Nahost

Es gibt keine Antikriegsdemonstrationen in Israel

Das Leid der Palästinenser spielt für die Israelis so gut wie keine Rolle. Professor Moshe Zuckermann ‒ der in Tel Aviv lebende, weltweit renommierte Kritiker der rechtsradikalen Zionisten-Regierung ‒ hat die aktuelle gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Lage in Israel analysiert.
Es gibt keine Antikriegsdemonstrationen in IsraelQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO/SAEEDQAQ

Von Rainer Rupp

Oft hört man von den Israelis, sie hätten keinen Raum mehr für Empathie gegenüber dem unermesslichen Leid der Palästinenser. Dafür macht Moshe Zuckermann hauptsächlich die Radikalisierung der israelischen Gesellschaft verantwortlich. Als Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender wuchs Zuckermann in Tel Aviv auf. Seine Eltern emigrierten 1960 nach Frankfurt am Main. Nach seiner Rückkehr nach Israel im Jahr 1970 studierte er an der Universität Tel Aviv, wo er am "Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas" lehrte und das "Institut für deutsche Geschichte" leitete.

In dem 45-minütigen Videogespräch, das Roberto De Lapuente am 16. Dezember mit Zuckermann führte, berichtet also kein westlicher Mainstream-Korrespondent über den Kriegsalltag innerhalb Israels. Zuckermanns Analyse der israelischen Situation liefert das düstere Bild eines Landes, das von Konflikten, Radikalisierung und institutionellem Zerfall geprägt ist. Seine Kritik beleuchtet nicht nur die Fehlentwicklungen innerhalb Israels, sondern fordert auch die internationale Gemeinschaft auf, ihre Haltung zu Israel zu überdenken. Laut Zuckermann könnte Israel nur durch einen radikalen Kurswechsel in Politik und Gesellschaft aus der Einbahnstraße von immer mehr Krieg und Krisen einen Ausweg finden. Dieses Szenario hält Zuckermann jedoch für eher unrealistisch.

Nachfolgend sind die wesentlichen Punkte der Diskussion zusammengefasst. Dabei wird dem offensichtlichen Hauptanliegen Zuckermanns, nämlich der "Radikalisierung der israelischen Gesellschaft", besondere Aufmerksamkeit gezollt. Aber auch die Auswirkungen des Nahost-Konflikts, der Status des Zionismus sowie die institutionellen und sozialen Herausforderungen des Landes kommen zur Sprache. Wer sich das ganze Video auf Deutsch ansehen will, der findet es hier.

Institutionelle und wirtschaftliche Krisen

Laut Zuckermann stecken sowohl die Wirtschaft als auch die staatlichen Institutionen Israels infolge der Rundum-Kriegspolitik der Netanjahu-Regierung in einer tiefen Krise: Der andauernde Konflikt koste auch die Zivilgesellschaft Milliarden, führe zu Geschäftsschließungen und belaste den Alltag der Bevölkerung massiv. Insbesondere die Zerstörung des Bildungssystems und die seit vielen Monaten andauernde Evakuierung ganzer Städte aufgrund von gegnerischen Angriffen seien Beispiele für diese Dysfunktionalität. So seien zum Beispiel die Schulen im Norden Israels seit langem geschlossen und werden weiterhin geschlossen bleiben. Tausende Familien müssen improvisierte Lösungen für die Bildung ihrer Kinder finden, was den sozialen und wirtschaftlichen Druck auf die betroffenen Gemeinden enorm erhöht.

Der Zionismus ist zum Scheitern verurteilt

Was die aktuelle Regierungsideologie des Zionismus betrifft, so ist sie laut Zuckermann dabei zu scheitern. Er argumentiert, dass der Zionismus in seiner ursprünglichen Mission, die darin bestand, Juden eine sichere Heimstätte zu bieten, versagt hat. Ironischerweise sei Israel für jüdische Menschen heute eines der unsichersten Länder der Welt, da es regelmäßig Ziel von Raketenangriffen ist. Zudem habe Israel aktiv die Zweistaatenlösung unterminiert, die einst als Weg zum Frieden galt. Darüber hinaus habe der Zionismus die brutale und rechtswidrige, expansive Siedlungspolitik im Westjordanland gefördert, was verdeutliche, wie die israelische Regierung die Möglichkeit eines eigenständigen palästinensischen Staates systematisch verhindert hat.

Die Rolle von Benjamin Netanjahu

Die hat viele Facetten. Laut Zuckermann werde der Ministerpräsident zwar von vielen jüdischen Israelis gehasst, jedoch nicht wegen seiner harten Linie im Konflikt mit den Palästinensern, sondern wegen seines innenpolitischen Machtmissbrauchs. Als Beispiel führte er Netanjahus Versuche an, das Oberste Gericht Israels zu schwächen und die Gewaltenteilung zu untergraben. Dies unterstreiche seine Bemühungen, seine Macht auf unbegrenzte Zeit zu sichern.

Da Netanjahu mit einem Fuß im Gefängnis steht und nur die Immunität seines Amtes ihn vor einer vergitterten Zelle schützt, tue er alles, um einen Waffenstillstand oder gar ein Kriegsende zu verhindern. Denn dann könnten die staatlichen Untersuchungskommissionen wieder auf den Plan treten und mit ihrer Arbeit fortfahren, wozu neben den Untersuchungen der vielen Korruptionsfälle neuerdings auch sein persönliches Versagen (mit Absicht oder Inkompetenz) am 7. Oktober 2023 gehört. Denn inzwischen ist unwiderlegbar offengelegt, dass Netanjahu über den bevorstehenden Hamas-Angriff aus verschiedenen glaubhaften Quellen mehrfach gewarnt worden war, aber keine Vorbereitungen zur Abwehr getroffen hatte. Warum?

Die Radikalisierung der israelischen Gesellschaft

Vor diesem Hintergrund beschreibt Zuckermann mit großer Eindringlichkeit die Radikalisierung der israelischen Gesellschaft, die einhergeht mit der Normalisierung von Gewalt, einschließlich der Tötung von palästinensischen Zivilisten und Kindern. Diese Brutalität sei inzwischen als neue Normalität tief in die israelische Gesellschaft eingebettet. Dazu zitiert Zuckermann die häufig vorzufindende Gleichgültigkeit, mit der viele Israelis auf die zivilen Opfer des Konflikts reagierten. Zugleich beschreibt er, wie Ressentiments und Hass auf die palästinensische Bevölkerung und die Forderung nach Vergeltung im Diskurs der israelischen Gesellschaft immer mehr Raum einnehmen, was zum vollständigen Verlust von Mitgefühl geführt habe. Auf die Frage, wie der massenhafte Tod von palästinensischen Kindern zu rechtfertigen sei, laute häufig die Antwort, dass auch israelische Kinder Opfer von Gewalt geworden sind. Laut Zuckermann gebe dieser Zynismus einen Hinweis auf den moralischen Zerfall innerhalb der israelischen Gesellschaft.

Überhaupt werde der Konflikt von einem Großteil der Bevölkerung als Normalität wahrgenommen, die durch institutionelle Rahmenbedingungen, wie obligatorische Luftschutzräume in jeder Wohnung, verstärkt wird. Diese Luftschutzbunker in den Wohnhäusern seien ein Zeichen dafür, wie sehr der Ausnahmezustand und die Normalisierung von Gewalt und Trauma inzwischen institutionalisiert wurden.

Für Boris Pistorius wäre der von Zuckermann beschriebe Zustand in Israel auf Deutschland übertragen ein Musterbeispiel für den geforderten "Mentalitätswechsel" in der Gesellschaft in Richtung "Kriegstüchtigkeit", die der SPD-Verteidigungsminister auch in unserem Land erzwingen will. Noch erschreckender ist, dass sich Pistorius derzeit bei Umfragen "im besten Deutschland aller Zeiten" der höchsten Beliebtheitswerte erfreut.

Aber zurück nach Israel. Zuckermann hebt hervor, dass in anderen demokratischen Gesellschaften Kriege oft durch eine starke Antikriegsbewegung hinterfragt werden. In Israel aber existiert eine solche Opposition kaum noch. Friedensinitiativen, die in den 1990er-Jahren noch eine Rolle gespielt hatten, seien heute nahezu unsichtbar.

Die einzigen öffentlichen Demonstrationen in Israel drehten sich um die Rückführung israelischer Geiseln aus der Gefangenschaft der Hamas. Forderungen nach einem Waffenstillstand oder einer Friedenslösung seien selten und kämen nur noch von einer kleinen, marginalisierten Minderheit.

Die Rolle der politischen Rhetorik und der Medien

Die israelischen Medien tragen laut Zuckermann zur Radikalisierung bei, indem sie eine einseitige Berichterstattung liefern und die Narrative der Regierung oft unkritisch übernehmen. Kritische Stimmen kommen selten zu Wort, und Diskussionen über Alternativen zur militärischen Eskalation werden weitgehend vermieden. (Anmerkung des Autors: Die Parallelen zur Situation in Deutschland sind auch an dieser Stelle nicht zu übersehen.)

Selbst die wenigen regierungskritischen Medien, wie die Zeitung Haaretz, werden laut Zuckermann von der Regierung offen boykottiert. Werbung von staatlichen Stellen in diesen Medien wurde untersagt, um ihre Reichweite einzuschränken. Zugleich haben die israelische Regierung und rechte Parteien durch ihre Rhetorik und Politik ebenfalls zur Radikalisierung der Gesellschaft kräftig beigetragen. Die Narrative von "Vergeltung" und "Sicherheit" dominierten den öffentlichen Diskurs, während Kritik an der Regierung oder dem Militär schnell als unpatriotisch abgestempelt wird.

Netanjahu und seine Regierung rechtfertigen zum Beispiel den militärischen Einsatz im Gazastreifen als notwendigen Schutz für Israel. Wenn jedoch Militärexperten darauf hinweisen, dass dort keine nachhaltigen strategischen Gewinne erzielt werden können, dann ist das unpatriotisch. Auch Pistorius würde das als Zersetzung der "Kriegstüchtigkeit" verurteilen.

Schock für mentale Gesundheit

Krieg und Ausnahmezustand als neue Normalität stellen eine zunehmende psychische Belastung für die Bevölkerung dar, insbesondere für Kinder. Sirenen, Luftschutzbunker und Soldaten in Uniform sind allgegenwärtig. Die Normalisierung dieser Sicherheitsmaßnahmen und des Ausnahmezustands trägt dazu bei, dass Gewalt als unvermeidlicher Teil des Lebens wahrgenommen wird. Kinder, die regelmäßig in Luftschutzbunkern Zuflucht suchen müssen, entwickeln langfristige psychische Probleme, die nicht leicht zu bewältigen sind. Traumata und neurotische Verhaltensweisen seien inzwischen weit verbreitet, und viele Experten warnten vor einem Anstieg von Depressionen und Selbstmorden.

Die internationale Perspektive und Zukunftsaussichten

Mit Blick auf die Reaktion des Westens kritisiert Zuckermann vor allem die Unterstützung für Israels verbrecherisches Vorgehen und die Ignoranz gegenüber palästinensischem Leid. Zugleich beklagt er, dass propalästinensische Demonstrationen im westlichen Ausland nicht nur von Israelis als antisemitisch abgetan, sondern auch von westlichen Regierungen oftmals unter Strafe verboten werden.

Was die Zukunft Israels angeht, so zeigt sich Zuckermann pessimistisch. Weder sieht er eine politische noch eine gesellschaftliche Kraft, die in der Lage wäre, die aktuelle Sackgasse zu überwinden. Er spricht von einer tiefen politischen Krise, in der keine glaubwürdigen Alternativen zu Netanjahu vorhanden seien und die institutionellen Strukturen des Landes schwer beschädigt sind.

Fazit

Die Radikalisierung der israelischen Gesellschaft ist laut Zuckermann ein vielschichtiger Prozess, der durch Jahrzehnte des Konflikts, durch eine einseitige politische Rhetorik und die Normalisierung von Gewalt begünstigt wurde. Diese Entwicklung gefährdet nicht nur den sozialen Zusammenhalt, sondern sie untergräbt auch die Fähigkeit der Gesellschaft, alternative Wege zum Frieden zu suchen. Die Normalisierung des Ausnahmezustands und die fehlende Empathie für die palästinensische Bevölkerung lassen wenig Hoffnung auf eine Entschärfung des Konflikts. Nur durch eine grundlegende Umorientierung der politischen und gesellschaftlichen Werte könnte dieser Prozess gestoppt werden – eine Aussicht, die Zuckermann jedoch pessimistisch bewertet.

Im Westend Verlag erschien im Jahr 2023 Professor Moshe Zuckermanns vorerst letztes Buch mit dem Titel: "Denk ich an Deutschland… Ein Dialog in Israel".

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