Russischer Diplomat: Zügellose US-Politik führt zur Spaltung Syriens
von Ali Özkök
Wjatscheslaw Nikolajewitsch Matusow (geb. 1941) hat mehrere Jahre als sowjetischer und russischer Diplomat im Libanon und in den USA gearbeitet. In den Jahren 1974-1990 war er in der internationalen Abteilung des Zentralkomitees der KPdSU tätig. Er ist Präsident der Gesellschaft für Freundschaft und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit arabischen Ländern sowie Mitglied des Komitees für Solidarität mit den Völkern Lybiens und Syriens.
Wird Russland eine vollständige Rückeroberung Idlibs durch Assad unterstützen – oder haben wir es hier mit einer Offensive in Phasen zu tun?
Diese Frage lässt sich mit Verweis auf den Staatsschef Russlands, Präsident Putin eindeutig beantworten. Er hat die Auffassung, dass Syrien geeint bleiben muss, ein unteilbarer souveräner Staat. Daher denke ich, dass die Frage der Zugehörigkeit Idlibs – ebenso wie des Ostufers des Flusses Euphrat – aus russischer Sicht kein Diskussionsgegenstand ist. Das ist syrisches Territorium, die Souveränität des syrischen Staates auf diesem ganzen Territorium ist offensichtlich. Daher sehe ich nicht den geringsten Anlass für eine Annexion von Teilen Syriens durch die Türkei, die USA oder sonst irgendwen, auch nicht durch die Kurden. Mit der Türkei läuft ja ein komplizierter Verhandlungsprozess; die Türken kann man verstehen – sie sind besorgt um das Geschehen in Idlib, das an ihrer Grenze liegt. Und die Anwesenheit von Zehntausenden Anhängern terroristischer Strukturen dort ist zweifelsohne eine Bedrohung für die nationale Sicherheit der Türkei.
Wie werten Sie die Möglichkeit einer Trennung zwischen Terroristen und Rebellen, die besonders von der Türkei angeschoben wird?
Diese Möglichkeit muss gesucht werden, denn einen anderen Weg gibt es nicht. Drei Wochen werden vergehen, und nach diesen drei Wochen wird die syrische Armee höchstwahrscheinlich ihre Offensive gegen terroristische Gruppierungen beginnen. Was die Möglichkeit einer Trennung zwischen ihnen betrifft: Guten Willen vorausgesetzt, ist das kein Problem. Denn obwohl alle bewaffneten Gruppen in Idlib durchmischt sind – und da ist von 50.000 oder sogar 60.000 bewaffneten Milizanhängern die Rede und von bis zu 15.000 Terroristen, – wie man diese 15.000 aus den 60.000 heraustrennen soll, ist eine Frage an die Türken. Sie haben Kontakte zu allen Gruppierungen, und ich denke, das ist das Wesen aller aktuellen Verhandlungen und Beratungen sowie der Klärungen zwischen der Türkei, dem Iran und Russland, wie man auf der Basis realer Handlungsabläufe, also seitens der Auswärtigen Ämter, der Verteidigungsministerien und der Geheimdienste konkret vorgehen könnte.
Finden Sie den Ausdruck "moderate bewaffnete Opposition" legitim im Kontext von Syrien? Russland ruft ja zur Entwaffnung der gesamten Opposition auf.
Was die Entwaffnung anbelangt, da gibt es keine Fragen. Es ist das souveräne Recht der syrischen Regierung, die Ordnung und das Gesetz auf dem gesamten Territorium, auch in Idlib, zu fordern und zu schützen. Und daher ist auch dieses Thema kein Diskussionsgegenstand. Denn alle gesetzwidrigen, bewaffneten Gruppierungen müssen ihre Waffen niederlegen – dies ist eine Vorbedingung für eine nationale Versöhnung. Und das Zweite ist das weitere Schicksal der Menschen, die heute Mitglieder bewaffneter Milizen sind. Da haben wir bereits gute Erfahrungen in anderen Regionen Syriens gemacht: im Süden, in Deir ez-Zor, in Suweida, in Kuneitra und um Damaskus herum. Viele, die die syrische Armee bekriegt haben, legen die Waffen nieder und werden zu normalen Bürgern ihres Landes. Ich denke, da werden niemandes Rechte verletzt. Das ist offensichtlich und wird von der syrischen Regierung garantiert. Und mit denjenigen, die sich der Entwaffnung verweigern, verfährt man in allen Ländern der Welt gleich.
Die Türkei will ihren Einfluss in Syrien bewahren. Ankara kontrolliert al-Bab, Afrin und einen Teil Idlibs. Wie bewerten Sie die türkische Haltung?
Dazu habe ich eine Bemerkung zum türkischen Einfluss im Norden des Landes. Also, es gibt dort natürlich ethnisch homogene Gruppen der Turkmenen, das sind ethnische Türken mit syrischer Staatsbürgerschaft, die enge Verbindungen zur Türkei haben und sich an Kriegshandlungen gegen die syrische Armee beteiligen. Eine solche Gruppierung ist die Miliz, die zu Ehren von Nureddin Zengi benannt wurde. Wer Zengi ist? Zengi war ein türkischer Sultan, Herrscher über ganz Großsyrien vor dem Osmanischen Reich. Daher wird diese Gruppierung von der syrischen Regierung zur Kategorie der Terroristen gezählt, denn sie führt den Kampf gegen die rechtmäßige syrische Regierung fort. Wie die Türken diese Frage lösen werden, ist natürlich eine der grundlegenden Fragen in unseren Beziehungen und vor allem in den Beziehungen der syrischen Regierung zu den Türken, wobei Russland als Vermittler auftritt. Daher denke ich, die Entwaffnung und die Anerkennung der syrischen Staatsbürgerschaft dieser Menschen durch die Türkei ist die Grundlage für eine friedliche Lösung und auch für eine Befriedung dieser Türken. Denn die Türkei hat meiner Meinung nach keine langfristige Chance, zu Lasten der Interessen des syrischen Staates irgendeinen Einfluss zu bewahren. Das darf nicht passieren. Das widerspricht der UN-Charta, dem internationalen Recht – und ich denke, wenn die Türkei diese Position einnimmt, wird das ein großer historischer Fehler sein. Denn Syrien wird für die Einheit kämpfen, für seine territoriale Integrität, und ich denke, Syrien wird da letztlich Unterstützung in der Weltgemeinschaft finden, darunter auch von der Russischen Föderation.
Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen Moskau und Teheran in Bezug auf Syrien?
Was den Iran und Russland betrifft, sie handeln hier im völligen Einklang, und ich sehe keine großen Streitfragen zwischen uns und der iranischen Regierung. Die Iraner erfüllen ihren Teil der Mission auf syrischem Boden, und auch unsere Luftstreitkräfte erfüllen ihre militärischen Aufgaben.
Der Westen, allen voran die USA und Westeuropa, wollen Assads Offensive verhindern. Nikki Haley droht mit Vergeltungsschlägen im Falle vermuteter Chemiewaffenangriffe Assads. Welches Szenario erwarten Sie in einem solchen Fall?
Also, ich denke, Nikki Haley ist - verzeihen Sie - ein sehr schlechte militärische Führerin. Das ist ein typischer Fall: während Militärs die Gefahr eines Krieges begreifen, ist der Ton von Zivilisten, insbesondere der Politiker vom Schlage einer Nikki Haley, ein ganz anderer. Sie können sich nur schwer die Konsequenzen bewaffneter Auseinandersetzungen vor Augen führen, zumal auch noch zweier Atommächte. Ich würde das noch keine verantwortungslose Äußerung nennen, aber durchaus eine unprofessionelle. Ich denke, auf syrischem Boden besteht zwischen den Militärs Russlands und der Vereinigten Staaten von Amerika ein gemeinsames Verständnis von der Unzulässigkeit einer direkten kriegerischen Auseinandersetzung.
Zwar wird aktuell von einer Seite gegen die andere medialer Informationsdruck aufgebaut, beidseitig werden Flotten und weitere Streitkräfte konzentriert. Doch ich kann mir nicht vorstellen, dass sich in den USA Hitzköpfe finden lassen, die auf dem Territorium Syriens eine bewaffnete Auseinandersetzung mit der Russischen Föderation riskieren und den Dritten Weltkrieg entfesseln werden. Die Russische Föderation hat klar und deutlich verkündet, dass alle Handlungen, die die russischen Streitkräfte in Syrien zu Schaden bringen, beantwortet werden. Ich denke, dieses Wort wird eingehalten, und ich nehme an, die US-Amerikaner verstehen das.
Zwar gingen die USA im März mit in etwa 100 abgeschossenen Raketen noch äußerst aggressiv vor. Doch das konnte nur passieren, nachdem Russland bewusst entschied, Provokationen unbeantwortet zu lassen – und das war eine Provokation – und jemand aus unserer Führungsspitze hat die Führungsspitze des US-Militärs dementsprechend informiert. Wäre den US-Amerikanern eine Antwort gewiss, hätten sie meiner Meinung nach niemals einen solchen Schritt gewagt. Als Bestätigung meiner Worte diene hier ein Verweis auf einen kürzlich in der New York Times veröffentlichten Artikel, in dem mit Bezug auf Quellen in der CIA der Verlust sehr wichtiger früherer Informanten in den Führungskreisen des russischen Staates beklagt wird. Diese haben anscheinend solche Information zur realen Haltung Russlands weitergegeben.
Das ist in einer angespannten Lage wie jetzt in Syrien, wo Armeen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, völlig unzulässig, praktisch mit Landesverrat vergleichbar. Jetzt ist die Lage meiner Meinung nach etwas anders, und der Verlust dieses Koordinators, der Verlust dieser Informationsquelle zu den tatsächlichen Absichten der russischen Regierung für die US-Amerikaner ist der grundlegende Unterschied. Und wenn ich jetzt die Äußerungen der russischen Führungsspitze höre, ist mir klar, dass die Bereitschaft da ist, eine Wiederholung der Vorfälle vom März dieses Jahres zu vermeiden, als die USA einen Angriff gegen die Stellungen der syrischen Streitkräfte vor unserer Nase ausgeführt haben.
Westliche Kommentatoren behaupten, dass die Idlib-Offensive den Friedensprozess in Genf schwächen wird. Sind Sie mit dieser Äußerung einverstanden?
Wissen Sie, das würde ich ein wenig anders ausdrücken. Vollständig verschwinden können die Differenzen nicht, denn ob wir das wollen oder nicht, gibt es eine Spaltung, gibt es eine Opposition – ob politisch oder militärisch, aber sie existiert real. Die heutige Aufgabe ist, eine Einigung der syrischen Gesellschaft zu erwirken, die Spaltung in ihr entlang politischer Linien möglichst zu beseitigen und eine Verfassungsreform sowie transparente Wahlen in die Regierungsgremien unter UN-Beobachtung durchzuführen.
Ich bin mir sicher, dass heute bei allen denkbaren Formen demokratischer Wahlen in Syrien der amtierende Präsident Baschar al-Assad die Mehrheit der Stimmen bekommen würde. Dafür wird er auch keinerlei Kniffe anwenden oder Verwaltungsressourcen aufwenden müssen. Die Autorität Assads hat sich im Laufe des heute nun sieben Jahre langen Krieges bestätigt, er hat bewiesen, dass er das Land in der schwersten denkbaren Zeit führen kann. Wozu soll man ihn austauschen? Darum denke ich, dass die Genfer Plattform ihren Wert bewahren wird, und sei es nur, um westliche Länder – die Vereinigten Staaten ebenso wie Europa – zur friedlichen Lösung heranzuziehen, weil sie Teilnehmer der Verhandlungen in Genf sind. Meiner Ansicht nach werden in Genf die weiteren Verhandlungen im Rahmen völlig anderer Positionen der Verhandelnden laufen, als noch im Vorjahr. Denn heute, wo das militärische Potential der oppositionellen Gruppierungen faktisch vernichtet ist, verbleiben nur politische Oppositionelle, die in alle Länder der Welt verstreut sind: Einer in Washington, ein anderer in London oder Paris, der dritte in Saudi-Arabien, weitere in Istanbul, in Kairo, wo auch immer, aber nicht im Inland. Dennoch müssen auch sie als Syrer anerkannt werden, mit vollen Bürgerrechten. Und auf dieser Grundlage lockt die Genfer Plattform diesen verstreuten Teil der syrischen Opposition und auch die westlichen Länder. Es wäre für Russland oder den Iran nicht richtig, im Alleingang politische Fragen vom Kaliber der syrischen Krise lösen zu wollen. Nur unter Einbeziehung der Weltgemeinschaft, unter dem UN-Banner kann man zu einem positiven Ergebnis kommen.
Wenn die USA allerdings darauf aus sind, die Genfer Verhandlungen zum Scheitern zu bringen, werden sie eine Möglichkeit dafür finden, darauf hinzuwirken, und werden so eine echte politische Lösung für Syrien behindern. Ich denke, dass nur unter Teilnahme der westlichen Länder die Verhandlungen in Genf zu echten Ergebnissen führen können.
Die USA haben ihre kurdischen Verbündeten, die YPG, dazu aufgerufen, alle Kooperationsprojekte einzustellen, vom Verkauf von Erdöl bis zum Verkauf von Weizen; vor Kurzem fanden in Qamischli Gefechte statt. Wollen die USA das Land spalten?
Die US-Amerikaner gehen nicht so sehr von einer Notwendigkeit der Spaltung Syriens aus, was für sie ein Verlustgeschäft wäre. Sie lassen sich vielmehr von einer anderen Philosophie leiten: auf einem durchaus beträchtlichen Teil Syriens militärisch Fuß zu fassen. Sieht man sich eine geografische Karte an – und bedenkt man noch die Lage der zahlreichen Militärstützpunkte am Ostufer des Euphrates, all der Material- und Waffenlager –, dann kommt man zum Schluss, dass sie nur ihre eigene Politik interessiert, nämlich auf diesem Gebiet Fuß zu fassen. Das Schicksal Syriens als Ganzes interessiert sie nicht, obwohl Sie mit der Frage formal recht haben.
Eine solche zügellose Politik der US-Amerikaner führt de facto zur Spaltung des Landes. Zwar haben hier auch die Kurden selbst ein wichtiges Wort mitzureden – und sie waren bereits in Damaskus. Die politischen Strukturen der Kurden haben Verhandlungen mit der syrischen Regierung geführt. Doch es wird der Wunsch der Vereinigten Staaten deutlich, die Kurden in die Schranken zu weisen und eine Entspannung der Beziehungen zu vereiteln. Und das ist eine der letzten Trumpfkarten, die die USA in der Hand haben. Denn dass sie die kurdische Bewegung unterstützen – und das tun übrigens nicht nur die US-Amerikaner, sondern auch die Israelis stützen kurdische politische Strukturen in Syrien und im Irak – gerade das bringt meiner Meinung nach die Notwendigkeit einer strikten Einhaltung des internationalen Rechts, der UN-Charta und des Rechts des syrischen Volkes, sein Schicksal selbst zu entscheiden, auf die Tagesordnung. Und dieses Schicksal muss bei allgemeinen demokratischen Wahlen unter dem UN-Banner und auf Grundlage einer neuen Verfassung, an deren Ausarbeitung aktuell der Sondergesandte des Generalsekretärs der UN, Staffan di Mistrua, beteiligt ist, entschieden werden.
Herr Matusow, vielen Dank für das Gespräch!
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