Nahost

Gewaltspirale im Westjordanland: Karrieren israelischer und palästinensischer Führer am Ende?

Die zunehmende Gewalt im Westjordanland könnte den politischen Untergang sowohl für die israelische als auch für die palästinensische Führung bedeuten. Die Menschen auf beiden Seiten wollen, dass ihre Anführer gegeneinander vorgehen, während die Bemühungen von Washington um eine Deeskalation ins Stocken geraten.
Gewaltspirale im Westjordanland: Karrieren israelischer und palästinensischer Führer am Ende?Quelle: AFP © Jaafar Ashtiyeh / AFP

Von Robert Inlakesh

Der jüngste Anstieg der Gewalt im gesamten besetzten Westjordanland signalisiert das Scheitern der von den USA geführten Bemühungen, Ruhe in dieser Region zu schaffen. Sowohl die Palästinensische Autonomiebehörde als auch die israelische Regierung standen unter innenpolitischem Druck, eskalierende Maßnahmen gegen die Gegenseite zu ergreifen, was zu einer israelischen Militäroperation gegen bewaffnete palästinensische Gruppen in der Stadt Dschenin führte.

Beginnend mit einem israelischen Überfall auf die Stadt, führten eine Reihe gewalttätiger Ereignisse erneut zu Spannungen zwischen Palästinensern und Israelis im besetzten Westjordanland. Mitte Juni stürmten mehrere israelische Panzerfahrzeuge Dschenin, um Mitglieder der als Dschenin-Brigaden bekannten und bewaffneten Gruppe festzunehmen. Dabei wurden sie prompt von örtlichen palästinensischen Kämpfern überfallen. Sieben israelische Soldaten wurden durch improvisierte Sprengfallen verletzt, die unter ihren Militärfahrzeugen explodierten. Dies führte zum Einsatz von Kampfhubschraubern und einer großen Anzahl israelischer Bodentruppen, was letztlich sieben Palästinenser das Leben kostete und weitere 91 Verletzte.

Nur einen Tag später verübten zwei bewaffnete Palästinenser einen Angriff nahe dem Eingang zur Siedlung Eli im Westjordanland, wobei vier israelische Siedler getötet und vier weitere verletzt wurden. Wie sich herausstellte, hatten die beiden Schützen Verbindungen zu den Kassam-Brigaden, dem bewaffneten Flügel der Hamas. Beide wurden noch am selben Tag von israelischen Streitkräften erschossen.

Der Anstieg der Gewalt folgte auf die Entscheidung der israelischen Regierung, ihrem rechtsextremen Finanzminister Bezalel Smotrich Sondervollmachten zur Entwicklung von Plänen zur Siedlungserweiterung auch ohne Zustimmung der Knesset zu gewähren. Der Schritt löste bei der US-Regierung jedoch nur mäßige Verärgerung aus. Washington erklärte, dass man solche einseitigen Maßnahmen ablehne, die das Erreichen einer Zwei-Staaten-Lösung erschweren und ein Hindernis für den Frieden darstellen.

In der darauffolgenden Nacht beschlossen radikale israelische Siedler, palästinensische Dörfer anzugreifen, was sie als "Rache für den Angriff auf die Siedler von Eli" am Tag zuvor bezeichneten. Allein im palästinensischen Dorf Turmus Ayya zündeten rund 400 bewaffnete Siedler 30 Häuser und 60 Autos an. Der Angriff führte außerdem zu über 100 Verletzten und einem Todesopfer. Solche Angriffe israelischer Siedler richten sich gegen jede palästinensische Gemeinschaft, in die sie eindringen können, fast immer unter dem Schutz der israelischen Armee. Ein solcher Angriff Anfang des Jahres in der Kleinstadt Huwara wurde vom israelischen General Yehuda Fuchs sogar als "Pogrom" bezeichnet.

Die israelische Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu fand sich nach den Ereignissen in Dschenin und der Siedlung Eli in einer peinlichen Lage wieder. Beide Situationen stellten eine markante Entwicklung in der Komplexität der bewaffneten Gruppen im Westjordanland dar und bewiesen, dass diese Gruppen in der Lage sind, innerhalb von etwas mehr als 24 Stunden Verluste sowohl unter israelischen Soldaten als auch unter Siedlern zu verursachen. Es gab bereits Aufrufe von israelischen Siedlergemeinden im nördlichen Westjordanland, eine umfassende Militäroperation zu starten, um die bewaffneten Gruppen endgültig zu zerschlagen. Die oben genannten Vorfälle führten indes dazu, dass der Druck auf die israelische Regierung zu handeln noch weiter stieg.

In einer Sitzung des israelischen Sicherheitsrates, bei der die Lage im Westjordanland nach dem Angriff bei der Siedlung Eli zur Sprache kam, wurde berichtet, dass sich sowohl Netanjahu als auch sein Verteidigungsminister Joaw Gallant gegen die Möglichkeit stellten, eine Militäroperation innerhalb des besetzten Gebiets zu starten. Zu diesem Zeitpunkt wurde erwartet, dass die israelische Regierung unverhältnismäßig auf diese Angriffe reagieren würde, da die israelische Koalition von einer Reihe von Hardlinern zusammengehalten wird, die eine vollständige Annexion des Westjordanlandes anstreben und derzeit selbst in illegalen Siedlungen leben.

Anfang des Jahres veranstaltete die Regierung von Joe Biden zwei Gipfeltreffen zum Thema Sicherheit mit dem Ziel, die Zusammenarbeit zwischen der palästinensischen Autonomiebehörde und Israel zu verbessern. Die Konferenzen fanden im jordanischen Akaba und in der ägyptischen Stadt Scharm El-Sheich statt. Ziel war es, die Zusammenarbeit der Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde und des israelischen Militärs zu verstärken, um eine weitere Verschlechterung der Sicherheitslage zu verhindern.

Eine der Komponenten zur Schaffung eines stabileren Umfelds war der Plan, eine speziell ausgebildete Truppe der palästinensischen Autonomiebehörde einzusetzen, um den bewaffneten Gruppierungen im Westjordanland, die in den vergangenen zwei Jahren entstanden sind, direkt entgegenzutreten. Der vom US-Sicherheitskoordinator Michael Fenzel ausgearbeitete Plan entpuppte sich als politischer Selbstmord für die Palästinensische Autonomiebehörde, die bereits mit massiven Gegenreaktionen seitens der Palästinenser konfrontiert ist.

Laut einer aktuellen Umfrage des Palästinensischen Zentrums für Politik- und Umfrageforschung wünschen sich rund 80 Prozent der Palästinenser den Rücktritt von Mahmud Abbas, dem derzeitigen Präsidenten der Autonomiebehörde. Während der jüngsten Reihe von Angriffen israelischer Siedler auf wehrlose palästinensische Dörfer riefen die Einheimischen die Autonomiebehörde auf, ihre rund 70.000 Mann starken Sicherheitskräfte zum Schutz vor Angriffen durch jüdische Siedler einzusetzen.

Die Palästinensische Autonomiebehörde verfügt nur über begrenzte Zuständigkeitsbereiche im Westjordanland und setzt ihre Streitkräfte – neben der Wahrung der israelischen Sicherheitsinteressen – auch zur Bekämpfung der innerpalästinensischen Kriminalität ein. Unter den gegenwärtigen Umständen könnte eine direkte Konfrontation zwischen den Kräften der Autonomiebehörde und den palästinensischen bewaffneten Gruppen zu einem Aufstand gegen die Herrschaft der Behörde innerhalb des eigenen Territoriums führen.

Mahmud Abbas ist bereits 87 Jahre alt und es wird befürchtet, dass nach seinem Tod ein Machtvakuum entsteht, das zum Zusammenbruch der Palästinensischen Autonomiebehörde oder sogar zur Machtübernahme einer revolutionären, streng antiisraelischen Gruppe führen könnte. Obwohl die Palästinensische Autonomiebehörde derzeit versucht, die Oberhand zu behalten, wohl wissend, dass seit 2014 kein einziger Dialog zur Konfliktlösung mit der israelischen Seite geführt wurde, versucht sie so zu tun, als gäbe es nicht Tausende bewaffnete palästinensische Kämpfer, die derzeit außerhalb der Kontrolle der Autonomiebehörde operieren, und als könne man nichts gegen das Vorgehen Israels unternehmen.

Diese Haltung entspringt vor allem dem Wunsch, weiterhin in der Gunst ihrer wichtigsten Geldgeber zu bleiben, namentlich den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union. Genauso wie die Palästinensische Autonomiebehörde nicht die Rolle eines aktiven Beschützers gegen Angriffe durch das israelische Militär und die illegalen Siedler übernehmen will, wie das palästinensische Volk es von ihr verlangt, will sie sich auch nicht dazu verpflichten, zum direkten Aggressor gegen die bewaffneten militanten Gruppen zu werden.

Im Gegensatz zur Palästinensischen Autonomiebehörde war die israelische Regierung in der Lage, eine Militäroperation gegen die bewaffneten Gruppen im Westjordanland zu lancieren. Also wartete man erstmal ab und beschloss dann, den Angriff am vergangenen Sonntagabend durchzuführen. Im Jahr 2002 lancierte Israel die Operation Defensive Shield (Verteidigungsschild), bei der etwa 500 Palästinenser getötet und viele der Hochburgen der damals operierenden bewaffneten Gruppen praktisch zerstört wurden.

Die israelische Armee hätte versuchen können, das Vorgehen von 2002 bei jeder großangelegten Operation zu wiederholen. Sie hat sich jedoch stattdessen dafür entschieden, Dschenin zu isolieren, um die bewaffneten Gruppen zurückzudrängen, anstatt ihre vollständige Vernichtung anzustreben. Sollte Israel einen allumfassenden Feldzug starten, ist es wahrscheinlich, dass die israelische Armee viele Soldaten verlieren und es zu Angriffen auch aus anderen Gebieten wie Gaza, Syrien und dem Libanon kommen wird. Daher wäre für die Einleitung einer solchen Operation ein hoher politischer Preis zu zahlen, was Netanjahu weiß und was vielleicht auch der Grund dafür ist, dass er einen begrenzteren Angriff angeordnet hat.

Anstatt dem gesamten Westjordanland den Krieg zu erklären, scheint die israelische Armee beschlossen zu haben, den Druck auf die bewaffneten Gruppen zu erhöhen, indem sie Maßnahmen wie Drohnenangriffe anwendet, um einzelne Kämpfer zu liquidieren, während die aktuelle Eskalation einen Versuch darstellt, Stärke zu demonstrieren sowie die Fähigkeit, diese bewaffneten Gruppen einzudämmen. Am Tag nach dem "Angriff der Rache" der illegalen Siedler gaben die israelischen Streitkräfte bekannt, dass sie in der Nähe eines Kontrollpunkts in Dschenin einen Drohnenangriff auf ein Auto verübt hätten, bei dem drei palästinensische Kämpfer getötet wurden. Dieser Luftangriff war insofern bedeutsam, als es sich im Westjordanland um den ersten Angriff durch Raketen aus der Luft seit 2005 gehandelt hat. Die derzeitige Invasion der israelischen Streitkräfte in Dschenin ist die größte seit 2002.

Wenn man zulässt, dass die palästinensischen bewaffneten Gruppen stärker werden und sich ihr Einfluss auf andere Städte ausweitet, könnte es für die israelische Regierung in Zukunft politisch unmöglich werden, keine großangelegte Militärkampagne voranzutreiben, weshalb sie sich wahrscheinlich für den jetzigen Ansatz entschieden hat. Ein interessantes Element der jüngsten Militäroperation in Dschenin ist jedoch das mangelnde Interesse der Palästinenser in Ramallah und anderen Städten. Nur Palästinenser aus den Flüchtlingslagern fanden sich zu großen Demonstrationen zusammen. Dies spiegelt einen gewaltigen Sieg der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern im Westjordanland wider. Sie haben es geschafft, sie vom Leid ihrer Volksgenossen abzukoppeln und es scheint, als ob das Leben für jene Menschen, die in Städten wie Ramallah leben, normal weitergehen kann.

Die Weigerung der USA, Perspektiven für die Zukunft aufzuzeigen, drängt das Westjordanland auf einen Pfad noch größerer Gewalt. Washingtons Fahrplan für die Palästinensische Autonomiebehörde ist nicht vernünftig, da die Autonomiebehörde damit faktisch zum Selbstmord aufgefordert, zugleich aber Israel nicht wirklich für die Verletzung von gesetzten roten Linien bestraft wird. Washington äußert häufig seine Besorgnis über die Zustimmung der israelischen Regierung zu Plänen für die Erweiterung der Siedlungen, ist jedoch nicht bereit, auch nur einen Schritt zu unternehmen, um diesen Erweiterungen Einhalt zu gebieten, und unterstützt Israels militärische Lösung für ein Problem, das Washington bisher nicht lösen konnte.

Die Regierung von Joe Biden hätte die Macht, sowohl auf die Palästinensische Autonomiebehörde als auch auf Israel Druck auszuüben, sich noch heute an einen Tisch zu setzen, weigert sich jedoch, dies zu tun, und hat nichts Weiteres anzubieten, als Plattitüden über Friedensverhandlungen, die seit den späten 1990er-Jahren praktisch tot sind. Ohne tragfähige Lösungsoptionen wird es nur noch mehr Gewalt geben, selbst wenn sich die Spannungen vorübergehend beruhigen sollten.

Aus dem Englischen

Robert Inlakesh ist politischer Analyst, Journalist und Dokumentarfilmer und lebt derzeit in London. Er hat aus den besetzten palästinensischen Gebieten berichtet und dort gelebt. Inlakesh arbeitet derzeit für Quds News und Press TV. Er ist Regisseur des Films "Diebstahl des Jahrhunderts: Trumps Palästina-Israel-Katastrophe". Man kann ihm auf Twitter unter @falasteen47 folgen.

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