Nahost

Reportage: Damaskus ist frei – doch die Menschen müssen wieder bei null anfangen (Fotos, Videos)

Die gesamte Region um Damaskus ist von den radikal-islamischen Terroristen befreit und langsam kehren vertriebene Bewohner in die meist völlig zerstörten Vororte zurück. Unsere Autorin hat sich vor Ort umgesehen und mit den Menschen gesprochen.
Reportage: Damaskus ist frei – doch die Menschen müssen wieder bei null anfangen (Fotos, Videos)Quelle: RT © Karin Leukefeld

von Karin Leukefeld, Damaskus

Nach dem Krieg werden wir bei null wieder anfangen müssen. Wir müssen uns selber wiederaufbauen, unsere Familie, unsere Häuser, unsere Arbeit – alles, was wir hatten, haben wir in diesem Krieg verloren.

Der Soldat Mohamed ist 27 Jahre alt und stammt aus Aleppo. Vor dem Krieg war er Koch, erzählt er. Während des Krieges habe er an vielen Fronten gekämpft und manchmal habe er auch gekocht. Nun hält er Wache unter der Brücke von Jobar, einem östlichen Vorort von Damaskus. Sein Wachposten besteht aus einem Sofa, drei alten Bürosesseln und einem Plastikstuhl. Auf dem Tisch stehen eine Flasche Wasser und ein Walkie-Talkie, mit dem er Verbindung zum Hauptquartier und den anderen Wachposten hält. Auf einer Kommode steht ein Fernseher, der über eine Kabelrolle an den provisorisch verlegten Strom angeschlossen ist.

Auch einen Ventilator hat der Soldat, der ihm kühle Luft zuweht. Das Gewehr hat Mohamed zur Seite gelegt, während er bereitwillig über den Krieg, den Kampf und die Feinde spricht und darüber, warum dieser Konflikt in Syrien tobt. Nie habe er sich vorstellen können, dass "so etwas" in Syrien geschehen könnte. Ausländische Interessen seien im Spiel, die sich den Reichtum Syriens, die strategische Lage aneignen wollten.

Acht Jahre lang habe ich in diesem Krieg mein Land, meine Familie verteidigt. Vielleicht werden es noch zehn Jahre werden. Wir haben dafür gekämpft, dass es Syrien besser gehen wird. Darauf warten und hoffen wir, damit wir wieder neu anfangen können.

Gefragt, was er über die jungen Männer denke, die das Land verlassen haben, meint der Soldat, dass er über sie gar nicht sprechen wolle. Vor dem Krieg hätten sie alles gehabt und genommen, was Syrien ihnen geben konnte,

und als das Land ihre Hilfe brauchte, sind sie davongelaufen. Wie kann ich diesen Leuten vertrauen?

Für ihn seien diese Leute "wie Feinde", niemand werde sie respektieren, sollten sie zurückkehren.

Der Vorgesetzte des Soldaten Mohamed, Hauptmann Hamid, der dem Gespräch schweigend zugehört hat, meldet sich zu Wort. Nicht alle jungen Männer hätten Syrien verlassen, weil sie nicht zum Militär eingezogen werden wollten, meint er.

Viele mussten fliehen, weil die Terroristen ihre Umgebung angegriffen haben. Dann gab es für sie keine Möglichkeit mehr, dorthin zu gelangen, wo die Regierung die Kontrolle hatte. Sie wurden aus dem Land gedrängt und konnten nicht zurückkehren. Viele waren auch noch gar nicht im wehrpflichtigen Alter, als sie Syrien verließen." Sie sollten zurückkehren, Syrien brauche sie.

Jobar – der Dank der Hamas

Jobar gibt es nicht mehr. Die Stadt liegt komplett in Trümmern. Menschen wohnen hier schon lange nicht mehr. Die überwiegende Mehrheit der Einwohner war bereits 2012 geflohen, heute melden sich nur ab und zu noch Leute bei der Armee am Kontrollpunkt, um zu sehen, was von ihren Wohnungen, Häusern oder Geschäften in Jobar noch geblieben ist. Der Ort war bekannt für die Leder- und Textilindustrie, die ehemaligen Fabriken sind nur noch Gerippe aus Stein und Stahl.

Fünf Jahre lang hat Hauptmann Hamid in Jobar gekämpft, drei Mal wurde er verwundet. Nur knapp drei Kilometer liegt der Ort von der Altstadt von Damaskus entfernt. Raketen und Mörsergranaten versetzten die dort lebende Bevölkerung in Angst und Schrecken. Die syrische Armee riegelte Jobar massiv ab, doch der Kampf sei schwierig gewesen, sagt der Hauptmann. Das weit verzweigte Tunnelnetz habe den Kampfverbänden viel Spielraum gegeben.

Die palästinensische Hamas habe den Kämpfern gezeigt, wie die Tunnel gebaut werden mussten, sagt Hauptmann Hamid. Und wer habe der Hamas den Tunnelbau beigebracht? "Das waren wir, damals, als Israel die Blockade gegen den Gazastreifen verhängt hatte." Die Armee habe tiefe Verteidigungsgräben gezogen, um die Tunnel zu unterbrechen, von denen manche so groß gewesen seien, dass Autos und kleine Lieferwagen durch sie hindurchfahren konnten. Lebensmittel und Medikamente wurden ebenso durch Tunnel geschleust wie Menschen, Waffen und Munition. Lokale Geschäftsleute und die Kampfverbände profitierten. Wer die Tunnel kontrollierte, wurde reich.

Irgendwo zwischen den Trümmern von Jobar liegt die ehemalige Synagoge, die zu den ältesten Synagogen im Mittleren Osten zählt. Die Juden von Jobar waren im 7. und 8. Jahrhundert nach christlicher Zeitrechnung zum sunnitischen Islam konvertiert und galten als besonders dogmatisch. Das Gebiet um die Synagoge sei gesperrt, erklärt Hauptmann Hamid, der die Autorin durch Jobar begleitet. Er habe gehört, dass man in der Türkei alte jüdische Gebetsbücher, Tora-Ausgaben, beschlagnahmt habe, die von Kämpfern der Failak al Rahman bei deren Abzug aus Jobar herausgeschmuggelt worden seien.

Über die Brücke, unter der Mohamed, der Soldat, Wache hält, verläuft der Al Motahalik Al Janobi, eine Schnellstraße, die die Autobahn Damaskus-Aleppo mit der Schnellstraße nach Sweida im Süden des Landes verbindet. Unter der Brücke hindurch führt eine unbefestigte Straße, die Jobar mit Ain Tarma verbindet. Auch Ain Tarma liegt in Trümmern. Von der Schnellstraße her hat man einen weiten Blick über das zerstörte Jobar und auf den Qassiun, den Hausberg von Damaskus, der sich in stoischer Ruhe im Hintergrund erhebt.

Auf dem Qassiun und dem umliegenden Hochplateau sind die syrischen Truppen stationiert, die seit 2012 Jobar, Ain Tarma und die gesamte östliche Ghuta immer wieder unter Beschuss nahmen, um die Kämpfer zum Abzug zu bewegen. Erst nach einer massiven Angriffswelle der syrischen Streitkräfte Anfang des Jahres und nachdem die Türkei, Saudi-Arabien und Katar ein Ende ihrer Unterstützung für die Kampfverbände erklärt hatten, waren die Kämpfer zum Abzug bereit. 

Harasta - Ein knappes Drittel der Bewohner wieder zurückgekehrt, die Christen aber nicht mehr

Fährt man über den schwer beschädigten Al Motahalik Richtung Nordosten, liegt Harasta nur etwa sieben Kilometer von Jobar entfernt. Auch Harasta ist eine Trümmerlandschaft, durch die der starke Wind Staub, Plastiktüten und Dreck weht.

Scheich Abdul Rahman Shaker, der auch Abu Hassan, der Vater von Hassan, genannt wird, erklärt sich bereit, die Autorin durch Harasta zu begleiten. Etwa 10.000 Menschen lebten mittlerweile wieder in Harasta, berichtet er, die Versorgungslage sei nicht gut. Scheich Abdul Rahman predigt heute wieder in der Al-Zahra-Moschee, der größten Moschee im Ort.

Anfangs unterstützte er die Protestbewegung und nahm an einer Delegation teil, die 2011 den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad traf, um diesem ihre Anliegen vorzutragen. Als die Demonstranten zu den Waffen griffen, war Abu Hassan dagegen und versuchte im Rahmen des lokalen Versöhnungskomitees von Harasta die jungen Männer vom Einsatz der Waffen abzubringen. Sie seien immer extremer geworden und alle Vermittlungsversuche seien gescheitert.

Einmal hätten die "Revolutionäre" ihn gefangen genommen, erinnert er sich. Er kam wieder frei und floh, um sich von Damaskus aus weiter für einen friedlichen Ausgang des Geschehens einsetzen zu können. Jahre vergingen, bis Scheich Abu Hassan im April 2018 zurückkehren konnte, um den Menschen beim Neuanfang zu helfen. Die Al-Zahra-Moschee wird renoviert. In wenigen Tagen soll in der Moschee ein großes Fastenbrechen stattfinden und alle seien eingeladen.

Auch in Harasta gibt es ein Tunnelnetzwerk, das von Gefangenen und örtlichen Arbeitern gegen Lohn gebaut wurde. Der Krieg sei "zum Geschäft" geworden, meint der Scheich. Ein solcher Tunnel sei in der Griechisch-Orthodoxen Kirche des Heiligen Elias gebaut worden. Abu Hassan bietet sich an, die Kirche zu zeigen. Neben dem Altarraum ist der Boden aufgerissen, die aus dem Stollen gegrabene Erde ist im gesamten Kirchenschiff aufgeschüttet. Die gläsernen Kronleuchter, die früher hoch über den Gläubigen schwebten, hängen nun dicht über der Erde. Nichts erinnert mehr an das Gotteshaus, kein Kreuz, kein Altar, kein Gestühl, keine Bilder. Zwei Kirchen gibt es in Harasta. Die Griechisch-Orthodoxe St. Elias-Kirche ist ebenso zerstört wie die Griechisch-Katholische Kirche der Jungfrau des Friedens.

Ganze 500 Familien, etwa 2.500 Christen, hätten früher in Harasta gelebt, sagt Gabriel Kahila, der Priester der St. Elias-Kirche. Das Leben sei günstiger und ruhiger als in Damaskus gewesen, viele junge Menschen, die heiraten und eine Familie gründen wollten, hätten in Harasta eine Wohnung oder ein Haus gekauft und im 15 Kilometer entfernt liegenden Damaskus gearbeitet. Als die Proteste 2011 begonnen hätten, seien die Menschen verunsichert gewesen. Als die jungen Muslime zu den Waffen griffen und immer extremistischer wurden, hätten viele Christen häufiger in Damaskus übernachtet. Im Oktober 2012 habe es eine große Explosion im Gebäude des staatlichen Geheimdienstes mit vielen Toten gegeben, alle Christen hätten daraufhin Harasta fluchtartig verlassen.

Heute lebt der Priester wie auch die meisten der 500 christlichen Familien in Damaskus. Als die Kämpfer 2018 endlich abgezogen waren und Harasta wieder frei war, seien die früheren Bewohner und auch die Christen seiner Gemeinde zurückgekehrt, um nach ihren Häusern und Wohnungen zu sehen. Die Freude über die Rückkehr wurde für die früheren Bewohner zum Schock, als sie die große Zerstörung sahen, sagt Père Gabriel:

Sechs Jahre haben sie gewartet und gehofft, in ihre Häuser zurückzukehren. Doch alles ist zerstört und verwüstet, niemand aus unserer Gemeinde will wieder in Harasta wohnen. Die meisten wollen Syrien jetzt ganz verlassen.

Scheich Abu Hassan meint, der wirkliche, der moderate sunnitische Islam habe letztlich über die Extremisten gesiegt, nun müsse man den Christen, den Drusen und Alawiten, die früher "wie ein Gewebe" in Harasta zusammengelebt hätten, die Hand reichen. Der Ramadan, der muslimische Fastenmonat, in dem geholfen und vergeben werden soll, sei eine gute Gelegenheit zur Versöhnung. Doch der Weg dorthin ist weit. Christen gibt es in Harasta nicht mehr.

Duma – wo die Saudis Kämpferwitwen mit Großspenden versorgten

Duma liegt östlich von Harasta, weitere fünf Kilometer entfernt. Die Olivenhaine vor den Toren der Stadt sind lange nicht bearbeitet worden, die alten Bäume strecken ihre dicht beblätterten Zweige wild in alle Himmelsrichtungen. In Duma haben nie Christen gelebt, der Ort ist für einen sehr konservativen sunnitischen Islam bekannt.

Hier gehen die Frauen tief verschleiert durch die Straßen und so manche Frau sehnt sich tatsächlich nach den Tagen zurück, als die "Armee des Islam" in Duma großzügig Spenden saudischer Geschäftsleute an die Familien verteilte, deren Männer im Kampf gegen die syrische Armee getötet worden waren. Den Familien der Waisen sei es gut gegangen, sagt eine Frau, die mit zwei anderen unterwegs ist. Sie hätten Geld erhalten und auch wenn es nur wenig zu kaufen gab, hätten sie mit Gutscheinen günstig einkaufen können. Allerdings habe es nur wenig zu kaufen gegeben. "Heute gibt es wieder alles zu kaufen, aber niemand hat Geld", beklagen die drei schwarz verhüllten, mageren Gestalten sich.

Kinder toben umher, ein Knirps sitzt gedankenverloren auf dem Gehweg und leert eine Chipstüte. Seine Füße stecken in übergroßen Schuhen, die er halb abgestreift hat. Weiter die Straße hinab sind Geschäfte geöffnet, die Obst und Gemüse, frische Eier, Tee, Kaffee und sogar Schokolade verkaufen. Leute sind mit Fahrrädern, Motorrädern oder zu Fuß unterwegs.  

Der 27-jährige Ahmed Jedide arbeitet in einem der kleinen Läden, an guten Tagen kann er 1.000 Syrische Pfund, etwa 2,50 US-Dollar, nach Hause bringen. Er verkauft Schokolade, obwohl er ausgebildeter Mechaniker und spezialisiert auf deutsche Fahrzeuge wie BMW und Mercedes ist. Zusammen mit seinem Bruder arbeitete er vor dem Krieg in einer der großen Werkstätten, die sich entlang der Autobahn Damaskus-Aleppo um die großen Autokaufhäuser herum angesiedelt hatten.

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Nachdem die "Armee des Islam" die Kontrolle in Duma übernommen hätte, habe er die Werkstatt nicht mehr erreichen können.  Die syrische Armee habe zwar Duma abgeriegelt, schlimmer aber sei die Blockade gewesen, die die Islamisten der Stadt aufzwangen. Viele Male habe er versucht, mit Freunden, mit seinen Brüdern nach Damaskus zu fliehen, immer seien sie von den Kämpfern gefasst und eingesperrt worden. Man habe sie gedrängt, für die "Armee des Islam" zu kämpfen, erinnert er sich. Viele junge Männer hätten sich lieber beim Tunnelbau verdingt als zur Waffe zu greifen. Er habe von seinen Ersparnissen gelebt und habe das Haus kaum verlassen, erzählt Ahmed Jedide. Später habe er Benzin auf der Straße verkauft und kleine Handlangerarbeiten erledigt.

Alles habe er verloren, doch er sei gesund und seine Frau und die beiden Kinder auch. Sie hätten ein Dach über dem Kopf, in all dem Elend, das sie umgebe, schätze er sich glücklich. "Wir müssen nun wieder bei null anfangen."

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