Geiseln, US-Luftabwehr, Kräftemangel der IDF? Was ist der Grund für Verschiebung der Gaza-Offensive
Von Alex Männer
Nach langem Zögern haben die israelischen Verteidigungskräfte (Israel Defense Forces, IDF) ihre angekündigte Bodenoffensive im Gazastreifen nun um einige Tage verlegt. Laut diversen Medienberichten könnte die Militäroperation sogar auf lange Sicht verschoben werden oder gar nicht erst stattfinden, obwohl die Armee nach mehr als 500 Raketenangriffen in den vergangenen zwei Wochen ihre volle Einsatzbereitschaft signalisiert.
Nach Angaben von The Wall Street Journal soll Israel damit einer Anfrage der USA zugestimmt haben, die Lieferungen von Luftabwehrsystemen zum Schutz des US-Militärs in der Region noch vor der israelischen Bodenoperation zu gewährleisten. Demnach planen die US-Amerikaner, das Kriegsgerät bereits in dieser Woche in die Nahostregion zu verlegen, um ihre Truppen unter anderem in Syrien und im Irak zu schützen.
Aber dies soll offenbar nicht der einzige Grund für die Entscheidung sein, den Angriff auf die palästinensische Enklave zu verschieben. Wie die Agentur TASS unter Verweis auf das bekannte Portal AXIOS schreibt, ist Israels Premierminister Benjamin Netanjahu "etwas skeptisch gegenüber den Plänen des israelischen Militärs" in Bezug auf Gaza und wollte den Beginn des Angriffs deshalb verlegen. Damit habe er unter anderem Zeit für Verhandlungen über die Freilassung der israelischen Geiseln gewinnen wollen, teilten US-Beamte gegenüber AXIOS mit.
Diesen Quellen zufolge versuchte auch US-Präsident Joe Biden, die besagte Intervention zu verschieben, um "Zeit für Benjamin Netanjahu zu gewinnen, der seine eigenen Gründe hat, zu zögern". Netanjahu wolle kein Risiko eingehen und brauche außerdem Zeit, um die verschiedenen Standpunkte zu analysieren und den Unterhändlern mehr Möglichkeiten zur Freilassung der Geiseln zu geben, während sich die Armee auf eine Operation in Gaza vorbereitet, heißt es.
Inzwischen gibt es die These von dem "Druck aus Washington", dem sich Israel vermeintlich beugt und deshalb nicht zur Offensive übergeht. Zum Beispiel behauptete der US-Sender CNN, das Weiße Haus übte Druck auf Israel aus und forderte dessen Führung auf, den Beginn der Offensive zu verschieben, um die von der Hamas festgehaltenen Geiseln zu befreien.
Allerdings könnte dies eine Ausrede dafür sein, dass Israels Armee zu einer lang andauernden Operation im Gazastreifen und zu einem möglichen Kampf gegen die Hisbollah an der Grenze zum Libanon gar nicht in der Lage ist und schon relativ früh nach Beginn der Intervention ans Ende ihrer Kräfte gelangen könnte. Dafür spricht etwa ein am Montag erschienener Artikel des US-Magazins Vice, in dem die Rede unter anderem davon ist, dass die israelischen Verteidigungskräfte nach 18 Tagen Eskalation bereits vor enormen Problemen stehen.
So heißt es unter Berufung auf hochrangige US-Beamte und israelische Militärs, dass die Operation im Gazastreifen Monate dauern könnte und dass dafür erhebliche militärische Kräfte benötigt würden, wobei die Mittel der Israelis aber schon jetzt begrenzt sein sollen. Den Kräftemangel habe vor allem der Angriff der Hamas am 7. Oktober aufgezeigt: "Soldaten, die außerhalb von Gaza sein sollten, waren im Westjordanland, um Siedlungen zu schützen und Steine werfende Kinder in Jenin zu jagen. Ja, wir sind mobilisiert, aber selbst mit den Reservisten wird es eine massive, langfristige Operation in Gaza geben, die mehr Bodentruppen erfordern wird, als wir jemals eingesetzt haben. Das Westjordanland könnte jederzeit explodieren [in einen großen Aufstand – Anm.] und die Einheiten an der Nordgrenze reichen für Verteidigungsoperationen. Drei Fronten im offenen Kampf würden unsere Ressourcen strapazieren."
In der Tat muss Israel wegen der Bedrohung seitens der Hisbollah einen Teil seiner Truppen im Norden des Landes halten, weshalb diese Kräfte bei einer Bodenoffensive im Gazastreifen nicht zum Einsatz kommen können. Die Gefahr, dass Israel gezwungen sein könnte, gleichzeitig gegen die Hamas in Gaza vorzugehen, die Hisbollah im Libanon zu bekämpfen und das Westjordanland zu kontrollieren, ist vermutlich auch der Hauptgrund dafür, warum Netanjahu das Risiko einer militärischen Auseinandersetzung als zu hoch erachten könnte und deshalb mit dem Angriff zögert. In dem Fall würde die israelische Seite wahrscheinlich sehr hohe Verluste hinnehmen müssen, ohne dabei die Hamas – das deklarierte Hauptziel der Offensive – zu vernichten.
Nicht zu vergessen ist aber auch, dass Netanjahu wegen der 1400 Toten nach dem Hamas-Überfall und den 200 in den Gazastreifen verschleppten Israelis innerpolitisch unter enormem Druck steht. Familien, deren Angehörige als Geiseln entführt wurden, gründeten Organisationen und fordern lautstark und medienwirksam von der israelischen Führung, die Geiseln zu befreien. In Tel Aviv versammelten sich am Samstag Hunderte Demonstranten vor dem Verteidigungsministerium, um die Rückkehr der Geiseln sowie Netanjahus Rücktritt zu fordern. Nach dem kolossalen Versagen seiner Geheimdienste und dem blutigen Angriff der Hamas ist der Premier laut Umfragen bereits abgeschrieben – inzwischen halten weniger als ein Drittel der Israelis zu ihm. So gesehen ist die schnelle Befreiung der Geiseln nicht nur menschlich, sondern auch politisch absolut notwendig und würde die Position Netanjahus definitiv verbessern.
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