Nahost

Libanon nach der großen Explosion: Ist ein Neubeginn möglich?

Die libanesische Regierung ist eine Woche nach der Explosionskatastrophe zurückgetreten. Wird dieser Schritt der dortigen Bevölkerung ausreichen? Die Zukunft des Landes hängt davon ab, ob und vor allem wie schnell Reformen in Angriff genommen und wie tiefgreifend diese sein werden.
Libanon nach der großen Explosion: Ist ein Neubeginn möglich?Quelle: AFP © Anwar Amro

Eine Woche nach der verheerenden Explosion am Hafen von Beirut, bei der über 170 Menschen getötet und Tausende verletzt wurden, stellte sich heraus, dass sowohl Ministerpräsident Hassan Diab als auch Präsident Michel Aoun von Sicherheitsexperten bereits im Juli über die Explosionsgefahr in der Lagerhalle informiert worden waren – eine Reaktion blieb jedoch aus. Offensichtlich existiert bis zum heutigen Zeitpunkt keine Behörde, keine Institution, keine Position, die primär für die Sicherheit der Lager am Hafen verantwortlich ist.

Inzwischen ist die komplette Regierung unter dem sunnitischen Ministerpräsidenten Hassan Diab, der erst im Januar 2020 das Amt übernommen hatte, zurückgetreten. Noch einen Tag vor der Explosion hatte Außenminister Nassif Hitti aus Protest gegen mangelnden Reformwillen seiner Kabinettskollegen seinen Rücktritt erklärt. Schon zu diesem Zeitpunkt kursierte der Ausdruck "gescheiterter Staat" für den Libanon. Die regierende Elite, wenn denn überhaupt das Wort "regieren" hier gelten soll, war und – wie es scheint – ist auch nach dieser Katastrophe noch nicht gewillt, bestehende Strukturen aufzugeben, von der sie enorm profitiert hat.

Neuanfang für den Libanon – oder doch nicht?

Nach dem Rücktritt der Regierung, die jetzt nur noch geschäftsführend im Amt ist, werden weitgehende politische Reformen gefordert – allen voran vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Doch den Demonstranten auf Beiruts Straßen reicht ein bloßer Rücktritt nicht. Sie wollen nicht nur die Verantwortlichen für die Explosion identifizieren und stellen, sondern fordern insgesamt Rechenschaft für die letzten Jahrzehnte.  

In den Medien wird der Rücktritt der libanesischen Regierung zwar als ein erster Schritt in Richtung politischer Reformen bewertet. Doch die Regierung musste vor allem zunächst einmal auf den nicht minder explosiven Druck vonseiten der Demonstranten nach der Katastrophe reagieren. Denn im Rückblick auf die massiven Proteste im letzten Jahr gegen die teure und überdies marode Energieversorgung, die hohen Kosten der Telekommunikation und im öffentlichen Dienst sah die Regierung keinen Anlass für Reformen und nahm lediglich die geplanten Steuererhöhungen zurück. Dies reichte damals zur Beschwichtigung der Menschen und zum Abebben der Massendemonstrationen wohl fürs Erste aus.    

Diesmal sind zwar die Beiruter unmittelbar und existenziell betroffen: mindestens 170 Tote, Tausende Verletzte, fast die Hälfte Beiruts ist zerstört, ca. 100.000 Häuser sind nicht mehr bewohnbar, 300.000 Menschen sind über Nacht obdachlos geworden. Doch die Auswirkungen der Korruption und Vetternwirtschaft, die das Land ausgelaugt haben und deren Grundlage das System der Machtverteilung unter konfessionellen Clans ist, haben ganz Libanon erfasst. Explodiert ist im Grunde sinnbildlich mit dem Hafen von Beirut das gesamte politische System des Libanon. 

Laisser-faire, Nepotismus, Korruption, Braindrain

Letzte Woche sagte die Internationale Geberkonferenz 250 Millionen Euro Soforthilfe zu, Deutschland hilft mit 20 Millionen Euro. 

Der Libanon ist auf permanente Geldzufuhr von außen angewiesen. 20 Milliarden Dollar (rund 17 Milliarden Euro) benötigte das Land im Jahr 2018, um seine Wirtschaft in Gang zu halten. In einer Geberkonferenz in Paris wurden ihm zwar 11 Milliarden Dollar zugesagt – diese Finanzhilfe war jedoch an Reformen gekoppelt, die bis heute auf sich warten lassen. Öffentliches Eigentum ist auf die Infrastruktur begrenzt und kaum vorhanden. Es werden hauptsächlich private Investitionen unterstützt, und die Gelder dafür gehen in erster Linie an Mitglieder der machthabenden Eliten. Auslandsinvestitionen werden durch Korruption, Zwangslizenzen, komplexe Zollprozeduren, hohe Steuern und Gebühren massiv erschwert.  

Die Wirtschaft des Libanon finanziert sich vordergründig aus Lizenzgebühren für Grundbesitz und Immobilien sowie aus dem Finanzmarkt. Diese Sektoren schaffen nicht genügend Arbeitsplätze. Vor allem nach 2000 gab es im Libanon, insbesondere in Beirut, ausgedehnte Infrastruktur- und Immobilienprojekte. Dies trieb die Immobilienpreise rasant und langanhaltend in die Höhe; Arbeitsplätze entstanden dadurch nur für Geringqualifizierte aus dem Ausland. Der produktive Sektor, ebenso wie die Landwirtschaft, wurde vollends vernachlässigt – so bleibt der Libanon trotz fertiler Berghänge für den Kornanbau von Getreideimporten abhängig. Folglich konnten keine Arbeitsplätze entstehen. Die Arbeitslosenquote liegt bei etwa 40 Prozent. Junge libanesische Frauen und Männer, gleich welcher Konfession, wurden und werden in die Emigration getrieben. Mit ihnen verlassen zum großen Teil bestausgebildete Fachkräfte den Libanon – das Land, das einst als der "brain pool" des Nahen Ostens galt.

Seit Beginn des Krieges in Syrien, dem Hauptwirtschaftspartner des Libanon, kämpft die ohnehin in die Enge getriebene Wirtschaft des Zedernstaates ums Überleben. Nicht nur ist Syrien als Handelspartner abhanden gekommen, seit 2011 flohen auch 1,5 Millionen Menschen aus Syrien ins angrenzende Land und addierten sich zu den 450.000 (2015) registrierten palästinensischen Geflüchteten. Dies führt unter anderem auch zur Überlastung des vorhandenen öffentlichen Dienstes in Gesundheit und Bildung. 

Widerspruch im System: Geht ein konfessionelles Proporzsystem mit Demokratie konform?

Tatsächlich besteht ein Viertel der libanesischen Bevölkerung aus Kriegsflüchtlingen. Der Zufluss von Menschen muslimischen Glaubens verschiebt natürlich die konfessionelle Zusammensetzung stetig zugunsten der Muslime. In einer "parlamentarischen Demokratie" mit einem konfessionellen Proporzsystem geraten die Christen zusehends in eine Minderheitsposition, die sich in der Zusammensetzung der Parlamentssitze widerspiegeln müsste. Doch dies ist nicht der Fall.

Das Proporzsystem besteht seit 1920 mit seiner Einrichtung durch die Mandatsmacht Frankreich. Mit dem Nationalpakt von 1943 wurde mit der Sitzverteilung im Verhältnis 6:5 der christlichen Seite der Vorrang gegeben, die damals noch in der Mehrheit war. Damals hatte der Präsident, der nach dem Nationalpakt ein Christ sein muss, die exekutive Gewalt inne, während der sunnitische Ministerpräsident ihm unterstand und ein Schiit den Parlamentsvorsitz innehaben sollte. Nach dem Abkommen von Taif aus dem Jahr 1989, das den Libanesischen Bürgerkrieg (1975-1990) beendete, änderte sich die Sitzverteilung im Parlament auf 1:1. Die Sitze wurden fortan paritätisch an Christen und Muslime vergeben, obwohl Letztere heute in der Mehrheit sind. Dafür wurde dem christlichen Präsidenten die ausführende Macht entzogen, die nun der sunnitische Ministerpräsident innehat. Mit dem Abkommen von Doha 2008 fielen nun auch noch 11 von 30 Ministerposten an die Hisbollah.

Tatsächlich ist seit 1932 keine Zählung mehr durchgeführt worden, sodass viele Angaben über den Libanon auf Schätzungen beruhen. Das Proporzsystem bildet wie oben beschrieben auch nicht unbedingt symmetrisch die Konfessionslandschaft des Landes ab. 

Weder Kriege noch die Zedernrevolution 2005 nach dem Attentat auf den damaligen Ministerpräsidenten Rafiq Hariri, mit dem die Massen im konfessionellen Potpourri mit Erfolg den Rückzug der syrischen Truppen forderten, hatten die erhoffte Demokratisierung gebracht. Dabei hatte sich das Land schon mit dem Nationalpakt von 1943 das Ziel gesetzt, das Konfessionssystem zu überwinden und ein einheitliches Libanon zu schaffen, in dem die Menschen nicht als Christen, Muslime, Drusen etc. gelten, sondern als Bürger eines ebenjenen einheitlichen Libanon. Es stellt sich die Frage, ob dies nach der Katastrophe im Hafen von Beirut mit Neuwahlen gelingen wird.  

Die innere Zersplitterung der politischen Landschaft lädt geradezu zur Einmischung von außen ein, die unterschiedliche interessierte Mächte bis zuletzt genutzt haben und auch noch nutzen. Wenn deren Interessen kollidierten, war der Krieg auf libanesischem Boden oft unausweichlich. Es bleibt abzuwarten, wie die libanesische Bevölkerung die Ereignisse verarbeitet und welche Stimmen sich von außen einbringen. Die Demonstrationen gehen weiter.

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