ansicht einer Minderheit zumindest dokumentiert. "Aber das war offensichtlich nicht das, was die OPCW wollte", bemängelt Fisk. Er hatte nach dem mutmaßlichen Giftgasvorfall in Duma vor Ort recherchiert und dabei mit Mitarbeitern des örtlichen Krankenhauses gesprochen, die von einer Inszenierung durch die Aufständischen sprachen.
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OPCW stellte keinen Zusammenhang zwischen mutmaßlichen Tatwaffen und Opfern her
In dem OPCW-Abschlussbericht wird zwar nicht explizit behauptet, dass die möglichen Tatwaffen von einem Fluggerät aus der Luft abgeworfen wurden. Die angeführten Berechnungsmodelle gehen jedoch eindeutig und einzig von einem solchen Szenario aus – und implizieren damit die Täterschaft der syrischen Armee.
Kaum überraschend nehmen die beiden mutmaßlichen Tatwaffen auch in Russlands Anfrage breiten Raum ein. Einer dieser Behälter soll die Stahlbetondecke eines Gebäudes durchschlagen haben und danach vom Boden des darunterliegenden Zimmers abgeprallt sein, um schließlich auf dem dort befindlichen Bett zu landen. Die OPCW spricht hierbei von "Location 4".
Über Todesopfer wurde jedoch nur im Zusammenhang mit dem Zylinder berichtet, der auf der Dachterrasse eines anderen Gebäudes ("Location 2") aufgefunden wurde. Er soll ein Loch in die Stahlbetondecke geschlagen haben, ohne dieses selbst passieren zu können. Durch die entstandene Öffnung soll das Chlorgas nach unten geströmt sein und anschließend Dutzende Menschen getötet haben, wie folgende Abbildung aus dem OPCW-Abschlussbericht verdeutlicht:
Dazu wollte Russland von der OPCW wissen:
Wie konnte Chlorgas, das aus dem Zylinder (mit einem Fassungsvermögen von etwa 60 bis 70 kg) durch eine drei Zentimeter große Öffnung in den gut belüfteten Raum im vierten Stock freigesetzt wurde, diese starke tödliche Wirkung auf mutmaßliche Opfer haben, die sich hauptsächlich im ersten und zweiten Stock befanden?
Die OPCW antwortete (7.1.), dass die mit der Vor-Ort-Untersuchung betraute Fact Finding Mission (FFM) "keinen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Verstorbenen und der Menge der verwendeten toxischen Chemikalie herstellte. Um einen solchen Zusammenhang herzustellen, wären mehrere der FFM unbekannte Faktoren zu berücksichtigen gewesen, wie zum Beispiel der Zustand des Gebäudes, die Architektur der Wohnungen, die Luftzirkulation und die Anzahl der zum Zeitpunkt des Vorfalls anwesenden Personen."
Bis auf den letzten Punkt hätte die FFM die Sachlage jedoch ganz einfach vor Ort feststellen können. Die Frage, inwieweit das proklamierte Szenario überhaupt realistisch ist, bleibt daher unter Verweis auf die vermeintlich "unbekannten Faktoren" offen.
Auch Russlands nächster Einwand bezieht sich auf die Frage, wie die Behauptungen des OPCW-Berichts mit einem realistischen Szenario in Einklang zu bringen sind. Es geht um die darin enthaltenen Modellberechnungen mittels derer belegt werden soll, dass die Schäden an den Gebäuden mit den aufgefundenen Zylindern erklärbar seien, wenn diese aus der Luft abgeworfen wurden.
Russland bemängelt, dass "keine spezifischen Berechnungen angegeben und keine Angaben zu den Namen der beteiligten Experten sowie zu ihrer Kompetenz oder Autorität gemacht werden". Es fehle auch die Angabe darüber, welche Fallhöhe bei den Modellen benutzt wurde, was "von entscheidender Bedeutung" sei.
Laut den im Bericht enthaltenen Diagrammen prallten die Zylinder mit einer Geschwindigkeit von 30 bis 60 m/s auf die Gebäude. Das entspricht laut Russland einer Fallhöhe von 45 bis 180 Metern – und sei mit einem realistischen Szenario nicht vereinbar:
Im Gegensatz dazu fliegen Hubschrauber der syrischen Luftwaffe aus Sicherheitsgründen nicht in einer Höhe unter 2.000 Metern, wenn sie Städte überqueren. Ein Hubschrauber, der in 200 Metern Höhe über eine aktive Kampfzone fliegt, wird zumindest von Kleinwaffen beschossen und zwangsläufig abgeschossen. Wäre ein Zylinder aus dieser Höhe [2.000 Meter] heruntergefallen, hätte er an der Einschlagsstelle eine vertikale Geschwindigkeit von etwa 200 m/s entwickelt und definitiv nicht nur das 20 cm dicke Dach zerstört, sondern schwerere Schäden verursacht und wäre selbst erheblich beschädigt worden.
OPCW verwirft realistisches Szenario als unberechtigte "Annahme"
Die Antwort der OPCW ist bemerkenswert: "Die Analysen des FFM basieren auf den vom Team gesammelten und bestätigten Fakten und Daten und nicht auf Annahmen." (Hervorhebung im Original) Basierend auf den gesammelten Daten und Messungen vor Ort sei ein Modell anhand "inverser wissenschaftlicher Berechnungen" ("reverse scientific calculations") entwickelt worden, "um den Kraftbereich, die Geschwindigkeiten und die Bewegungsbahnen ("trajectories") zu bestimmen, die für den Zylinder möglich sind, um den an der Stelle beobachteten Schaden zu verursachen". Weiter heißt es in der Antwort der OPCW:
Die FFM stützt ihr Modell oder ihre Berechnungen nicht auf Annahmen über die Höhe, aus der der Zylinder hätte fallen können, oder die Höhe eines Fluggeräts. Daher hat sich die FFM gemäß ihrem Mandat nicht zu den möglichen Höhen von Fluggeräten in einer angenommenen Betriebsweise geäußert.
Der Abschlussbericht enthalte "keine Informationen außerhalb des Mandats und der Methodik" der FFM. Tatsächlich obliegt es nicht der FFM, einen möglichen Schuldigen für die Tat zu benennen. Der Journalist und ehemalige Nahost-Redakteur des Guardian, Brian Whitaker, schreibt dazu unter Berufung auf nicht genannte Quellen in der OPCW :
Die Erklärung der OPCW ist, dass die Aufgabe der FFM darin besteht, die Fakten über den mutmaßlichen chemischen Angriff zu ermitteln. Das Mandat der FFM erlaubt es ihr jedoch nicht anzugeben, wer verantwortlich war, und es gab Bedenken, dass Hendersons [Verfasser des Ingenieursberichts, Anm. d. Red.] Vermutung, dass die Zylinder 'von Hand platziert' wurden, zu weit in diese Richtung ging.
Der sich daraus ergebende Widerspruch liegt auf der Hand: Weil die These des internen Ingenieursberichts über die von Hand platzierten Zylindern auf die Täterschaft der Aufständischen schließen lasse, wurde sie im Abschlussbericht nicht aufgegriffen. Dabei lässt der Ingenieursbericht die Frage nach dem "wer" völlig offen.
Gleichzeitig impliziert der Abschlussbericht eine Täterschaft der syrischen Armee, indem sämtliche Modelle davon ausgehen, dass die Gasflaschen auf der Luft abgeworfen wurden. Um den Vorwurf der Mandatsüberschreitung zu umgehen, verzichtet der Abschlussbericht mit so manchen Wortverrenkungen auf eine explizite Formulierung dieses Sachverhalts – was an der Sache selbst jedoch nichts ändert.
OPCW-Fact Finding Mission verstößt gegen Handlungsauftrag
Auch wenn die Frage, wie die Zylinder an ihren Fundort gelangten, zumindest indirekt zwangsläufig mit der Verantwortlichkeit einer bestimmten Kriegspartei verknüpft ist, liegt deren Beantwortung keinesfalls außerhalb des Mandats der FFM. Im Gegenteil: Laut dem im Juli 2018 veröffentlichten OPCW-Zwischenbericht gehört die Klärung auch dieser Frage zum Handlungsauftrag der FFM. So heißt es darin unter Punkt 2.6:
Es wird derzeit daran gearbeitet, die Verbindung dieser Zylinder zum Vorfall, die jeweiligen Schäden an den Zylindern und den Dächern sowie die Art und Weise zu bewerten, wie die Zylinder an ihre jeweiligen Standorte gelangten.
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Die FFM ist also ihrem Handlungsauftrag nicht umfassend und neutral nachgekommen. Die OPCW begründet das mit dem fehlenden Mandat einer Schuldzuschreibung, während sie gleichzeitig in ihrem Abschlussbericht unrealistische Berechnungsmodelle bemüht, um die Schuld einseitig der syrischen Armee unterschieben zu können – auch ohne das offen auszusprechen. Es handelt sich somit um eine vermutlich gezielte Irreführung.
Darüber kann auch der Verweis nicht hinwegtäuschen, man gehe bei der Untersuchung nicht von Annahmen aus, sondern nur von Fakten. Denn die Bewertung, wie die Zylinder an ihre Fundorte gelangten, muss zwangsläufig von (mindestens zwei) Annahmen ausgehen: Entweder wurden sie dorthin "auf dem Landweg", also "per Hand" transportiert. Oder eben über den Luftweg – eine Annahme, die die OPCW bei ihren Modellen im offiziellen Bericht ja auch stillschweigend voraussetzt.
OPCW kontert russische Einwände mit Wiederholung bekannter Positionen
Wie sehr die OPCW darum bemüht ist, die syrische Armee unausgesprochen als einzig infrage kommenden "Täter" zu verdächtigen, wird auch daran deutlich, wie sie sämtliche Einwände abbügelt, die dagegen sprechen, dass die vorgefundenen Schäden an den Gebäuden überhaupt von den Zylindern herrühren könnten.
So heißt es in Russlands Schreiben an die OPCW zu dem auf der Dachterrasse aufgefundenen Zylinder:
Die detaillierte Untersuchung des Kraters in der Stahlbetondecke (dem Dach des Gebäudes) sowie das Vorhandensein schwarzer Rauchspuren und die Zerstörung der Stahlbewehrungsstäbe innerhalb der Öffnung sind eher vereinbar mit einer Explosion einer 120-mm-Mörsergranate oder eines Artilleriegeschosses gleichen Kalibers, das sich dem Gebäudedach entlang einer Bogenflugbahn näherte.
Dies belegen auch die Spuren von Explosionsfragmenten an den Wänden der Terrasse. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Krater durch ein Mörser-/Artilleriegeschoss oder eine ähnliche Munition verursacht wurde, wird auch durch das Vorhandensein mehrerer sehr ähnlicher Krater auf den Dächern umliegender Gebäude unterstützt.
In ihrer Antwort zu den jeweiligen Punkten zitiert die OPCW lediglich aus ihrem eigenen Abschlussbericht. So heißt es lapidar zu den Gebäudeschäden:
Die Analysen ergaben, dass der strukturelle Schaden an der Stahlbetondecke der Terrasse (…) durch den dort befindlichen Zylinder verursacht wurde.
Auch zu den Rauchspuren wird auf die entsprechende Passage des Abschlussberichts verwiesen. Darin heißt es, dass laut einem befragten Zeugen das Feuer im Raum entfacht wurde, um die darin befindlichen Chemikalien zu neutralisieren. Die Glaubwürdigkeit dieser kurios anmutenden Aussage lässt sich nicht überprüfen, da die Identität des Zeugen unbekannt bleibt.
Und was die Explosionsfragmente an den Wänden der Terrasse betrifft, auf die Russland unter Verweis auf obige Abbildung Bezug nimmt und die auch der interne Ingenieursbericht als Beleg für eine explosive Ursache der Gebäudeschäden anführt, so leugnet die OPCW schlichtweg deren Existenz:
Diese Hypothese [einer explosiven Ursache] ist jedoch unwahrscheinlich, da es keine primären und sekundären Fragmentierungen gibt, die für eine Explosion charakteristisch (sind), die den Krater und die ihn umgebenden Schäden verursacht haben könnte.
Bezüglich der ähnlichen Einschlagkrater an umliegenden Gebäuden, die zweifelsfrei von explosiven Geschossen stammen, so hüllt sich die OPCW dazu gänzlich in Schweigen. Der Vermutung, dass die Aufständischen die Zylinder einfach neben beziehungswiese unter diesen Öffnungen platziert haben könnten, soll wohl keine weitere Beachtung geschenkt werden.
OPCW steht zu ihrem Bericht "in allen Aspekten"
In seinem Anschreiben zieht Russland dieselbe Schlussfolgerung wie der offiziell nicht berücksichtigte OPCW-Ingenieursbericht:
Die vorhandenen Fakten sprechen für eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass beide Zylinder (…) von Hand platziert und nicht aus einem Fluggerät abgeworfen wurden.
Die OPCW entgegnet, dass der Abschlussbericht nirgendwo argumentiere, "dass sie aus einem Fluggerät fallengelassen wurden", und auch nicht die Frage aufgreife, ob die Zylinder "von Hand platziert und nicht aus einem Fluggerät abgeworfen wurden". Denn "diese Art von Informationen", wiederholt sich die OPCW, stünden "außerhalb des Mandats und der Methodik der FFM. Die FFM steht zu ihrem Bericht in allen Aspekten."
Es hätte wohl eher im Einklang mit der Wahrheit gestanden, hätte die OPCW geschrieben, dass sie es als außerhalb ihres Mandats stehend betrachtet, Hinweisen auf eine Inszenierung durch die Aufständischen nachzugehen. Jedenfalls zeugt die Antwort der OPCW auf Russlands Eingaben ein weiteres Mal vom manipulativen Charakter ihrer Duma-Untersuchung, der beispielsweise bereits am (Nicht-)Umgang mit Zeugen vor Ort und mit mutmaßlichen Todesopfern offenbar wurde.
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