Was mit Syrien nach Assad passiert
Von Witali Rjumschin
Noch vor wenigen Wochen sah der Himmel über Syrien ganz wolkenlos aus. Doch die vermeintliche Idylle endete am 27. November, als Truppen der Terrormiliz Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) und der "Syrischen Nationalen Armee" (SNA) ihre Offensive auf Aleppo begannen.
Schon am 2. Dezember nahmen sie die Stadt ein, und drei Tage später verließ Syriens Armee bereits die zweite Provinzhauptstadt, Hama. Später rebellierten Schläferzellen im Süden und Südosten gegen die Regierung. Am 8. Dezember rückte die Opposition von mehreren Seiten in die Hauptstadt Damaskus ein. Baschar al-Assads Regierung, die über zehn Jahre Bürgerkrieg überlebte, war gefallen.
Die Katastrophe war so unerwartet und schnell, dass sich unweigerlich Analogien zu Afghanistan von vor drei Jahren aufdrängen. Damals brach die von den USA unterstützte Regierung von Aschraf Ghani ebenfalls wie ein Kartenhaus zusammen und gab das Land ohne einen einzigen Schuss auf. Der Unterschied liegt nur darin, dass Ghanis Schwäche für alle offensichtlich war. Dagegen galt Assad als die dominierende Kraft in Syrien – umso unglaublicher erscheint sein Sturz.
Was lief schief? Ein wenig von allem. In den jüngsten Jahren war Assads Syrien langsam, aber sicher degradiert. Das Land litt unter einer endlosen humanitären und wirtschaftlichen Krise: 90 Prozent der Syrer lebten hinter der Armutsgrenze, die Menschen waren chronisch unterernährt. Viele nahmen Kredite für Lebensmittel auf und konnten sie später nicht begleichen. Die Stromnetze waren derart abgenutzt, dass selbst Damaskus manchmal bis zu 20 Stunden ohne Strom blieb. Dabei stiegen die Tarife in einem kosmischen Tempo an – allein im Frühjahr 2024 wurden sie um 300 bis 585 Prozent erhöht.
Probleme wurden nicht gelöst. Reformen gab es nicht, Assad hatte schlicht kein Geld: Kredite gab wegen der Sanktionen niemand, Handelsgüter gab es keine, sämtliche Ölvorräte wurden von den Kurden und den USA kontrolliert. Selbst Drogen, mit deren Herstellung die Syrer in den jüngsten Jahren begonnen hatten, brachten keine Erträge – und wenn schon, gingen diese nicht in die Staatskasse, sondern in die Taschen der lokalen Dealer.
Schließlich musste Assad selbst an Sold für Militärangehörige sparen, weswegen die Reste der Armee, die während des Bürgerkrieges schwere Verluste erlitten hatte, rapide verfielen. Einige Zeit wurden sie von iranischen Proxys wie der Hisbollah gestützt, doch diese zogen in den Kampf gegen Israel. Im Jahr 2023 trug sich Assad mit der Idee einer Erweiterung der russischen Militärpräsenz. Doch Moskau war anderweitig beschäftigt.
Das Ende war konsequent: Als die Krise ausbrach, konnten die Verbündeten nicht zu Hilfe kommen, die demoralisierte Armee floh, und die verärgerten Syrer folgten den Islamisten. Es war niemand da, um Assad zu schützen.
Nun steht nach seinem Sturz Syriens Zukunft in Frage. HTS erhob einen Anspruch auf die Macht. Wahrscheinlich wird sie in nächster Zukunft versuchen, mithilfe des "großen Bruders" aus Ankara das ganze Land unter Kontrolle zu bringen.
Doch es ist bei Weitem nicht sicher, dass HTS den Erfolg der Taliban wiederholen kann. Im Gegensatz zu Afghanistan wird Syrien zwischen einem Dutzend verfeindeter Gruppierungen aufgeteilt. Schon die SNA kämpfte bereits gegen HTS um die Macht in Idlib, obwohl beide Organisationen als protürkisch gelten. Doch außer ihnen gibt es noch Kurden im Nordosten, Alawiten an der Mittelmeerküste, Drusen im Süden und die pro-US-amerikanische "gemäßigte Opposition" im Südosten. Schließlich gibt es auch noch den Islamischen Staat (IS), der sich immer noch irgendwo in der Wüste versteckt.
Mit einem solchen Flickenteppich wird Syrien mit großer Wahrscheinlichkeit das Schicksal von Libyen wiederholen, das nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi als einheitlicher Staat zu existieren aufhörte. Dies birgt große Gefahren nicht nur für Syrer, sondern für den gesamten Nahen Osten. Doch das ist schon ein anderes Thema.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen am 9. Dezember bei Gazeta.ru.
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