Nahost

Trauriger Jahresbeginn: In vier Tagen vier Palästinenser von israelischem Militär getötet

Ein 16-Jähriger ist nach palästinensischen Angaben bei einem Einsatz des israelischen Militärs im besetzten Westjordanland erschossen worden. Am Dienstag hatten israelische Streitkräfte bereits einen 15-jährigen Jungen erschossen. In vier Tagen des neuen Jahres wurden insgesamt vier Palästinenser getötet.
Trauriger Jahresbeginn: In vier Tagen vier Palästinenser von israelischem Militär getötetQuelle: AP © AP Photo/Nasser Nasser

Der 16-jährige Amer Abu Zeitoun wurde bei einer Razzia der israelischen Armee im Flüchtlingslager Balata in der besetzten Stadt Nablus durch einen Kopfschuss getötet. Dies teilte das Gesundheitsministerium am Donnerstagmorgen in Ramallah mit.

Er ist der vierte Palästinenser, der seit Beginn des Jahres 2023 von den israelischen Streitkräften (IDF) getötet wurde. Das israelische Militär erklärte, dass "bewaffnete Verdächtige auf die Soldaten schossen, die daraufhin mit scharfem Feuer antworteten" – während einer Operation zur Festnahme von zwei Personen. Ob Abu Zeitoun an den Schusswechseln beteiligt oder ob er unbewaffnet war, als er erschossen wurde, blieb zunächst unklar. Nur einen Tag zuvor war der 15-jährige Adam Essam Ayyad in einem Flüchtlingslager südlich von Bethlehem mit einer scharfen Kugel in die Brust getötet worden.

Nach Angaben der Gruppe "Defense for Children International Palestine" (DCIP) war Adam der zweite palästinensische Minderjährige, der seit Anfang 2023 durch israelische Kräfte getötet wurde – womöglich ungerechtfertigt. Am 2. Januar wurden Mohammed Samar Khoshiyeh (22) und Fouad Mohammed Abed (25) ebenfalls von israelischen Streitkräften in Dschenin erschossen. Weitere Menschen seien dabei verletzt worden, hieß es. Nach israelischen Militärangaben waren Soldaten in die Ortschaft vorgedrungen, um dort die Häuser zweier palästinensischer Angreifer zu zerstören. Das ist eine viel kritisierte Praxis der Kollektivbestrafung durch Israel. Die beiden waren Tatverdächtige bei einem Vorfall im September, bei dem ein israelischer Soldat getötet worden war.

Seit der Zweiten Intifada war das vergangene Jahr das tödlichste für die Palästinenser im Westjordanland und in Ostjerusalem. Mindestens 167 Palästinenser wurden getötet, darunter mehr als 30 Kinder. Laut DCIP schössen israelische Streitkräfte systematisch und völkerrechtswidrig auf palästinensische Kinder. Berichten zufolge zeigten von der Organisation gesammelte Beweise, dass die israelischen Streitkräfte vorsätzlich tödliche Gewalt gegen palästinensische Kinder unter Umständen anwenden, in denen für sie selbst keine unmittelbare Gefahr besteht, und die somit außergerichtliche oder vorsätzliche Tötungen sind. Bereits im Jahr 2017 mahnte die Organisation:

"Seit über 54 Jahren hält Israel den Gazastreifen und das Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem, besetzt und setzt dabei routinemäßig auf gewaltsame Vertreibung und übermäßige Gewalt. Im Westjordanland haben die Behörden die Umsiedlung von mehr als 700.000 israelischen Siedlern – ein Kriegsverbrechen – erleichtert, weite Teile des palästinensischen Landes beschlagnahmt und es den Palästinensern nahezu unmöglich gemacht, in einem Großteil des Gebiets zu bauen, ohne den Abriss zu riskieren. Israel schränkt den Personen- und Warenverkehr in und aus dem Gazastreifen stark ein, was verheerende humanitäre Auswirkungen hat. Die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland und die Hamas in Gaza verhaften willkürlich Dissidenten und foltern Palästinenser in ihrem Gewahrsam." 

Obwohl es unter palästinensischen wie auch unter internationalen Menschenrechtsgruppen viel Empörung angesichts der übermäßigen Gewaltanwendung der IDF gab, haben die Palästinenser wenig Hoffnung, dass 2023 besser wird. Seit dem Sieg einer Koalition aus rechtsextremen Politikern bei den Parlamentswahlen im November 2022 ist die israelische Armee laut palästinensischen Beamten zu einer Politik des "Shoot to kill" übergegangen. Schon im Jahr 2015 warnte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, dass einige hochrangiger israelischer Politiker, darunter der Polizei- und der Verteidigungsminister, die außergerichtlichen Tötung von palästinensischen Verdächtigen fordern, auch wenn keine unmittelbare Gefahr besteht.

Laut dem Sprecher der Palästinensischen Autonomiebehörde, Ibrahim Melhem, sei es Ende November vergangenen Jahres auch zu einer sehr hohen Anzahl von palästinensischen Todesopfern gekommen, weil so bei den israelischen Wahlen die Wähler des rechten Flügels gewonnen werden sollten. Gegenüber Arab News kritisierte er, dass die hohe Zahl der Todesopfer darauf zurückzuführen sei, dass die israelische politische und militärische Führung den Truppen vor Ort die Anweisung gegeben habe, zu töten. Unter Berufung auf eine hochrangige Quelle aus dem palästinensischen Gesundheitsministerium schießen israelische Soldaten "absichtlich mit scharfer Munition auf die oberen Körperteile", um sicherzustellen, dass die Personen eher getötet als verwundet werden.

Dieser sogenannten "Shoot to kill"-Praxis Israels habe die internationale Gemeinschaft durch ihre vergleichsweise zaghafte Reaktion grünes Licht gegeben, wie Melhem gegenüber Arab News im vergangenen Jahr kritisierte. Die Zweite Intifada begann im Jahr 2000 deshalb, weil Ariel Scharon als Israels Oppositionsführer den in Ostjerusalem liegenden Tempelberg in Begleitung von israelischen Grenzpolizisten betreten und damit für die Palästinenser eine deutliche Provokation begangen hatte.

Dieses von Israel völkerrechtswidrig annektierte Gebiet (Al-Haram al-Scharif), auf dem früher die jüdischen Tempel standen, ist mit dem islamischen Felsendom und der Al-Aksa-Moschee die drittheiligste Stätte im Islam. Trotz Warnungen hat am Dienstag Israels neuer Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, ebenfalls den Tempelberg in Jerusalem besucht. Ben-Gvir von der rechtsextremen Ozma Jehudit war in der Vergangenheit wegen rassistischer Hetze und Unterstützung einer jüdischen Terrororganisation verurteilt worden. Er ist Teil der neuen rechts-religiösen Regierung Benjamin Netanjahus, die am Donnerstag in Israel vereidigt wurde. Er gilt als politischer Brandstifter, vor allem mit Blick auf die Palästinenser.

Ben-Gvir hatte in Jerusalem im Vorfeld des heftigen elftägigen Konflikts im Frühjahr 2021 für Provokationen gesorgt, die auch von israelischer Seite als Mitauslöser kritisiert worden waren. Dass hinter Ben-Gvirs aktueller Provokation wohl Kalkül steckt, hat sein Parteikollege Zvika Fogel indirekt bestätigt, indem er dem Armeesender zu möglichen Reaktionen der Hamas sagte:

"Wenn wir darauf reagieren, wie ich denke, dass wir reagieren sollten, dann war Ben-Gvirs Besuch auf dem Berg es wert – denn das wird der letzte Krieg sein. Danach können wir alle in Ruhe sitzen und Tauben züchten."

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