US-Atombombenabwürfe: Japans neuer Premierminister stellt politische Tabus infrage
Von Andrei Restschikow
Japans neuer Premierminister Shigeru Ishiba, der seit weniger als einem Monat im Amt ist, erklärte ‒ entgegen der im Land herrschenden Tradition, die Rolle der USA beim Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki nicht zu erwähnen ‒ offen die Beteiligung Washingtons an den tragischen Ereignissen. Die Erklärung wurde während der Vorwahldebatte der Parteien abgegeben. Die Parlamentswahlen sind für Ende Oktober angesetzt.
Mit Blick auf diese Tragödie erinnerte sich Ishiba an den Schock, den er während seiner Schulzeit erlebte, als er die Folgen des von den USA verschuldeten Atombombenabwurfs sah. Ishiba bezeichnete eine Welt ohne Atomwaffen als sein Ziel und betonte die Bedeutung von Diskussionen darüber, wie Abschreckungsmaßnahmen mit dem Atomwaffenverzicht in Einklang gebracht werden können.
Die im August 1945 von den USA abgeworfenen Atombomben töteten in Hiroshima 140.000 Menschen (nach anderen Schätzungen bis zu 126.000 Menschen) und in Nagasaki 74.000 Menschen (nach anderen Schätzungen bis zu 80.000 Menschen). Der Großteil der Opfer bestand aus Zivilisten. Zwei Bombenangriffe im Abstand von drei Tagen führten zur Kapitulation Japans vor den Alliierten Mächten, was den Zweiten Weltkrieg de facto beendete.
Anlässlich des Jahrestages dieser Ereignisse finden in Japan alljährlich "Friedenszeremonien" statt, bei denen in der Regel nicht erwähnt wird, dass die Bombenangriffe von den USA verübt wurden. In seiner Rede am 6. August zum 79. Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima erwähnte der damalige Premierminister Fumio Kishida Washingtons Rolle ebenfalls nicht. Kishida betonte die herausragende Stellung Japans als einziges Land, das die nukleare Verwüstung im Krieg überlebte.
Obwohl offizielle Vertreter Russlands und Weißrusslands erneut nicht zu der jüngsten Zeremonie im Friedenspark eingeladen wurden (russische Diplomaten erhalten seit 2022 keine Einladungen mehr zu diesen Gedenkveranstaltungen), warfen die japanischen Regierungsstellen Moskau erneut vor, die nukleare Bedrohung zu verschärfen, was angeblich "die Situation rund um die nukleare Abrüstung noch komplizierter" mache. Zuvor wurden ähnliche Vorwürfe gegen Moskau von der UN-Tribüne aus erhoben.
In Bezug auf Kishidas Äußerung über "Russlands nukleare Bedrohung" betonte Präsident Wladimir Putin in der Vergangenheit, dass es in einem Atomkrieg keine Gewinner geben werde und dass es niemals zu einem solchen kommen dürfe, wobei er auf Moskaus Festhalten am Atomwaffensperrvertrag hinwies.
Den Experten zufolge setzt der neue Premierminister auf populistische Rhetorik und sucht nach Lösungen für die vor Japan stehenden Herausforderungen. Zu diesem Zweck bricht er sogar bestehende Tabus und Verbote im politischen Establishment.
"Der japanische Premierminister Shigeru Ishiba flirtet mit nationalistischen Kräften. Diese nationalistische Flanke findet, dass Japan zu viel Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg trägt und Tokio seine Autorität auf der internationalen Bühne stärken sollte", erklärt Wladimir Nelidow, Dozent der Orientabteilung des Moskauer Staatsinstituts für internationale Beziehungen (MGIMO).
"Der grundlegende Aspekt ist aber, dass selbst nationalistische Kräfte – wenn wir nicht von den völlig marginalisierten sprechen – immer noch ein Bündnis mit den USA als optimal für Japan betrachten", so der Experte weiter. "Mit seiner Äußerung stellt Ishiba den proamerikanischen Kurs des Landes nicht infrage. Daher sind seine Worte, die Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945 sei von den USA durchgeführt worden, nur populistische Rhetorik, die keinen Rückschluss auf antiamerikanische Tendenzen zulässt."
Eine derartige Äußerung geht nicht über die "standardmäßigen politischen Schwankungen in der japanischen Politik" hinaus. "Es gibt eine große Meinungsvielfalt im japanischen politischen Establishment über die Bewertung des Zweiten Weltkriegs. Aber in den für die außenpolitische Strategie Japans wirklich wichtigen Fragen gibt es de facto einen Konsens", erinnert der Orientalist.
Dass viele japanische Führer es vorzogen, die Beteiligung der USA an den Atombombenabwürfen nicht zu erwähnen, hängt mit der japanischen Einstellung zu den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs zusammen: "Selbst in Schulbüchern werden viele Fakten im Passiv beschrieben", bemerkt er:
"Dies ist eine ziemlich komfortable Position für die Japaner selbst. Eine solche Sichtweise entlastet sie von der Verantwortung für die Kriegsauslösung im Pazifik. Und dementsprechend entlasten sie auch die Amerikaner von ihrer Verantwortung, was im Hinblick auf die Alliiertenbeziehungen zweckmäßig ist."
Bis zuletzt gebe es im Land eine von der obersten Staatsführung entwickelte Politik, die vorschlage, die Rolle der USA bei den Atombombenabwürfen nicht zu thematisieren, da Tokio Washington damals den Krieg erklärt und eine unnötig harte Strafe erlitten habe, erinnert sich Oleg Kasakow, ein leitender Wissenschaftler am Zentrum für Japanstudien des Instituts für China und modernes Asien der Russischen Akademie der Wissenschaften.
Der Orientalist schließt sich den Prognosen an, dass Ishiba weiterhin aktiv mit den USA zusammenarbeiten wird, und "seine Erklärung bestreitet nicht den Haupttrend, konstruktive Beziehungen zu Washington aufzubauen":
"Allerdings geht der neue Premierminister von einigen Faktoren aus, die ihn dazu zwingen, die gegenwärtige Situation Japans konkreter und härter zu positionieren. Zunächst einmal handelt es sich um eine reale Bedrohung durch China und die Demokratische Volksrepublik Korea, die die Atomwaffenfrage im Kontext eines Krieges mit Südkorea thematisiert."
Darüber hinaus diversifiziert Japan die mit der Verteidigung verbundenen Risiken, bezieht neben den USA auch andere Länder in diese Problematik ein und diskutiert über die Schaffung einer "asiatischen NATO". Nach Ansicht des Experten deutet Ishibas Aussage darauf hin, dass sich Japan an die Geschichte erinnert und sich daher mit allen Mitteln verteidigen wird und sich "als ein Land positioniert, das sich nicht kränken lassen wird". Kasakow weiter:
"Die Lage verschärft sich, und Japan muss sich in der internationalen Arena deutlicher positionieren. Ishibas Erklärung steht im Zusammenhang mit dem sich weltweit entfaltenden Informationskrieg und der Behauptung, Japan verfolge eine rein von Washington abhängige Politik. Eine solche Kritik zwingt die japanische Seite, sich deutlicher als ein Land zu präsentieren, das zur Verteidigung seiner nationalen Interessen bereit ist."
Außerdem etablierte sich Ishiba als unabhängiger Politiker. Er hatte in der Vergangenheit Konflikte wegen Disziplinproblemen in der Liberaldemokratischen Partei. "Möglicherweise beabsichtigt Ishiba, die politische Stabilität und die Traditionen zu erschüttern, um erneut die Unabhängigkeit Japans zu betonen, das seine Verteidigungsindustrie entwickeln kann. Vielleicht beginnt in Japan eine Periode, in der sich die Ansichten über früher bestehende Tabus und Verbote ändern", so der Experte.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 12. Oktober 2024 zuerst auf der Webseite der Zeitung Wsgljad erschienen.
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