Interview zu Astana-Verhandlungen: Neue Verfassung wird alle Teile Syriens wieder vereinen
von Ali Özkök
Kirill Semenov ist Direktor des Zentrums für Islamische Forschung am Institut für innovative Entwicklung in Moskau. Er ist auch als Nahost-Experte beim Russischen Rat für internationale Angelegenheiten (RIAC) tätig.
Die Syrien-Konferenz in Astana hat die Souveränität und territoriale Integrität Syriens bestätigt. Inwiefern ist dies beispielsweise in Bezug auf jene syrischen Gebiete wichtig, in denen US-Truppen stationiert sind?
Wenn eine Formel für einen politischen Übergang gefunden wird, die die Interessen aller Seiten berücksichtigt, wird das Problem der territorialen Integrität von selbst gelöst. Daran können auch die USA nichts ändern.
Natürlich gibt es ein kurdisches Problem in Syrien, aber es gibt auch eine Assad-Frage. Fakt ist, viele Syrer, ob kurdischer oder arabischer Herkunft, wollen in einem vereinten Syrien leben und setzen sich ebenso für den Erhalt der territorialen Integrität ein, aber sie wollen nicht unter der gegenwärtigen Verfassung leben. Diese muss neu ausgearbeitet werden. Die gegenwärtigen politischen Verhältnisse werden auf lange Zeit nicht akzeptiert werden. Daraus leiten sich das Idlib-Problem und das Vakuum in Nordostsyrien ab.
Oft wird die Frage gestellt, ob die Türkei in Nordsyrien eine Kolonie etablieren möchte. Wie beurteilen Sie die langfristigen Ambitionen Ankaras?
Ja, höchstwahrscheinlich kann man über Pläne zur Bildung einer türkischen Schirmherrschaft in Nordsyrien sprechen. Diese Pläne haben jedoch klar definierte Grenzen. Nach dem politischen Übergang wird die Türkei Syrien auf jeden Fall verlassen müssen.
Wie möchte die Türkei die auf ihrem Territorium beheimateten syrischen Flüchtlinge im Rahmen eines Friedensprozesses politisch einsetzen?
Ankara wird versuchen, in seinen Regionen Bedingungen zu schaffen, um einen Teil der Flüchtlinge in genau diese Regionen zu bringen. Für sie werden dort bereits neue Ortschaften gebaut. Die Türkei möchte Flüchtlinge nicht in jene Gebiete zurückschicken, die von Assad kontrolliert werden, wie es der Libanon oder Jordanien tun. Die Türkei bemüht sich, die Gebiete Syriens unter Assads Herrschaft so schwach wie möglich zu halten.
Eine der russischen Initiativen in Astana war die Bildung einer internationalen Konferenz zur Rückführung von Flüchtlingen. Ist dies ein Schritt, um Europa für den Frieden in Syrien zu gewinnen?
Das Problem der Rückkehr der Flüchtlinge ist nicht die Wiederherstellung der Infrastruktur in Syrien, wobei die Europäer helfen können. Das Problem der Flüchtlinge in Syrien ist die mangelnde Sicherheit. Es gibt keine Garantien dafür, dass Flüchtlinge, die nach Syrien zurückkehren, nicht verfolgt werden, denn viele von ihnen wurden gerade aus politischen Gründen zu Flüchtlingen.
Die Flüchtlinge aus der Türkei oder Europa wollen und werden größtenteils ohnehin nicht nach Syrien zurückkehren. Bis jetzt kehren nur Flüchtlingsgruppen aus dem Libanon und Jordanien zurück.
Es gab keinen Durchbruch bei der Gestaltung eines Verfassungsausschusses. Was sind hier die Herausforderungen?
Ich denke, das Problem ist, dass es beim Verfassungsausschuss nicht vorwärts geht. Assad möchte diesen gerne maximal bestimmen. Dies betrifft vor allem die Liste der Zivilgesellschaft, die Assad als Fortsetzung der Regierungsliste sehen möchte. Diese Liste soll ausschließlich aus Unterstützern der Regierung bestehen.
Der russische Syrien-Gesandte Alexander Lawrentiew sagte, dass Kurden in dem Ausschuss vertreten sein müssten, während die YPG ausgeschlossen ist. Wie interpretieren Sie Russlands Haltung?
Das war eine wichtige Entscheidung von Russland. Man darf die kurdische Minderheit nicht mit der YPG/PYD gleichsetzen. Sie vertreten nicht das gesamte kurdische Volk, sondern nur ihre eigenen Parteiinteressen. Daher sollten kurdische Vertreter durchaus in den Verfassungsausschuss eintreten, wenn es Vertreter jener Kräfte sein werden, die nicht als bedenklich oder terroristisch gelten. Zu den akzeptablen kurdischen Kräften wird zum Beispiel auch in Moskau der sogenannte Kurdische Nationalrat gezählt.
Russland möchte, dass die Türkei den Terrorismus in Idlib ausmerzt und dieser Prozess beschleunigt wird. Wie sieht die aktuelle Lage vor Ort aus?
Dieses Problem kann nicht schnell gelöst werden. Daher wird die Türkei wahrscheinlich darauf bestehen, die Lösung dieses Problems zeitlich auszuweiten. Dafür sind viele Monate erforderlich. Man muss bedenken, dass eine gemäßigte Opposition nicht gegen die Radikalen vorgehen wird, solange es die Bedrohung einer militärischen Operation in Idlib gibt. Diese Bedrohung gibt es vonseiten der Regierungskräfte nach wie vor. Jeder Zwischenfall kann zu einer Wiederaufnahme der Kriegshandlungen führen.
Die Beseitigung der Radikalen durch die Opposition allein ist allerdings keine Garantie dafür, dass keine Offensive auf Idlib erfolgen wird. In Ost-Ghuta oder im Süden Syriens gab es vergleichsweise weniger Radikale, aber es gab dennoch militärische Operationen gegen diese Enklaven. Die Türkei, die Opposition und zunehmend Russland gehen davon aus, dass die Radikalen von al-Nusra durch die Rebellen selbst zerschlagen werden sollten.
Es wird einige Zeit dauern, bis die Opposition begriffen hat, dass ihr kein Stoß in den Rücken droht, solange sie gegen die Terroristen kämpft.
Inwiefern ist es überhaupt möglich, al-Nusra oder HTS, wie sich die Gruppe heute nennt, in einen kooperativen und einen radikalen Teil aufzuspalten und damit zu schwächen?
Ja, al-Nusra wird tatsächlich in zwei Fraktionen geteilt. Eine davon ist für den Dialog bereit und wird sich eventuell einigen, der gemäßigteren Opposition beizutreten. Das Problem des radikalen Teils kann gelöst werden, wenn dieser bereit ist, die Waffen niederzulegen.
Was wird mit den Radikalen geschehen, die an Al-Qaida festhalten?
Für sie könnten dieselben Programme wie für ehemalige Guantánamo-Häftlinge angewendet werden. Ansonsten werden sie zerschlagen werden.
Gibt es in Russland Bedenken, dass die Idlib-Kooperation mit Ankara scheitern könnte? Wenn ja, was wäre Plan B?
Ja, es gibt solche Bedenken. Moskau ist gezwungen, den Standpunkt von Damaskus zu berücksichtigen, das alles "bis auf den letzten Zentimeter" zurückerobern möchte. Natürlich wird eine mögliche militärische Operation gegen Idlib in Betracht gezogen. Man muss aber verstehen, dass ein solches Szenario angesichts der Präsenz türkischer Truppen in Idlib sehr riskant wäre und zu einem großangelegten militärischen Konflikt mit der Türkei führen könnte. Deshalb wird Moskau versuchen, dies in jeder Hinsicht zu vermeiden.
Welche Rolle spielt der Iran in Astana, und wie entwickelt sich seine Einflusspolitik in Syrien?
Der Iran spielt im Astana-Prozess tendenziell eine Nebenrolle. In diesem Prozess haben – wie auch allgemein bei der Beilegung des syrischen Konflikts – Russland und der Türkei die Initiative inne. Das Problem ist, dass sich die Assad-Regierung allmählich zum deckungsgleichen Element des "iranischen" beziehungsweise "schiitischen Gürtels" entwickelt wie beispielsweise die Hisbollah.
Der Iran ist tief in Syrien verwurzelt, und die iranischen Strukturen sind praktisch mit der Assad-Regierung eins geworden. Daher ist es schwer zu sagen, wo die Interessen Assads beginnen und die iranischen Interessen in Syrien enden. Die iranische Präsenz in Syrien kann nur mit dem Ende der derzeitigen Regierung in Damaskus beendet werden. Vorerst ist das nicht abzusehen. Daher wird die iranische Präsenz in Syrien noch lange ein Faktor bleiben.
Vielen Dank für das Gespräch!
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