Nahost

Wie Sanktionen aus Brüssel und Washington den Syrern die Zukunft stehlen

Horrende Lebensmittelpreise sind nur eine der Folgen der westlichen Sanktionen, unter denen die syrische Bevölkerung zu leiden hat. Das von den USA nun verabschiedete "Caesar-Gesetz" verschärft die Lage weiter, insbesondere was Medikamente betrifft. Eine Reportage aus Damaskus.
Wie Sanktionen aus Brüssel und Washington den Syrern die Zukunft stehlenQuelle: Reuters © Khalil Ashawi/Reuters

von Karin Leukefeld

Samir und Aziz sind Nachbarn. In Damaskus wohnen sie hoch oben am Qasyun, dem Damaszener Hausberg. Die beiden syrischen Kurden stammen aus Afrin, nordwestlich von Aleppo. Doch schon seit ihren jungen Jahren arbeiten sie in der Hauptstadt. Vor wenigen Jahren noch hatte jeder von ihnen ein eigenes Haus, einen Garten, Felder und Olivenhaine in einem der Dörfer um Afrin. Dort wohnten ihre Eltern und andere Familienangehörige und jeden November verbrachten sie dort, um die kostbare Olivenernte einzubringen. Sie träumten davon, in ihren Dörfern den Lebensabend zu verbringen. Dafür arbeiteten sie in Damaskus, hatten die eigenen Kinder großgezogen. Heute sind ihre Familien in alle Winde verstreut. 

Gegen Syrien sind erneut Sanktionen in Kraft getreten. Ende Mai verlängerte die EU ihre einseitigen wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen um ein weiteres Jahr bis zum Mai 2021. Zudem setzte die US-regierung am 17. Juni das "Caesar-Gesetz" in Kraft. Angeblich sollen die "intelligenten Sanktionen" nur Kriegsverbrecher und Kriegsgewinnler treffen, doch die Sanktionen aus Brüssel und das Caesar-Gesetz aus Washington bedeuten für die Arbeiter Samir und Aziz einen Kampf um ihre Existenz.

"Es geht ihnen richtig schlecht", sagt A.M. am Telefon vor wenigen Tagen. Er ist Manager des kleinen Hotels in Damaskus, in dem Samir und Aziz arbeiten. "Aziz muss wieder ins Krankenhaus und Samir fiel vor einer Woche vom Gerüst und brach sich den Fuß gleich drei Mal." Mehr als 1 Million syrische Pfund (SYP) habe sich Samir bei Freunden und Verwandten geliehen, um sein kleines Haus auf dem Qasyun auszubauen, erzählt A., dessen Name der Autorin bekannt ist.

Ein Zimmer reichte für die Familie schon lange nicht mehr aus. Beim Ausbau des Hauses sei er nun vom Gerüst gefallen und wird seinen Fuß mindestens einen Monat in Gips haben. Wie Samir jemals seine Schulden wieder zurückzahlen soll, sei ihm ein Rätsel, sagt A. nachdenklich:

Wie die anderen Arbeiter verdient er 40.000 SYP im Monat. Vor dem Krieg reichte es für ein gutes Leben, doch heute wissen wir alle nicht, wie wir überhaupt noch überleben sollen. Wir haben vergessen wie Huhn oder Fleisch schmeckt, weil wir es uns schon lange nicht mehr leisten können. Aber arme Leute wie Samir kennen nicht einmal mehr den Geschmack von Eiern oder Milch. Es ist furchtbar.

Seit Anfang Juni seien die Preise in Syrien immer weiter gestiegen, so der gelernte Buchhalter. Nur der Preis für ein Kilo Brot aus den staatlichen Bäckereien sei nicht gestiegen und liege weiter bei  50 SYP. Er und seine Familie erhielten Hilfe von Verwandten, die im Ausland lebten, berichtet A. Sie konnten sich mit Reis, Mehl und Linsen für einige Wochen versorgen. Doch arme Familien wie die von Samir und Aziz hätten dieses Privileg nicht.

Das syrische Pfund sei nur noch ein Schatten seiner selbst und ein Monatsgehalt von 40.000 SYP reiche zur Ernährung einer Familie heute nicht mal mehr für eine Woche. Für einen US-Dollar müsse man heute bis zu 2.500 SYP bezahlen, vor dem Krieg 2011 kostete ein US-Dollar noch 50 SYP. Auf die Frage, was geschehen werde, sollte sich die Lage nach "einigen Wochen verschärfen", sagt Hotelmanager A.: "Ich weiß nicht, was aus uns werden wird, oder aus Syrien. Al-Hamdullilah, Gott ist groß."

Für den Nachbarn und Kollegen von Samir, dem fünfzigjährigen Aziz, sieht es auch nicht gut aus. In den letzten Jahren hat er wegen Herzschwäche und Bluthochdruck verschiedene Operationen hinter sich gebracht, lange konnte er gar nicht arbeiten. Drei Monate verbrachte er bei der Tochter in al-Hasaka, um sich zu erholen. Doch das Geld ging aus und so kam er zurück nach Damaskus, um wenigstens halbtags wieder im Hotel zu arbeiten. Im März wurden die Hotels dann wegen der Corona-Pandemie geschlossen, Aziz und seine Kollegen wechselten sich bei einem 24-Stunden-Notdienst ab, um das Hotel nicht unkontrolliert zu lassen. Ende Mai konnten Geschäfte und auch das Hotel wieder öffnen und die ersten Gäste kamen zurück.

Doch mit dem vorsichtigen Neustart kam die Verlängerung der wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen der Europäischen Union und mit diesen die Sorge darüber, wie sich das für Juni angekündigte US-amerikanische Caesar-Gesetz auf Syrien auswirken wird.  In den sozialen Medien wurde über Selbstmorde verzweifelter Familienväter berichtet, andere boten Organe zum Verkauf an, um etwas Geld zu bekommen.

Noch waren die "Caesar"-Maßnahmen im Detail nicht bekannt, als der Markt schon reagierte. Angeblich sollten die Sanktionen keine Lebensmittel und Medikamente treffen, doch die Händler trauten den Zusagen nicht. Die Preise stiegen, Fabriken reduzierten die Produktion, viele Medikamente waren nicht mehr zu haben, Apotheken und Geschäfte schlossen.

Zu allem Unglück wurden bei Aziz dann Gallensteine diagnostiziert. Er wird erneut ins Krankenhaus müssen und nicht arbeiten können. Noch bezahlen die Hotelbesitzer ihm den Lohn, doch wie wird das Leben für ihn und seine Familie weitergehen?

Fast dreißig Jahre arbeitet Aziz in dem kleinen Hotel, in dem zuvor schon sein Vater gearbeitet hatte. Der Krieg und die Wirtschaftssanktionen machen Aziz, Samir und den Kollegen das Leben schwer. Kredite, die sie vor dem Krieg aufgenommen hatten, um mit ihren Söhnen kleine Geschäfte zu gründen, können sie kaum zurückzahlen. Die Söhne kamen ins wehrpflichtige Alter und suchten – wie Tausende andere junge Männer 2015 – ihr Glück in der Flucht. Keiner von ihnen kam in Europa an, wo sie auf eine bessere Zukunft gehofft hatten. Manche verloren ihr Leben, andere strandeten als illegale Tagelöhner in der Türkei oder im Libanon. Keiner kann die Familie in Syrien unterstützen.

Nach dem Einmarsch der türkischen Armee und den mit ihr verbündeten Dschihadisten im Frühjahr 2018 verloren Aziz, Samir und die anderen kurdischen Arbeiter aus dem kleinen Hotel alles, was sie in Afrin besaßen. Ihre Familienangehörigen –  Eltern, Geschwister, Tanten oder Onkel – mussten fliehen und fanden für einige Zeit im Umland von Aleppo Zuflucht. Doch Samir und Aziz hatten nicht genug Geld und in ihren kleinen Häusern am Qasyun auch nicht genug Platz, um die Verwandten zu sich zu holen. Manche kamen irgendwo in Aleppo unter, andere zogen weiter nach al-Hasaka oder Qamischli. Bittsteller wurden sie allemal, denn ihr Zuhause, ihre Felder und Olivenhaine, die sie ernährt hatten, wurden von der Türkei und den Dschihadisten besetzt.

Wie Vogelnester kleben die winzigen Häuser von Aziz und Samir am Qasyun. Um sie zu erreichen, müssen die Arbeiter steile Treppen hinaufsteigen. Die Luft dort oben sei immer gut, meinte Aziz, als ich ihn zuletzt Anfang des Jahres sah. Besonders schön seien die Sommerabende: "Dann sitzen wir auf dem Dach und sehen die vielen Lichter von Damaskus – wenn es Strom gibt. Dann vergessen wir, wie schwierig unser Leben geworden ist. Was aus uns werden soll? Al-Hamdullilah, Gott ist groß."

Wenn ein Land seine Menschen nicht mehr ernähren kann

Vor dem Krieg gab es keinen Hunger in Syrien. Es gab genug Weizen, Schafe, Gemüse, Oliven und Obst, Syrien konnte seine Lebensmittel in die Nachbarländer und bis in die Golfstaaten exportieren. Die Lebenshaltungskosten waren gering.  Selbst Tagelöhner konnten sich und ihre Familien ernähren, die wenigen Bettler fanden Hilfe in Kirchen und Moscheen. Der Staat subventionierte Brot, Heizöl und Benzin. In staatseigenen Geschäften konnten Grundnahrungsmittel wie Mehl, Reis, Linsen, Bohnen, Speiseöl oder Zucker zu subventionierten Preisen eingekauft werden.

Eine strategische Getreidereserve für mindestens zwei Jahre sicherte die Versorgung der Bevölkerung mit Mehl und Brot, das in großen staatlichen Bäckereien täglich frisch gebacken und für wenige Lira verkauft wurde.  Erst 2009 hatte die australische Firma Grain Systems Inc. nach vier Jahren Bauzeit in Syrien 21 hochmoderne Weizenverarbeitungssilos fertiggestellt. Syrien war zwar ein Entwicklungsland, mit einer boomenden Wirtschaft aber auf dem besten Weg, wirtschaftlich die Nummer 5 der arabischen Länder zu werden.

Im Krieg wurden die Getreidesilos von bewaffneten Regierungsgegnern besetzt, das Getreide wurde an die eigenen Leute und deren Familien verkauft. Oder es wurde aus der Kampfzone geschmuggelt, um in der Türkei oder im Irak versilbert zu werden, um die Kriegskasse aufzufüllen. Heute werden große Teile der reichen Weizenfelder im Nordosten Syriens von der US-Armee und den mit ihnen verbündeten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) kontrolliert.

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Landbesitzer und Bauern stehen vor der Entscheidung, an wen sie ihre Ernte verkaufen sollen. An den syrischen Staat, der in heimischer Währung bezahlt, oder an die neuen Herrscher, die ihnen US-Dollar anbieten? Von der Türkei unterstützte Dschihadisten versuchen, durch gezielte Brandstiftung die Ernte ganz zu verhindern.

Der Plan der US-Regierung ist, dass die mit ihnen verbündeten mehrheitlich kurdischen Kräfte von dem Weizen ebenso profitieren wie von dem Öl in den von US-Truppen besetzten Landesteilen. Die anhaltende Besatzung im Nordosten Syriens zwingt das Land, heute Weizen auf dem Weltmarkt zu kaufen. Die von der  EU und den USA verhängten wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen werden auch das erschweren.

Krieg, Sanktionen und der nun folgende Wirtschaftskrieg zerstören das einst blühende Agrarland. Nach Angaben der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) stellte die staatliche Allgemeine Organisation für Saatgutvermehrung (GOSM) vor dem Krieg den syrischen Bauern jährlich 300.000 Tonnen zertifiziertes Weizensaatgut zur Verfügung. In diesem Jahr verfügt die GOSM lediglich über 50.000 Tonnen Saatgut. Das reicht aber nur für etwa 15 Prozent der Weizenanbaufläche des Landes, die 1,8 Millionen Hektar umfasst.

Für den Weizenanbau auf dem restlichen Boden, so die FAO, könnten manche Bauern auf eigenes Saatgut zurückgreifen, das sie zurückgelegt hätten. Andere müssten sich mit "Saatgut aus unbekannten Quellen auf den lokalen Märkten" versorgen. Dieses Saatgut allerdings sei weder zertifiziert noch auf seine Qualität hin überprüfbar. Eine FAO-Studie in sieben syrischen Provinzen habe ergeben, dass die Bauern sich rund die Hälfte ihres Saatguts für Weizen, Gerste und Hülsenfrüchten aus anderen Quellen besorgten. Zwanzig Prozent der Farmer säten weniger aus, als üblich, weil sie kein Geld hätten, um Saatgut zu kaufen und weil die Wasserversorgung und Dünger für ihre Felder fehlten, so die FAO.

Die Syrer stellen sich der Herausforderung. Am vergangenen Sonntag diskutierte Talal Barazi, der neue Minister für Binnenmarkt und Verbraucherschutz in der Handelskammer von Damaskus, mit den Händlern darüber, dass Grundnahrungsmittel in guter Qualität und zu bezahlbaren Preisen an die Verbraucher weitergegeben werden sollten. Barazi, der als langjähriger Gouverneur von Homs mit schwierigsten Verhältnissen vertraut ist, informierte die Händler über staatliche Pläne und hörte ihnen zu, welche Auswirkungen die wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen gegen Syrien und das Caesar-Gesetz für ihre Unternehmen haben.

Trotz aller Widrigkeiten hat in Syrien die Weizenernte in Dera'a und Homs begonnen. In Deir ez-Zor im Osten des Landes achtet die Feuerwehr darauf, dass kein Feuer die Ernte vernichtet. Im Süden des Landes in Sweida werden dieser Tage Wassermelonen, Gurken und Kirschen geerntet und in der Ghuta, dem Umland von Damaskus, werden Aprikosen zu Qamar al-Din verarbeitet, was so viel heißt wie "der göttliche Mond". Die beliebte Süßspeise aus Aprikosenmark wird fünf Tage an der Sonne getrocknet. Allen Sanktionen,  dem Caesar-Gesetz und  Wirtschaftskrieg zum Trotz – Sonne gibt es noch immer reichlich in Syrien.

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