Syrische Machtkämpfe
Von Rüdiger Rauls
Kräfteverschiebungen
Assads Sturz hat nur dann einen Vorteil für die Bevölkerung, wenn damit auch die Sanktionen des politischen Westens gegen das Land zurückgenommen werden und der Wiederaufbau vorankommt. An den politischen und gesellschaftlichen Fronten ist allerdings eher mit einer Zunahme der Konflikte zu rechnen. War die Damaszener Zentralgewalt bereits unter Assad schwach – zu schwach jedenfalls, um sich auf das gesamte Staatsgebiet zu erstrecken und inneren Frieden und wirtschaftlichen Aufbau zu erreichen –, so kann kaum erwartet werden, dass diese Zentralgewalt unter den neuen Herrschern stärker sein wird. Wichtige wirtschaftliche Ressourcen wie die Ölquellen in den Kurdengebieten stehen Damaskus fürs Erste weiterhin nicht zur Verfügung.
Gleichzeitig mit den militärischen Kräften der HTS (Hai'at Tahrir asch-Scham) aus dem Norden sollen auch Rebellenverbände aus dem Süden in der Hauptstadt eingezogen sein, "die den HTS-Islamisten in alter Ablehnung verbunden sind" (FAZ). Zum Zusammenbruch des Regimes trug erheblich bei, "dass die Damaszener selbst den Aufstand probten". Die Anwesenheit dreier unterschiedlicher Kräfte birgt die Gefahr von politischen Verhältnissen wie in Tripolis, wo verschiedene Milizen um die Vorherrschaft in der libyschen Hauptstadt ringen, was die politische wie auch wirtschaftliche Stabilisierung des Landes erschwert.
Ähnlich wie in Libyen sind auch in Syrien durch den Sturz von Assad neue Machtzentren entstanden, was dem nachlassenden Zugriff der syrischen Zentralmacht geschuldet ist. Wie schwach diese ist, offenbart sich in den nicht vorhandenen Abwehrmöglichkeiten gegenüber den massiven israelischen Angriffen. Zwar fanden diese auch während Assads Regierungszeit statt, glichen seinerzeit aber eher Nadelstichen. Nun haben sie zur weitgehenden Vernichtung der syrischen Luftabwehr geführt. "Vor allem Flugabwehrraketen russischer Bauart hätten die israelischen Kampfflugzeuge vernichtet." Die syrische Armee scheint nicht mehr vorhanden oder ist nicht bereit, sich dem Kommando der neuen Herrscher zu unterstellen.
Im nördlichen Sicherheitsstreifen wächst die Machtausdehnung der durch die Türkei unterstützten Syrischen Nationalen Armee (SNA). Nach dem Sturz Assads und dem Einrücken der HTS in Damaskus ist die SNA "in von kurdischen Milizen kontrollierte Gebiete vorgedrungen". Tage zuvor hatten sie schon die Stadt Manbidsch eingenommen. Ein Sprecher der SNA meldete, ihre Truppen "hätten auch die Großstadt Deir-ez-Zor und den dortigen Militärflugplatz erobert".
Ankara unter Druck
Die Türkei verstärkt ihren Einfluss in Syrien. Sie unterstützt nicht nur die SNA und erhöht durch deren Vormarsch den Druck auf die Kurdengebiete. Sie hatte auch durch Waffenlieferungen und sonstige Unterstützung die HTS in die Lage versetzt, die Offensive gegen Assad in Gang zu bringen. Zwischen der Gruppierung und dem türkischen Geheimdienst bestehen schon seit Längerem enge Verbindungen.
Mit dessen tatkräftiger Unterstützung gelang es al-Dschaulani, dem Führer der HTS, "seine Machtbasis in Idlib stetig auszubauen" (FAZ). Die Türkei hat ihn zu ihrem Mann gemacht, und nun verliert sie keine Zeit, ihren neuen Einfluss in Syrien geltend zu machen und zum eigenen Vorteil zu nutzen.
Ankara geht es dabei weniger um reine Machtpolitik. Schon früh hatte Erdoğan erklärt, keine syrischen Gebiete dauerhaft in Besitz nehmen zu wollen. Für ihn steht neben der Eindämmung der Kurden die Lösung des Flüchtlingsproblems im Vordergrund. Die wirtschaftliche Lage der Türkei ist schwierig, seit die Investoren nach dem gescheiterten Putsch von 2016 ihre Gelder aus der Türkei abgezogen haben. Die Inflation ist hoch, wenn auch nicht mehr so gewaltig wie vor einigen Jahren. "Je tiefer die Türkei in eine wirtschaftliche Krise rutschte, desto mehr stieg jedoch die Feindseligkeit in der türkischen Bevölkerung (gegenüber den syrischen Flüchtlingen). Erdoğan geriet innenpolitisch unter Druck."
Die Versuche der Türkei, mit den Syrern über die Rücknahme der Flüchtlinge zu verhandeln, scheiterten zuletzt am 11. November dieses Jahres in Astana. Vermutlich sah sich Syrien angesichts der schlechten Wirtschaftslage im eigenen Land und der Not als Folge westlicher Sanktionen nicht in der Lage, noch weitere drei Millionen Menschen zu versorgen. Das Scheitern der Gespräche dürfte für die Türkei den Ausschlag gegeben haben, der HTS grünes Licht für ihre Invasion zu geben. Diese war schon "für Mitte Oktober geplant gewesen", doch hatte dem der türkische Geheimdienst MIT "zunächst einen Riegel vorgeschoben".
Die Türkei bestreitet eine direkte Beteiligung an der Offensive, aber klar ist auch, dass "sie ohne türkische Zustimmung undenkbar gewesen wäre". Wahrscheinlich zielten die türkischen Absichten auch hauptsächlich auf das Gebiet Aleppo, aus dem die überwiegende Zahl der syrischen Flüchtlinge stammt. Mit der Einnahme dieses Gebiets, das eingekeilt zwischen der Region Idlib und der türkischen Grenze liegt, wäre einem Großteil der syrischen Flüchtlinge die Rückkehr in ihre ursprünglichen Siedlungen ermöglicht und gesellschaftlicher Druck von der Türkei genommen worden. So war der türkische Innenminister Ali Yerlikaya überzeugt: "Wenn Aleppo sicher ist, wird sich die Aufmerksamkeit deutlich von hier (der Türkei) nach dort verlagern."
Aber es kam anders. Wegen der Kampfverweigerung der syrischen Armee konnten die Rebellen schneller und weiter als erwartet vorrücken. Der Durchzug nach Damaskus war frei und verlief ohne bedeutenden Widerstand, womit sie selbst nicht gerechnet hatten. Vor dem Hintergrund dieser unerwarteten Entwicklungen war die Türkei um Schadensbegrenzung bemüht. Sie will zwar eine Entlastung in der Flüchtlingsfrage, aber keinen größeren regionalen Konflikt. Da Erdoğan um die Empfindlichkeiten Russlands bezüglich seiner militärischen Stützpunkte in der Region weiß, hatte er umgehend mit Putin telefoniert und ein Treffen in Doha verabredet, wo sie unter Beteiligung des Iran ihre "Interessensphären in gemeinsamen Verhandlungen abstecken" wollten.
Einflusssphären
Die russischen Stützpunkte sind die Orte, an denen sich der regionale Konflikt zwischen den Anrainern Syriens zu einem überregionalen ausweiten könnte. Bisher hat Israel nur syrische und iranische Militär-Einrichtungen angegriffen und um die russischen einen weiten Bogen gemacht. Vieles wird davon abhängen, wie sich die Amerikaner verhalten werden. Bleibt Trump dabei, dass er sich in Syrien nicht weiter engagieren will, oder werden ihn seine Berater von diesem Vorhaben abbringen wie bei seinen früheren Abzugsplänen?
Einige Kräfte im politischen Westen halten Russland für so geschwächt, dass der Sturz Assads nun eine günstige Gelegenheit ist, den russischen Einfluss in der Region zurückzudrängen. Mit manchen Medien und Politikern gehen wieder einmal Rachegelüste durch. Mancher glaubt, Putin hier eine Niederlage verpassen zu können. Dass Moskau den Sturz von Assad nicht verhindern konnte, sehen sie ebenso als Zeichen russischer Schwäche, wie sie es bereits zu Beginn des Jahres 2022 falsch gedeutet hatten. Sie scheinen nichts aus ihren damaligen Irrtümern gelernt zu haben.
So zitiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung für die Untermauerung ihrer Sichtweise die Budapester Zeitung Népszava: "Die Ereignisse in Syrien sind ein eindeutiges Zeichen für die Schwächung Russlands." Auch die slowakische Zeitung SME wird in diesem Sinne mit der Behauptung angeführt, die Russen seien durch den Ukrainekrieg so erschöpft, "dass sie in Syrien nichts anderes mehr schaffen, als die eigene Haut … zu retten".
Die ungarische Zeitung versteigt sich sogar in weitere geopolitische Aussichten: "Die Geschehnisse können auch den Demonstranten in Georgien Hoffnung geben: Selbst eine Regierung, hinter der Putin steht, lässt sich stürzen." Diesen Gedanken greift die georgische Präsidentin Surabischwili auf und drängt die EU, auf die Führung ihres Landes mehr Druck auszuüben – jetzt, wo sie Russland geschwächt sieht. "Warum soll (Russland) … in Georgien gewinnen … wenn (es) in Syrien, Moldau und Rumänien verliere?"
Die Europäer würden sicherlich gerne mehr aus der neuen Lage machen, aber ihr Problem besteht darin, dass sie im gesamten Nahen Osten außer zu Israel kaum noch über Kontakte verfügen. Die Türkei ist neben den USA das "einzige NATO-Land, das handlungsfähig ist in Syrien" (FAZ). Trotzdem treten die Europäer schon wieder im Stile von Kolonialherren auf, indem sie versuchen, Bedingungen aufzustellen und den Syrern Vorschriften zu machen. Wenn auch die Europäer die russische Anwesenheit in Syrien immer wieder zum Thema und zu einem Prüfstein machen wollen für die weitere Unterstützung des Landes durch die EU, so will dieser Funke auf der internationalen Ebene nicht so richtig zünden.
Selbst die Amerikaner schwenken nicht auf diese Linie ein. Sie scheinen mehr damit beschäftigt zu sein, die Kurden weiterhin als ihre Erfüllungsgehilfen in Syrien vor den Angriffen der Türkei zu schützen, ohne dass es zu größeren Verwerfungen zwischen den beiden NATO-Staaten kommt. Für zusätzlichen Konfliktstoff zwischen den beiden sorgt das Vorgehen Israels auf den Golanhöhen und im syrischen Luftraum. Wenn auch die USA Verständnis für Israels Handeln zeigen, stürzt es sie dennoch in einen Loyalitätskonflikt zwischen dessen Interessen und denen des NATO-Partners Türkei, der schon mit Angriffen gegen israelische Kampfflugzeuge gedroht hat. Die russische Anwesenheit scheint den Amerikanern angesichts dieser Probleme im Moment noch zweitrangig zu sein.
Russland verhält sich ruhig und handelt besonnen. Anders als die Europäer verfügt es seit Jahren über die entsprechenden Kontakte zu den maßgeblichen Kräften in der Region. Wo sie noch nicht vorhanden sind, hat es wenig Probleme, sie zu knüpfen und Vereinbarungen zu treffen. Nach eigenen Aussagen steht der Kreml "in Kontakt mit allen Gruppen der syrischen Opposition". Vorrangig geht es Russland natürlich um die eigenen Einrichtungen wie die Botschaft und die Militärstützpunkte. Moskau hat erklärt, "dass die neuen Machthaber (deren) Sicherheit garantiert hätten … (und) Russland mit der neuen Regierung über die Fortdauer der Truppenpräsenz sprechen" werde, sobald sich die Lage beruhigt hat. Trotz des Sturzes ihres Verbündeten Assad scheinen die Russen weniger Probleme mit der neuen Lage zu haben als alle anderen.
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.
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